Beitrag vom 29.04.2020
FAZ
Rückzug aus Entwicklungsländern
Deutschland beendet die Zusammenarbeit mit jedem dritten armen Land. Minister Müller setzt einen neuen Fokus. Von Christoph Hein, Singapur, und Manfred Schäfers, Berlin
Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) plant den Rückzug der deutschen Fachleute aus vielen Partnerländern. Dies gilt in seinem Haus als die größte Strukturreform seit zwölf Jahren. Derzeit ist Deutschland in etwa 85 Ländern direkt aktiv, entweder über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). In etwa einem Drittel soll diese Form der Zusammenarbeit beendet werden. „Die Neukonzeption führt dazu, dass wir uns in verschiedenen Ländern aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit zurückziehen“, bestätigte der Minister auf Nachfrage. „Wir gehen damit weg von der Gießkanne und arbeiten verstärkt mit unserer bilateralen Zusammenarbeit dort, wo unser Engagement einen Unterschied macht und Partner Reformen umsetzen“, sagte der CSU-Politiker der F.A.Z. Man konzentriere die Zusammenarbeit auf weniger Länder, „welche gezielt Reformen zu guter Regierungsführung umsetzen, Menschenrechte wahren und Korruption mit unserer Unterstützung bekämpfen“.
Auf der Ausstiegsliste, die der F.A.Z. vorliegt, stehen unter anderem Burma, Nepal und Sri Lanka in Asien, Burundi, Sierra Leone und Liberia in Afrika sowie Kuba, Haiti und Guatemala in Amerika. Der Minister wollte sich zu den einzelnen Ländern nicht äußern. Die Arbeit an der neuen Länderliste gilt zwar als weitestgehend abgeschlossen. Die Partnerländer, das Auswärtige Amt und die Abgeordneten wurden einbezogen. Aber dennoch sind Änderungen in dem einen oder anderen Fall noch möglich. Die Liste ist Teil des neuen Konzepts „BMZ 2030“, das der Minister bis zum Sommer vorlegen will.
Das Auslaufen der staatlichen Zusammenarbeit in bestimmten Ländern bedeutet nach Müllers Worten nicht das Ende aller Aktivitäten. „Die Zivilgesellschaft, die politischen Stiftungen, die Kirchen und die Wirtschaft können dort weiterhin entwicklungspolitisch arbeiten“, betonte er. Auch über die internationalen Organisationen und die EU bleibe Deutschland ihnen verbunden. „Klar ist: Wir beenden alle Maßnahmen geordnet, die wir begonnen haben“, sagte der CSU-Politiker.
Stark spüren wird die GIZ die neue Ausrichtung. Für sie sei die „Agenda 2030“ der übergeordnete Rahmen, an dem sich ihre Arbeit orientiere, heißt es in Eschborn. Zwar lautet die dort ausgegebene Parole: „Niemanden zurücklassen!“ Genau das aber geschieht nun. In den meisten der Länder ist die GIZ gut aufgestellt – in Sri Lanka beispielsweise seit 1956, in Nepal seit 1974. In Laos engagiert sich die GIZ mit zuletzt 243 Mitarbeitern schon seit 1993, berät die Regierung in der Frage der Landrechte, arbeitet mit Kleinunternehmen oder unterstützt die Mekong River Commission in Fragen des Wassermanagements. In Sri Lanka konzentriert sich die Zusammenarbeit auf die „Transformation“ nach dem Bürgerkrieg und das „Halten von Frieden“. Und in Nepal, wo ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze vegetiert und die Hälfte der Kinder unterernährt ist, reicht sie von Armutsbekämpfung über Gesundheitsvorsorge bis zu grüner Energie.
Einige Manager in den Reihen der GIZ beurteilen den Ausstieg kühl: „Nutzenorientiert“ sei das, heißt es bei ihnen. Zugleich würden die „Evidenz aus der Forschung und die Evaluierung“ der Projekte wichtiger. Letztlich plane das Ministerium auch, aus der Förderung im Gesundheitssektor auszusteigen, weil sich dort genügend andere Stiftungen – wie etwa diejenige von Bill und Melinda Gates – tummelten, heißt es. Ob sich dieser Ansatz in Corona-Zeiten durchsetzt, ist fraglich. Klar aber sei, dass das Ministerium eine „politischere Ausrichtung von Programmvorschlägen“ anordne.
Andere in den Reihen der GIZ weisen auf drohende Nachteile des Kursschwenks hin: Ein Rückzug aus einigen der genannten Länder berge strategische Risiken. Das Beispiel Australien illustriert sie: Canberra hatte seine eigene Entwicklungshilfe vor wenigen Jahren neu und rein zweckorientiert ausgerichtet. Das Ergebnis war rasch zu spüren. Vor allem China nutzte die Lücken, die Canberra hinterließ, um sich selbst tiefer in den zurückgelassenen Ländern zu verankern. Die Folge: Canberra korrigierte sich gerade in den strategisch wichtigen Ländern des Pazifiks, etwa in Papua-Neuguinea.
Mit der „Vision 2030“ will Müller auch neue Kategorien der Zusammenarbeit schaffen, um etwa beim Klimaschutz auch mit größeren Ländern wie Indien zusammenarbeiten zu können. Zudem will er stärker umfassendere Reformprogramme und Schwerpunktansätze unterstützen und dafür viele Einzelprojekte reduzieren. Zudem soll es künftig „Kernthemen“ und „Initiativthemen“ geben wie nachhaltige Lieferketten, eine umfassende Familienpolitik und die Nutzung der Digitalisierung.