Beitrag vom 30.04.2020
FAZ
Ein Reformplan für Afrika
Die Pandemie könnte viele afrikanische Länder in noch größere wirtschaftliche Not stoßen. Doch auch ohne die Corona-Krise hat Deutschland Grund, seine Hilfen zu überdenken. Die „Partnerschaft auf Augenhöhe“ ist Fiktion. Von Rolf J. Langhammer
ie Covid-19-Pandemie drängt Industrie-und Schwellenländer in eine Nabelschau. Europa ist mit sich selbst und seinen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und China beschäftigt, die wiederum ihre gegenseitigen Schuldzuweisungen pflegen. Alle drei sehen in der Corona-Krise die Entwicklungs- und Schwellenländer als Problemherde ausschließlich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft: Die EU blickt auf Libyen, Syrien und die Türkei, die Vereinigten Staaten auf Mexiko und die zentralamerikanischen Staaten sowie deren Flüchtlinge, und China auf die zentral- und südostasiatischen Länder, die in ihren Lieferketten und in ihrer Geopolitik einen großen Raum einnehmen.
Dabei hat Europa allen Grund, sich nach dem Ende der Corona-Krise nicht nur um sich selbst zu kümmern, sondern sich auch um die wirtschaftliche Zukunft des gesamten afrikanischen Kontinents zu sorgen. Vor allem für die Staaten südlich der Sahara, die nach Länder- und Bevölkerungszahl den Kontinent dominieren, haben sich die Leistungsdaten seit der Finanzkrise 2009 im Vergleich zu den Jahren davor stark verschlechtert. Wuchs das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in der Periode zwischen 2004 und 2008 real noch um 4 Prozent, war im Durchschnitt der Jahre 2009 bis 2018 nur noch ein Wachstum von 1,7 Prozent zu verzeichnen. Für 2019 erwartete der Internationale Währungsfonds vergangenen Oktober ein Wachstum von unter einem Prozent. Und in diesem Jahr wird die afrikanische Bevölkerung im Gefolge der globalen Krise ärmer werden. Gleichzeitig stieg die externe Verschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), von 19 Prozent in der genannten Periode auf 24 Prozent 2018. Der Leistungsbilanzsaldo rutschte von einem Überschuss von 2,1 Prozent in ein Minus von 2,7 Prozent im Jahr 2019.
Afrika wird wieder stärker vom Zugang zu zinsbegünstigten Krediten und Zuschüssen abhängig werden als noch vor einem Jahrzehnt. Weiterhin wird aber auf der regionalen wie bilateralen Ebene das Bild der partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe beschworen. Die EU sieht in der Umsetzung von vier regionalen Partnerschaftsabkommen in Afrika einen Wachstumsimpuls, um die wirtschaftliche Integration der Länder innerhalb der Regionen im Lichte der positiven Erfahrungen mit der eigenen Integration in der EU zu intensivieren. An dieser Sicht hält sie ungeachtet der Widerstände und Vorbehalte fest, die viele afrikanische Regierungen einer Öffnung der Grenzen untereinander aus Furcht vor den Folgen des Wettbewerbs entgegenbringen. Sie kritisieren das Drängen der EU als patrimonial, nicht partnerschaftlich.
Auch die Bundesregierung sieht seit 2017 in einer neuen Partnerschaft mit Afrika auf gleichberechtigter Ebene die Grundlage für einen neuen „Marshallplan“. Sie fordert im Gegenzug die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln, Teilhabe von Männern und Frauen sowie die Bekämpfung von Korruption ein. Offen bleibt die Frage, ob die afrikanischen Führer unter den Voraussetzungen, die ihren Aufstieg und Verbleib an der Spitze ihrer Länder sicherstellten, diesen Forderungen Europas gerecht werden können.
Kein Kontinent hat eine jüngere Bevölkerung: 2017 waren 60 Prozent der Afrikaner unter 25 Jahren. Und keiner hat eine ältere politische Führung: 2018 betrug das Durchschnittsalter der zehn ältesten afrikanischen Präsidenten 80 Jahre, das aller afrikanischen Präsidenten Mitte 60. Einige sind seit mehr als drei Jahrzehnten an der Spitze, andere wurden in hohem Alter von ähnlich alten Männern abgelöst. Viele der langjährig Regierenden haben ethnisch geprägte Netzwerke oder Familiendynastien gebildet, die ihre Macht selbst in demokratisch ausgerichteten Wahlen zementieren helfen, teilweise auch über die normalen verfassungsmäßigen Bedingungen hinaus.
