Beitrag vom 09.07.2021
Welt Online
Südsudan
Der erschütternde Niedergang des jüngsten Staates der Erde
Als der Südsudan seine Unabhängigkeit vom Sudan erklärte, hofften die Menschen auf Frieden und ein besseres Leben. Stattdessen versank der neue Staat in einem neuen Bürgerkrieg, dessen desaströse Folgen bis heute andauern.
Von David Schwake, Ingo Henneberg
Am 9. Juli 2011 jubelten die Menschen auf den Straßen der Hauptstadt Juba und feierten die Unabhängigkeit des neuen Staates Südsudan. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon pries die Erlangung von Würde und Freiheit, US-Präsident Barack Obama hieß die neue Nation willkommen und unterstrich die großen Hoffnungen auf ein besseres Leben, das die Menschen des Südsudan mit der Staatsgründung verbanden.
Die Unabhängigkeit war Ergebnis eines Referendums vom Januar 2011, bei dem die Bevölkerung des Südsudan mit überwältigender Mehrheit (98,83 Prozent) für einen unabhängigen Staat und gegen den Verbleib beim Sudan gestimmt hatte. Nach fast sechs Jahrzehnten Bürgerkrieg mit dem muslimisch geprägten Norden versprach ein eigener Staat Aufbruch und Selbstbestimmung. Eigene Erdölvorkommen und viel fruchtbares Agrarland machten Hoffnung, dass der neue Staat seinen heute rund zwölf Millionen Einwohnern auch sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung bringen würde.
Die Aufbruchsstimmung fand schon zweieinhalb Jahre nach Staatsgründung im Dezember 2013 ein abruptes Ende, als lang anhaltende Streitigkeiten innerhalb der politischen Führung, der Befreiungsbewegung SPLM, zu einem offenen Bürgerkrieg entlang ethnischer Linien eskalierten. Die 12.500 Mann starke Friedensmission der Vereinten Nationen im Südsudan (UNMISS) öffnete ihre Tore und rettete so Tausende Menschenleben, konnte die Lage im Land aber kaum stabilisieren.
Der Konflikt kostete bis heute rund 400.000 Menschen das Leben. Viele Tausende Angehörige ethnischer Minderheiten leben sieben Jahre nach Bürgerkriegsbeginn weiter in von den UN geschützten Lagern – aus Angst vor Verfolgung durch die regional jeweils dominierende Mehrheitsethnie. Die UN schätzen, dass 1,62 Millionen Menschen intern vertrieben wurden, 2,3 Millionen sind Flüchtlinge in den Nachbarländern, 8,3 der zwölf Millionen Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Das Niveau der sozioökonomischen Entwicklung gehört zu den niedrigsten weltweit: Das UN-Entwicklungsprogramm stuft den Südsudan in seinem Human Development Index auf Platz 185 von 189 Staaten ein. Auf dem Antikorruptionsindex von Transparency International wiederum landete der Südsudan jüngst an vorletzter Stelle – einen Platz vor Somalia, dem Prototyp des gescheiterten Staates.
Diese Bilanz ist ein im Moment der Staatsgründung vor zehn Jahren kaum vorstellbares Desaster fürchterlichen Ausmaßes und muss alle jene traurig stimmen, die die Staatswerdung des Südsudan mit Sympathie und Engagement begleitet haben, darunter auch viele Menschen in Deutschland.
Bei der Beantwortung der Frage nach den Gründen und den Verantwortlichen für die Misere zeigen Südsudanesen und internationale Gemeinschaft mit einem gewissen Recht auf den jeweils anderen: Wir, die internationale Gemeinschaft, haben lange Zeit in die falsche Richtung geblickt und das Spaltungs-und Gewaltpotential der politisch instrumentalisierten ethnischen Gegensätze nicht richtig eingeschätzt.
Vor allem aber hat die internationale Gemeinschaft die Eignung der früheren Befreiungsbewegung SPLM, das Land zu regieren und seinen Bürgern öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen ebenso falsch eingeschätzt wie deren Willen zu guter Regierungsführung überschätzt. Viele in der Führungselite des Südsudan wiederum müssen sich vorwerfen lassen, sich schamlos an den Öleinnahmen des Landes bereichert – und die Versorgung der darbenden Bevölkerung zynisch den humanitären Gebern aus dem Globalen Norden überlassen zu haben.
Der letztlich weiter ungelöste Machtkampf zwischen Präsident Salva Kiir, der Galionsfigur der Mehrheitsethnie der Dinka, und Vizepräsident Riek Machar, der die zweitgrößte Ethnie der Nuer anführt, demonstriert, dass die Führung des Landes auch nach 400.000 Toten immer noch stärker an der eigenen Macht und persönlicher Rivalitäten interessiert ist als am Wohlergehen der Bevölkerung.
Gibt es trotzdem Hoffnung?
Hoffnung auf eine gewisse Verbesserung verbinden Beobachter in Juba mit der seit Anfang 2020 nach und nach erfolgenden Umsetzung eines Friedensabkommens von 2018, das eine neue Übergangsregierung unter Führung von Präsident Kiir und einem ersten Vizepräsidenten (Machar) schafft. Es soll 2023 zu Neuwahlen führen, den ersten in der Geschichte des Landes. Aber der Prozess ist zäh, und noch ist unklar, ob der Südsudan wirklich auf dem Weg zu mehr Stabilität ist.
