Beitrag vom 07.05.2020
FAZ
Die Angst vor dem Hunger ist größer
Die Eindämmung von Covid-19 hat in Afrika tödliche Nebenwirkungen.
Von Thilo Thielke, Kapstadt
Der Alarmruf hätte kaum dramatischer formuliert sein können. Wenn nicht rasch gehandelt werde, drohten in diesem Jahr „mehrere Hungersnöte von biblischem Ausmaß“, verkündete David Beasley, Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) Ende April vor dem UN-Sicherheitsrat. Schon vor der Corona-Pandemie seien 821 Millionen Menschen chronisch hungrig gewesen. Hinzugekommen seien 135 Millionen Menschen, denen „Hunger oder Schlimmeres“ drohe. Infolge der Maßnahmen gegen Covid-19 kämen weitere 130 Millionen hinzu, so dass am Ende dieses Jahres 265 Millionen Menschen „am Rande des Hungertodes“ stehen können. Im schlimmsten Fall könne es in drei Dutzend Ländern, fast alle in Afrika, zu Hungersnöten kommen.
Nach Biafra (1967 bis 1970), Äthiopien (1984/85) und Somalia (1992) droht dem Kontinent damit wieder eine Hungerkatastrophe. Auch ohne die Corona-Pandemie war die Lage laut Beasley wegen einer Heuschreckenplage und Klimaveränderungen schon kritisch. Doch dass die wichtigsten Industrienationen die Weltwirtschaft lahmgelegt haben, um ihre Gesundheitssysteme vor Überlastung zu bewahren, verschärft die Lage. Und auch die meisten afrikanischen Regierungen schlossen Grenzen, verhängten Ausgangssperren und verkündeten Ausnahmezustände, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.
Selbst im für schwarzafrikanische Verhältnisse vergleichsweise wohlhabenden Südafrika drohten viele Tote durch den Zusammenbruch der Wirtschaft, schreibt der südafrikanische Ökonom Dawie Roodt: „Die absolute Zahl an Südafrikanern, die an den Folgen der Armut zu Tode kommen werden, könnte höher als 300?000 sein.“ Dazu komme „die Anzahl derer, die trotz aller Eindämmungsmaßnahmen durch das Virus sterben werden“. Roodt: „Es gibt keinen Zweifel, dass Armut mehr Leute tötet als alle anderen Übel zusammen.“
Allein in den neun ostafrikanischen Staaten Äthiopien, Südsudan, Kenia, Somalia, Uganda, Ruanda, Burundi, Djibouti und Eritrea könnte sich die Zahl der Hungernden von 20 Millionen auf 43 Millionen mehr als verdoppeln, teilte das WFP in Genf mit. Weil der internationale Flugverkehr so gut wie eingestellt ist, gehen in der Region die Pestizide aus, die zur Bekämpfung der für viele Menschen lebensbedrohlichen Heuschreckenplage benötigt werden. Es kann daher sein, dass die Länder der zu erwartenden zweiten und dritten Welle der Heuschreckenschwärme schutzlos gegenüberstehen.
Auch Medikamente kommen nicht mehr zu den Leidenden. Schutzlos fallen im Osten Kongos die Menschen derzeit einer Masern-Epidemie zum Opfer – Ruanda schloss schon vor Wochen die Grenzen. Weil dringend benötigte Tabletten und Moskitonetze fehlen, könnte allein die Zahl der Malaria-Toten in Afrika in diesem Jahr von rund 400?000 auf fast 800 000 steigen, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Nicht besser sieht die Lage in Westafrika aus. Dort rechnen die Hilfsorganisationen Oxfam, Care und „Save the Children“ damit, dass die Zahl der von Unterernährung bedrohten Menschen bis August von 17 auf 50 Millionen steigt. Dort werden die Lebensmittel unerschwinglich. „Unsere Partnerorganisationen schlagen Alarm“, sagt der Leiter der Afrika-Abteilung von „Brot für die Welt“, Reinhard Palm: „Weil der Transport so teuer geworden ist, haben sich die Mango-Preise in den Geschäften verdoppelt, während die Bauern nur noch die Hälfte für ihre Ware bekommen.“ Erschwert wird die Lage durch den islamistischen Terror, der immer größere Teile des Sahel erfasst.
„Lange halten die Menschen das nicht mehr durch“, sagt Henning Neuhaus, der im äthiopischen Addis Abeba das Büro der Stiftung „Menschen für Menschen“ leitet. In Äthiopien werden schlimme Erinnerungen wach. Bis zu eine Million Menschen verhungerten in den achtziger Jahren in dem damals vom Kommunisten Mengistu Haile Mariam regierten Staat. Glaubt man Neuhaus, der viele Jahre seines Lebens in Afrika verbracht hat, braut sich gerade der perfekte Sturm zusammen. „Die Bevölkerungszahl Äthiopiens ist auf 110 Millionen Einwohner geradezu explodiert, so dass die Bauern kaum noch Land haben, das sie bewirtschaften können“, sagt der Entwicklungshelfer. Schon in normalen Zeiten sei Mangel ein Problem, so Neuhaus. Und neben anderthalb Millionen Äthiopiern, die wegen ethnischer Gewalt aus ihren Häusern vertrieben wurden, befänden sich rund zwei Millionen Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern wie Südsudan oder Somalia im Land.
Viele Afrikaner halten den Preis, den sie für die Eindämmung der Pandemie zahlen sollen, für zu hoch – auch, weil es kaum Krankenhäuser und Intensivstationen gibt, die entlastet werden könnten. In Äthiopien etwa soll es 50 Beatmungsgeräte und 150 Intensivbetten für mehr als hundert Millionen Einwohner geben, in Nigeria sind es laut einer Studie von 2017 gerade einmal 120 Intensivbetten für fast zweihundert Millionen Einwohner, in Uganda stehen 43 Millionen Einwohnern laut einer Studie der Makarere University in Kampala nur 55 Intensivbetten zur Verfügung.
Überall auf dem Kontinent rumort es deshalb derzeit. „Wir haben mehr Angst vor dem Hunger als vor Corona“, riefen die Aufgebrachten in Nairobis Riesenslum Kibera, als sie schwerbewaffnete Polizisten mit einem Steinhagel eindeckten. In Südafrika wurden Lebensmittellaster und Supermärkte geplündert, und in Nigeria brannten Barrikaden. Die Regierung des Autokraten Paul Kagame in Ruanda müsse umgehend von ihrer Politik der „totalen Eindämmung abrücken“, fordern die Führer der wichtigsten Oppositionsparteien des Landes, Victoire Ingabire und Bernard Ntaganda, in einem Brandbrief. „Die Menschen sind am Ende“, sagen sie. „Wenn die Wirtschaft nicht wieder voll anläuft, verwandelt sich das Land schon bald in einen einzigen Open-Air-Friedhof.“