Das Geld für die Finanzierung der Netzwerke haben sie meist über die Kontrolle und Abschöpfung von Erlösen aus Rohstoffausfuhren erhalten, teilweise aber auch über die Kontrolle der Finanzströme der Entwicklungshilfe. Da diese Hilfen zunehmend fungibel geworden ist, das heißt eigene Mittel ersetzen, sparen die Präsidenten Geld, das sie für den Machterhalt nutzen. Unter den Bedingungen einer einkommensschwachen Gesellschaft, für die das Alimentationsprinzip prägend ist, handeln sie rational, da der Machtgewinn und Machterhalt von der Finanzierung der Netzwerke abhängt. Dies gilt auch für diejenigen, die Unterstützung anbieten und Mittel erhalten, wie vielfach das Militär. Ebenso rational handelt ein Unternehmer, der seinen Gewinn zu verdecken versucht und keine offiziell Beschäftigten ausweist, da er sonst, bei schwacher Besteuerungsbasis des Staates, einer exzessiven Besteuerung unterläge, von den traditionellen Ansprüchen einer großen Familie an das Oberhaupt ganz abgesehen.
Unter diesen Bedingungen handeln alle wichtigen Akteure individuell rational, mit verheerenden Konsequenzen für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Es ist daher richtig, die Kausalität zwischen Armut und Nepotismus vom ersteren zum letzteren zu ziehen. Armut ist ein wesentlicher Bestimmungsfaktor von Nepotismus. Aber wenn sich der Nepotismus einmal so etabliert hat wie in vielen afrikanischen Ländern, zerschneidet er nationale Güter- und Finanzmärkte in wirtschaftlich suboptimale Größen, behindert Innovation und zementiert autoritäres und häufig auch repressives Regierungsverhalten.
Geber wie China, aber auch Unternehmen, denen dieses Verhalten gleichgültig ist oder sogar förderlich für ihre Interessen, beispielsweise im Rohstoffsektor, befeuern es von außen. Zur prägenden Verhaltensweise dieser Führer gehört die Bevorzugung der urbanen Klientele und die Benachteiligung des ländlichen Raumes. Die Macht festigt sich in den urbanen Zentren, die in Afrika schneller wachsen als in anderen Kontinenten. Die Bewohner der Agglomerationen werden durch alle Politiken begünstigt, von der Handels- über die Industrie- bis zur Sozial- und Infrastrukturpolitik. Dadurch verliert der ländliche Raum qualifizierte Menschen, wird unproduktiv bewirtschaftet und öffnet regierungsfeindlichen, oft religiös-fundamentalistischen Kräften Tür und Tor.
Ein derartiger Problemaufriss verneint keinesfalls die wirtschaftlichen Erfolge einzelner afrikanischer Länder. Diese zeichnen sich durch Regierungshandeln aus, das wirtschaftlichen Fortschritt anstrebt, offen gegenüber Investitionen aus dem Ausland ist und realistische Pläne zusammen mit Trägern der internationalen Entwicklungszusammenarbeit erarbeitet. Seit Jahrzehnten sind dies Botswana und Mauritius, seit jüngerer Zeit Ruanda und Äthiopien. Die beiden großen Länder Nigeria und Südafrika gehören nicht zu diesem Kreis. Nicht unerheblich ist allerdings der Kreis der Länder, die nach guten Jahren, auch befeuert und unterstützt durch den Wunsch der Geber nach Erfolgen, wieder zurückgefallen sind, wie die Elfenbeinküste oder Ghana. Oft hat Hilfe, wenn sie gemessen an der Wirtschaftsleistung des Landes bedeutend war, Produktionsentscheidungen beeinflusst und verzerrt. Damit wurden Aktivitäten begünstigt, die personelle Ressourcen und Finanzmittel von den afrikanischen Unternehmen abzogen, die versuchten, ihre Produkte auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig anzubieten.