Impulse von außen waren in der jüngeren Vergangenheit vor allem aus Ostafrika selbst erfolgt. So war es dem gemeinsamen Druck der eigentlich konkurrierenden Nachbarn Uganda und Sudan zu verdanken, dass Kiir und Machar dem Friedensabkommen von 2018 zustimmten. Heute ist die Region allerdings mit sich selbst beschäftigt: Äthiopien befindet sich in einem Bürgerkrieg, der Transitionsprozess im Sudan ist weiter mit viel Ungewissheit behaftet, und Ugandas Präsident Museveni ist nach den zweifelhaften Wahlen international umstritten.
Bleiben als Impulsgeber die USA, einst „Geburtshelfer“ des Südsudan und Alliierte im Befreiungskampf gegen den muslimisch-geprägten Norden. Sie hatten ihr Engagement zeitweise reduziert, weil sie die Entwicklung des Landes enttäuschte. Die von Präsident Biden ernannten neuen Afrikapolitiker in Washington kennen den Südsudan genau: Die künftige Afrikabeauftragte im State Department, Molly Phee, war US-Botschafterin im Südsudan, die Chefin der Entwicklungsbehörde USAID, Samantha Powers, besuchte den Südsudan in ihrer Zeit als UN-Botschafterin unter Präsident Obama. Und Bidens neue UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield ist eine Kennerin der Region.
Setzen sich die USA, unterstützt von der EU, an die Spitze eines neuen Versuchs, dem geschundenen Land einen Neustart zu ermöglichen, dann hat der jüngste Staat der Erde vielleicht eine Chance auf eine bessere Entwicklung. Eine solche Anstrengung sollte dann auch Deutschland energisch unterstützen.
Doch die Fülle der Aufgaben ist groß: Das Land braucht eine Sicherheitssektorreform, die die gespaltene Armee in eine tatsächlich nationale Armee verwandelt, die sich dem Gesamtstaat verpflichtet fühlt – und nicht einer Partei oder gar einzelnen Bannerträgern einer Ethnie. Ein nationaler Versöhnungsprozess sollte sich nicht nur den seit Beginn des Bürgerkriegs 2013 begangenen Verbrechen zuwenden, sondern auch den innersudanischen Gewaltexzessen aus der Zeit vor der Unabhängigkeit.
Reformen vorantreiben
Die Einrichtung eines aus südsudanesischen und internationalen Richtern besetzten hybriden Gerichts, wie sie das Abkommen von 2018 vorsieht, sind ein erster Schritt auf diesem Weg. Schließlich müssten sich Reformanstrengungen darauf konzentrieren, ein stärker gewaltenteiliges politisches System zu schaffen, in dem politische Macht und der Zugang zu Ressourcen breiter verteilt wären als derzeit. Dann hätte der Kampf um die aktuell alles entscheidende Position des Präsidenten weniger Bedeutung. Dies könnte im Rahmen eines im Friedensabkommen vorgesehenen Verfassungsreformprozesses geschehen.
Derzeit hat der Südsudan lediglich eine Übergangsverfassung. Schließlich müssten die Geber aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Leistungen viel stärker mit Eigenleistungen der südsudanesischen Regierung verknüpfen als bisher. Kurz gesagt: Es kann nicht sein, dass die internationale Gemeinschaft Bildung und Gesundheit finanziert, während die Regierung die Öleinnahmen des Landes in Waffen investiert. Das alles ist schwierig und zum Teil auch sehr teuer, und es setzt einen gewissen Reformwillen aufseiten der Führungselite voraus.
Letztlich sind die Einflussmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft, auch der USA und der EU, auf die Führung des Landes begrenzt. Auch das ist eine der Lehren aus den vergangenen zehn Jahren. Die entscheidenden Impulse für eine Kursänderung müssen aus dem Land selbst kommen – wenn nicht aus der Elite, dann aus der Bevölkerung.
Nur wenn es der Bevölkerung gelingt, ihre Führung effektiv zur Rechenschaft zu ziehen und selbstbewusst die Bereitstellung öffentlicher Güter einzufordern, also von funktionierenden Schulen und Krankenhäusern, Verwaltungen und Gerichten, nur dann werden sich auch die Herrschenden in Juba dafür interessieren. Insofern ist die internationale Gemeinschaft gut beraten, ihre Gelder nicht nur in materielle Hilfsleistungen oder Infrastrukturprojekte zu investieren. Schon gar nicht sollte sie weiter Regierungsfunktionen übernehmen.
Zentral für ein Gelingen der zweiten Dekade in der bisher traurigen Geschichte des jüngsten Staates der Erde ist das Entstehen einer lebendigen Zivilgesellschaft, einer Gruppe mündiger Bürger. Sie vor allem verdient unsere Unterstützung.
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David Schwake (r.) ist Generalsekretär der Deutschen Afrika Stiftung und war deutscher Botschafter im Südsudan von 2013 bis 2015. Ingo Henneberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Afrika Stiftung und der Freien Universität Berlin