Beitrag vom 18.04.2020
FAZ
Mut statt Opferstatus
Afrikanische Intellektuelle appellieren an ihre Staaten
Von Andreas Eckert
Obwohl derzeit die überwiegende Mehrzahl der an Covid-19 erkrankten Menschen in Europa, Nordamerika und Asien zu finden ist, sind sich zahlreiche Experten einig, dass die eigentliche Katastrophe in Afrika noch bevorsteht. Denn dort leben Millionen Menschen in Armut, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, und die Gesundheitssysteme sind vielerorts desolat. Die Weltgesundheitsorganisation erwartet, dass das Virus den afrikanischen Kontinent sehr viel härter treffen wird als etwa Europa. Und der oberste Corona-Erklärer der Bundesrepublik, Christian Drosten, prognostizierte vor einigen Wochen ebenfalls dramatische Entwicklungen: „Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Bilder man sehen wird. Wir werden noch erleben, dass die Leute daran auf den Straßen sterben in Afrika. Die Situation wird schlimm sein, sehr schlimm.“
Angesichts solcher Prophezeiungen mag es absurd erscheinen, die Corona-Krise als Chance für die afrikanischen Staaten zu sehen. Genau das tun jedoch gleich zwei aktuelle Petitionen afrikanischer Intellektueller. Der erste, von fünfzig ganz überwiegend frankophonen Persönlichkeiten, darunter die auch hierzulande bekannten Felwine Sarr und Achille Mbembe, gezeichnete Aufruf drückt die Hoffnung aus, der Kontinent könne aus der Krise gestärkt und vereint hervorgehen. Die potentiellen Verheerungen der Pandemie werden keineswegs geleugnet. Daher müsse Afrika „eine grundlegende, machtvolle und nachhaltige Antwort auf eine reale Bedrohung geben, die weder übertrieben noch kleingeredet, sondern rational angegangen werden sollte“. Die Unterzeichner warnen vor der Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und sehen mit Sorge, dass viele westliche Medien und Regierungen den überwunden geglaubten Afropessimismus reaktivierten.
Dagegen stellen sie eine Vision der Krise als historische Gelegenheit für Afrikaner, ihr über die ganze Welt verstreutes Potential zu mobilisieren. „Ein anderes Afrika ist möglich, ebenso eine andere Menschheit, in der Mitgefühl, Empathie, Gleichheit und Solidarität die Gesellschaft definieren.“ Neben diese sehr hehren Zukunftsbilder stellen die Autoren einen relativ konkreten Maßnahmenkatalog, der etwa auf die völlige Umgestaltung des Gesundheitswesens abzielt. Dafür brauchte es kurzfristig eine afrikanische Wirtschaftsunion, die diesen Namen auch verdient, die Ressourcen mobilisiert und koordiniert, um zu verhindern, dass die Gesundheitskrise mit einer massiven Wirtschaftskrise einhergeht. Auch medizinisches Wissen und Ausrüstung müsse kontinentweit zusammengeführt und geteilt werden. Zu den dringlichen strukturellen Aufgaben, vor denen Afrika stehe, gehörten der lokale Aufbau qualitätsvoller Gesundheitssysteme, die lokale Verarbeitung von Rohstoffen, um Wert und Arbeitsplätze zu schaffen, und eine Diversifizierung der Wirtschaft.
In eine ähnliche Kerbe schlägt eine zweite, vom nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka mitinitiierte Petition von nahezu neunzig Intellektuellen aus allen Teilen Afrikas und der Diaspora. Auch sie plädieren für die Revitalisierung panafrikanischer Praktiken bei der Bekämpfung der Pandemie. Gesundheit müsse endlich als ein wesentliches öffentliches Gut begriffen werden. Im Übrigen verfüge der Kontinent über ausreichend materielle und humane Ressourcen, um ein würdevolles Dasein aller dort lebenden Menschen zu ermöglichen. „Der Mangel an politischem Willen und die extraktiven Praktiken externer Akteure können nicht länger als Entschuldigung fürs Nichtstun gelten.“
Man mag darüber streiten, wie realitätsnah diese beiden Aufrufe sind. Ihnen kommt jedoch das Verdienst zu, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Afrika in der Corona-Krise weder als hilfloses Opfer gesehen wird noch sich als solches gerieren darf. Ob die angesprochenen afrikanischen Politiker diesen Ball aufnehmen, ist zumindest zweifelhaft. Wole Soyinka jedenfalls, der regelmäßig die nigerianische Regierung für ihre Corona-Politik kritisiert, musste sich vom Präsidenten Muhammadu Buhari bereits sagen lassen, Nigerianer sollten in diesen Tagen auf einschlägige Experten hören, nicht auf Literaten.