Machtstrukturen in vielen Ländern Afrikas zeichnen sich durch kurze Zeithorizonte der Regierungen und damit eine hohe Zeitpräferenz der Führer aus. Auch ein Führer, der lange an der Macht ist, wird dem Machterhalt eine höhere Priorität geben als dem Management von Veränderungen in seinem Land, die einen langen Zeithorizont erfordern. Die Beispiele der Präsidenten Biya (Kamerun), Mugabe (Simbabwe), Zuma (Südafrika) oder Museveni (Uganda) stehen für diese Priorität. Afrikas drei drängendste Probleme erfordern aber alle schwerwiegende Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen mit langen Zeithorizonten: erstens die Verbesserung von Bildung und Gesundheit einschließlich der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, zweitens die produktivere Nutzung der Ressource Boden unter Berücksichtigung des demographischen Drucks und der ökologischen Herausforderungen, drittens die Stärkung eines innovativen Unternehmertums, das die Grundlage für eine wachsende Mittelschicht und eine abnehmende Abhängigkeit von volatilen korruptionsanfälligen Rohstofferlösen setzt.
Strategien für die drei Problemfelder haben mehreres gemeinsam: Sie greifen tief in das gegenwärtige Regierungshandeln der afrikanischen Führer ein, gefährden traditionelle Machtbasen und werden daher von vielen Führern vielleicht nur mit Lippenbekenntnissen aufgenommen. Sie erfordern zudem über einen längeren Zeitraum einen hohen finanziellen, personellen und technischen Aufwand. Von privaten Investoren dürfte dieser Aufwand wegen seines hohen Risikogehalts nur dann aufgebracht werden, wenn zuvor multilaterale und bilaterale Finanzinstitutionen zusammen in Vorhalte getreten sind und beispielsweise infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen haben. Zudem bereiten sie wahrscheinlich das Feld für einen scharfen Wettbewerb zwischen autoritären erziehungsdiktatorischen Entwicklungsmodellen chinesischen Gepräges und den individualistisch anreizorientierten Entwicklungsmodellen der westlichen Länder.
Alle drei Problemfelder hängen zusammen. Gelingt es beispielsweise, Bildung und Gesundheit zu verbessern und den Frauen Entscheidungs-und Gestaltungsräume zu öffnen, dürfte die Geburtenhäufigkeit in Afrika noch schneller abnehmen als bislang, zugegebenermaßen wiederum über einen langen Zeitraum. Auch stärkte bessere Bildung in den Ländern das Verständnis für die Notwendigkeit, neue Nutzungsrechte für den Boden zu schaffen und zu sichern. Dies wäre eine Grundlage dafür, die Erkenntnisse der Agrarwissenschaft für Produktivitätsverbesserungen afrikanischer Böden zu nutzen und natürlichen Herausforderungen wie Versteppung und Schädlingsbefall besser zu begegnen. Es entstünde eine Quelle für Einkommen und Unternehmertum im ländlichen Raum, die mit Hilfe durchgreifender Reformen gegen die Benachteiligung des ländlichen Raums in allen Politikfeldern verstetigt werden könnte. Der ländliche Raum könnte zur Grundlage innerafrikanischer Lieferketten werden und dabei die Informations- und Agglomerationsvorteile der urbanen Zentren nutzen.
Die drei Problemfelder sind aber auch transnational verwoben. Um erfolgreich zu sein, bedarf es eines Mindestmaßes an Kooperationsbereitschaft über die Ländergrenzen hinweg. Angesichts des hohen informellen Integrationsniveaus vieler Länder – über traditionelle Migrationsströme, gemeinsame Währungen, Nachbarschaftshandel, ethnische Zusammengehörigkeit – und der Gemeinsamkeit der klimatischen Gegebenheiten über Ländergrenzen hinweg beispielsweise im Sahelraum wäre ein vorübergehender Erfolg in einem reformbewussten Land nur bei starker Abschottung vor reformverweigernden Nachbarstaaten zu verteidigen, und selbst dann wahrscheinlich nicht auf Dauer. Um die Führer für eine Unterstützung zu gewinnen, wären zeitlich begrenzte Kooperationsprojekte, die alle drei Problemfelder ansprechen, wahrscheinlich erfolgversprechender als das Beharren auf dem formalen Kriterium der regionalen Integration, also der Abschaffung von staatlichen Hemmnissen für den Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeiterverkehr. Dieses Kriterium dürfte die Ängste vieler afrikanischer Führer vor dem Verlust ihres Teile-und-herrsche-Privilegs beflügeln. Aber auch von außen an die Länder herangetragene Kooperationsprojekte von derartiger Tragweite könnten als Eingriff in die nationale Souveränität verstanden und abgelehnt werden – es sei denn, ein exogener Schock würde die Länder treffen und die Regierungen zwingen, Unterstützung von außen anzunehmen und dafür Handlungsgewalt abzugeben.
