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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 19.07.2021

NZZ

Ayaan Hirsi Ali sieht die Frauenrechte in Gefahr und will Europa wachrütteln

Die unkontrollierte Einwanderung aus muslimischen Ländern führe zu einer Zunahme der sexuellen Gewalt – zu diesem Schluss kommt die Politologin und Islamkritikerin in ihrem jüngsten Buch.

Beat Stauffer

Eine aus Somalia stammende Frau legt auf 400 Seiten dar, weshalb die hart umkämpften Freiheiten von Frauen im Westen durch die irreguläre Migration aus islamischen Ländern zunehmend gefährdet sind. Das irritiert auf den ersten Blick, wird doch in Somalia nicht nur ein äusserst konservativer Islam, sondern auch die Verstümmelung des weiblichen Genitals praktiziert. Doch weshalb vermag man diese Bedrohung hierzulande nicht zu erkennen? Während die Autorin, Ayaan Hirsi Ali, von einem «Nichtwahrhabenwollen» und von systematischer Verdrängung der Probleme spricht, dürften ihr viele Kritiker unzulässige Verallgemeinerungen und pauschale Schuldzuweisungen unterstellen.

Hirsi Ali, die einst vor einer Zwangsehe nach Europa flüchtete und in den Niederlanden Asyl erhielt, sich später offen vom Islam abwandte und darauf mit dem Tod bedroht wurde, ist längst zum Feindbild nicht nur konservativer Muslime und Islamisten, sondern auch vieler weltoffen-liberaler Zeitgenossinnen geworden.

Daran wird auch ihr neuestes Buch nichts ändern. Es heisst «Beute. Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht». Sowohl der provokative Titel wie auch das Buchcover, das eine voll verschleierte Frau neben einer blonden Westeuropäerin zeigt, dürften ihre Wirkung nicht verfehlen.

Dennoch lohnt sich die Lektüre des Buches. Die Autorin stellt gleich zu Beginn die These auf, dass der starke Anstieg der Zuwanderung nach Europa um 2015 «zu einer erheblichen Zunahme der sexuellen Gewalt» in den Ländern geführt habe, die damals Migranten aufnahmen. Sie stützt sich dabei auf Migrationsforscher wie Ruud Koopmanns, der ebenfalls davon ausgeht, dass Flüchtlinge bei schweren Gewalttaten und Vergewaltigungen «stark überrepräsentiert» seien.

Vor allem aber hat Hirsi Ali mithilfe eines Teams ausführliche Recherchen in mehreren europäischen Ländern – etwa in Schweden, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland – durchgeführt, um ihre These zu untermauern. Eine schwierige Aufgabe, sind die Statistiken doch oft wenig aussagekräftig und ist die Datenlage sehr dünn. Viele Länder verweigern zudem die Herausgabe von Daten über die Kriminalität von Asylbewerbern und Flüchtlingen oder schlüsseln die Statistiken im Bereich der Sexualdelikte nicht entsprechend auf. Hirsi Ali ist aber überzeugt, dass die Indizien, die ihre These stützen, sehr stark sind. Indirekt fordert sie die europäischen Staaten auf, in dieser Hinsicht die Fakten auf den Tisch zu legen.

Kritik an der Asylpolitik

Es gibt allerdings zahlreiche Milieus, die keinerlei Interesse an einer solchen Transparenz haben. Sexuelle Belästigung zu «rassifizieren», sei eine sehr gefährliche Sache, meinte etwa eine schwedische Professorin. Andere dürften aufgrund der Abwendung der Autorin vom Islam in dieser Sache bloss eine weitere, perfide Aktion gegen Muslime erblicken.

Viele Akteure im Integrations- und Asylbereich, so schreibt die Autorin, blendeten das Problem von sexuellen Übergriffen von Asylsuchenden und Flüchtlingen zudem konsequent aus; sie hielten bereits die These für rassistisch, dass kulturelle Aspekte bei der sexuellen Gewalt eine wichtige Rolle spielten. Auch ein Teil der feministischen Bewegung lehne es kategorisch ab, dem Zusammenhang von sexueller Gewalt und Migration nachzugehen.

Für Hirsi Ali steht fest, dass aufgrund des starken Zuzugs von Asylsuchenden aus islamischen Staaten die Rechte von Frauen zunehmend unter Druck geraten sind. Es gebe in zahlreichen Ländern immer mehr Städte und Quartiere, in denen Frauen sich nachts nicht mehr auf die Strasse getrauten, aber auch eine klare Zunahme von Vergewaltigungen und Sexualdelikten aller Art. Hirsi Alis Recherchen sind gut dokumentiert und wirken seriös. Die Frage bleibt allerdings, wie repräsentativ die Ergebnisse ihrer Recherchen tatsächlich sind. Es brauchte dringend weitere Studien und Recherchen, um mehr Klarheit zu schaffen.

Hirsi Ali beklagt aber nicht nur die Folgen einer unkontrollierten Einwanderung für die Rechte von Frauen, sondern ortet generell gravierende Mängel in der europäischen Asyl- und Integrationspolitik. Die europäischen Regierungen hätten «die Kontrolle über das Asylsystem verloren», schreibt Hirsi Ali, und die Integration vieler Migranten und Asylsuchender sei «gescheitert».

Sie bemängelt zudem die oft ausbleibende Rückschaffung abgewiesener Asylbewerber wie auch die «richterliche Milde», zum Beispiel bei Vergewaltigungen durch jugendliche Migranten und Asylsuchende. Schliesslich skizziert Hirsi Ali in groben Zügen auch eine Reform der Asyl- und Migrationspolitik. Allerdings zeigen sich hier Widersprüche, die sich nicht ohne weiteres auflösen lassen, etwa hinsichtlich der Ausschaffungspraxis europäischer Staaten.

Ein lauter Weckruf

Kritisch anzumerken ist, dass Hirsi Ali einen harten, oft zugespitzten Stil pflegt. So schreibt sie etwa vom «raubtierhaften Verhalten vieler muslimischer Männer» oder vom «Vergewaltigungsspiel», das im Dezember 2015 das Mittelmeer überquert habe. Diese provokativen Formulierungen dürften mit ihrem Naturell zusammenhängen; lauwarme und diplomatische Statements sind von Hirsi Ali nicht zu erwarten. Problematisch ist auch, dass sie legale Arbeitsmigranten aus muslimischen Ländern und deren Nachkommen nicht genügend klar von irregulär Eingereisten und Asylsuchenden unterscheidet.

Dennoch ist das Buch mehr als eine Streitschrift. Es ist der Versuch einer Bestandesaufnahme in einem äusserst komplexen Sachverhalt, der nach weiteren Abklärungen ruft. Da Hirsi Ali jahrelang recherchiert hat und über Insiderwissen verfügt, sollte ihre These nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Sie selber sieht in ihrem Werk ein «Plädoyer für ein Erwachen Europas» – es soll verhindern, dass Populisten und Ausländerhasser die Debatte für ihre Zwecke übernehmen.

Ayaan Hirsi Ali: Beute. Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht. Verlag C. Bertelsmann, München 2021. 432 S., Fr. 34.90.