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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 10.08.2019

Westfalen-Blatt

Entwicklungs-Expertin Renate Bähr äußert sich nach Fall Tönnies zur Weltbevölkerung

»Druck, viele Kinder zu bekommen«

Bielefeld?(WB). In der Diskussion zur umstrittenen Rede von Clemens Tönnies beim Tag des Handwerks ging die Kritik des Unternehmers am Bevölkerungswachstum in Afrika fast unter.

Die Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung, Renate Bähr, erklärt im Interview mit Florian Weyand, welche Ursachen und Folgen der Bevölkerungsanstieg zwischen Sahara und Südafrika hat.

Clemens Tönnies hat sich einen verbalen Fehltritt gegenüber Afrikanern geleistet. Was halten Sie von der Rede des Unternehmers?

Renate Bähr: »Solche Aussagen sind nicht hilfreich, weil sie eine sachliche Debatte zum Thema Bevölkerungswachstum verhindern. Wesentlich zielführender als eine polemische Diskussion wäre es, wenn wir zu einer offenen und vorurteilsfreien Debatte zu diesem wichtigen Thema kämen.«

Es leben derzeit fast acht Milliarden Menschen auf der Erde. Wie sieht die Entwicklung konkret aus?

Bähr: »Wir haben weiterhin eine Bevölkerungszunahme von über 80 Millionen Menschen pro Jahr. Das entspricht in etwa der Bevölkerung Deutschlands. Der Schwerpunkt des Wachstums liegt in Afrika. Es ist zwar derzeit nicht der bevölkerungsreichste Kontinent, das ist aktuell Asien, wo 60 Prozent der Menschen leben. Aber wenn man sich das prozentuale Wachstum ansieht, dann ist die Steigerung in Afrika am Größten.«
Frage des Frauenbildes

Experten prognostizieren, dass sich die Bevölkerung Afrikas bis 2050 noch einmal verdoppeln wird. Wo liegen die Ursachen für diesen rasanten Anstieg?

Bähr: »Das Wachstum hat mehrere Gründe. Es hat sehr viel mit der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit zu tun. Zudem spielt das schlechte Gesundheitssystem eine Rolle. Dazu kommt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika nur langsam vorangeht.«

Wie wirkt sich ein rückständiges Frauenbild auf das Bevölkerungswachstum aus?

Bähr: »Befragungen zeigen, dass viele Frauen mehr Kinder bekommen als sie eigentlich möchten. Einige empfinden einen hohen Druck, viele Kinder zu bekommen, um vom Mann anerkannt zu werden. Diese Erwartung ist nicht zu unterschätzen.«

Welche Rolle spielt ein fehlendes Sozialsystem – zum Beispiel eine Rentenversicherung, wie wir sie in Deutschland kennen?

Bähr: »Es ist nicht genau erforscht, zu welchem Anteil der Aufbau eines Rentensystems zum Rückgang des Bevölkerungswachstums beiträgt. Sicherlich trägt eine Absicherung im Alter jedoch dazu bei, den Wunsch nach vielen Kindern zu verringern.«
Aufbau von Gesundheitssystemen

Welche negativen Folgen hat ein massives Bevölkerungswachstum für einen Kontinent wie Afrika?

Bähr: »Es erschwert soziale sowie wirtschaftliche Entwicklung. Eine junge Bevölkerung birgt zwar ein großes Entwicklungspotenzial. Doch die jungen Menschen müssen die Möglichkeit haben gesund, selbstbestimmt und gut ausgebildet aufzuwachsen – und dies bleibt ihnen oft verwehrt. Dies zu gewährleisten, ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die enorm teuer ist.«

Sie sind mit Ihrer Stiftung auch in Afrika vor Ort. Welche Projekte stoßen Sie an?

Bähr: »Wir arbeiten mit Jugendlichen zusammen und leisten Sexualaufklärung. Themen sind zum Beispiel, wie man sicher verhüten oder die Ansteckung mit HIV verhindern kann. Viele Jugendliche wissen gar nicht, an wen sie sich bei diesen Fragen wenden können. Wir arbeiten auch mit den Gesundheitsstationen vor Ort zusammen, um sie für diesen Bedarf zu sensibilisieren und ihnen eine Hilfestellung zu geben.«

Zurück zur Debatte über das Bevölkerungswachstum. Welche Unterstützung können Europa oder Deutschland konkret in der Sache leisten?

Bähr: »Wichtig ist zum einen die Unterstützung bei dem Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme, die Familienplanung ganz oben auf die Agenda setzen. Zum anderen müssen wir Bildung fördern. Das bedeutet aber nicht nur Ausbildung, sondern auch Aufklärung, damit junge Menschen wissen, wie sie eine Schwangerschaft verhüten können. Wenn über Geschlechterverhältnisse schon in der Schule diskutiert wird und die Rechte von Frauen gestärkt werden, sind auch dies wirksame Maßnahmen, die zu einer nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung beitragen.«