Ein derartiger Schock, die Ebolafieber-Epidemie, befiel zwischen 2014 und 2016 mehrere westafrikanische Länder. Sie wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO als völkerrechtlich bindender internationaler Gesundheitsnotfall eingestuft und verpflichtete die Länder zu einschneidenden nationalen Schutzmaßnahmen sowie die internationale Gemeinschaft zu umfangreicher Hilfe. Diese Hilfen erlaubten es internationalen Organisationen, per Ordnungsrecht zusammen mit den Regierungen die Mobilität von Gütern und Personen vorübergehend einzuschränken und die Epidemie erfolgreich zu bekämpfen.
Der Erfolg der Epidemiebekämpfung war gleichbedeutend mit dem Ende des außergewöhnlich hohen Einflusses der internationalen Gemeinschaft in den betroffenen Ländern. Der Bertelsmann-Transformation-Index von 2018 beklagt für die Region West- und Zentralafrika weiterhin hochdefizitäres Regierungshandeln, ausufernde Korruption und die Sicherung der Machtbasis durch ethnische Ungleichbehandlung. Hier hat die internationale Gemeinschaft eine Chance verpasst. Im Gefolge der Krise hätte sie langfristige Kooperationsprojekte, die alle drei Problemfelder ansprechen, auf den Weg bringen und die Regierungen davon überzeugen können, zeitlich begrenzte Reformexperimente in definierten Sonderzonen zu unterstützen.
Dazu sollte es nicht exogener Schocks bedürfen, aber auch die Covid-19-Pandemie könnte viele afrikanische Länder angesichts sinkender Rohstoffpreise, nachlassender Nachfrage aus China und Flauten im Tourismusgeschäft in noch größere wirtschaftliche Not stoßen als jetzt schon. Damit würde die Finanzierung von Machterhalt in Afrika erschwert und vielleicht die Reformbereitschaft erhöht, auch vor dem Hintergrund, dass das von afrikanischen Regierungen stets kritisierte machtasymmetrische Geber-Nehmer-Verhältnis wegen der Krise in den Geberländern Risse bekommen hat. Vorstellbar wäre, dass sich unter der Führung afrikanischer Institutionen wie der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Organisation für Afrikanische Einheit oder der UN-Kommission für Afrika in Zusammenarbeit mit internationalen Agrarforschungsinstitutionen afrikanische Länder um international finanzierte Reformprojekte in zu gründenden Sonderzonen bewerben, idealerweise grenzüberschreitend. In diesen Zonen würden bestehende Gesundheits- und Bildungseinrichtungen materiell und personell gestärkt, neue Bewirtschaftungsrechte für Boden gelten, innovative Anbaumethoden eingesetzt und Start-up-Unternehmen, vorzugsweise von Frauen, gefördert, mit dem Ziel, innerafrikanische Lieferketten zu etablieren.
Alle drei Problemfelder würden damit berührt. Dieser Ansatz ginge weit über die existierenden Freizonen in afrikanischen Küstenstädten hinaus, die zumeist lediglich Zollvorteile für exportorientierte Wertschöpfung bieten. Es wären Zonen institutioneller Reformen mit Laufzeiten von zunächst bis zu zehn Jahren, einem stringenten Monitoring und reversiblen Maßnahmen. Afrikanische Regierungen könnten von einer verbesserten Besteuerungsbasis, einer wachsenden Attraktivität für ausländische Investoren und positiven Streueffekten für die gesamte Wirtschaft profitieren. Chinesisches Wissen und Kapital sollte explizit eingeladen werden, da China mit Experimentierzonen viel Erfahrung einbringen kann.
Wichtig wäre die Führung der Zonen durch multinationale afrikanische Institutionen, damit weder die nationalen Regierungen noch bilaterale Geber ihre partikularen Interessen durchsetzen können. Für diese Institutionen, die seit Jahren für einen panafrikanischen Wirtschaftsraum werben und ihn formell auch schon verabschiedet haben, könnten die Zonen ein Nukleus sein, ohne das enge Ziel der innerafrikanischen Handelsexpansion, sondern mit dem weiten Ziel, alle vorhandenen Talente und Ressourcen in den Zonen innovativ zu nutzen und zu verbessern. Der Name Marshall-Plan aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit suggeriert den Engpass Finanzmittel. Es ist aber der Engpass Reformbereitschaft, um den es geht, und da wäre der Name Ludwig Erhard als Planpate angebrachter.