Beitrag vom 23.12.2018
FAS
Demographie
Auf die Frauen kommt es an
In Afrika haben Frauen viele Kinder. Das führt zu bitterer Armut. Dagegen hilft nur
Emanzipation.
Von Philip Plickert
Überall auf der Welt sind die Geburtenzahlen drastisch gesunken – nur nicht in Afrika. In den unterentwickeltesten Ländern, etwa in der Sahelzone, sind bis heute sechs oder sieben Kinder je Frau üblich. Das führt zu einem explosiv schnellen Wachstum der Einwohnerzahl. In Niger, einem der ärmsten Länder Afrikas, gebiert eine Frau durchschnittlich 7,2 Kinder – das ist derzeit afrikanischer Rekord.
Das karge Wüstenland, das 1950 nur von 2,5 Millionen Menschen bevölkert war, kommt heute schon auf 22 Millionen. Bis zum Jahr 2050 soll sich die Einwohnerzahl laut der mittleren UN-Bevölkerungsprognose auf fast 70 Millionen Einwohner verdreifachen. Und für 2100 steht in der UN-Prognose die phantastische Zahl von 192 Millionen Menschen in Niger, fast zehnmal so viele wie noch vor wenigen Jahren. Äthiopien soll von 105 Millionen auf 250 Millionen wachsen. Und Nigeria, trotz seines Ölreichtums ein armes Land mit aktuell 190 Millionen Einwohnern, wird zum Giganten: Bis Mitte des Jahrhunderts soll es auf 410 Millionen und bis 2100 gar auf fast 800 Millionen Menschen anwachsen. Das sind Zahlen, die einen schwindelig machen können.
Für ganz Afrika prognostizieren die Demographen der Vereinten Nationen bis 2050 eine Verdoppelung von heute 1,25 auf 2,5 Milliarden Menschen. Zum Vergleich: In Europa leben heute rund 500 Millionen Menschen. Für Ende des Jahrhunderts steht in der Prognose für Afrika die Zahl 4,5 Milliarden. Ein Bevölkerungswachstum in diesem Tempo gab es in der Menschheitsgeschichte noch nie.
Einige Wissenschaftler bezweifeln, dass die unterentwickelten Länder eine solche demographische Entwicklung ertragen können. Zumal ein Großteil der neugeborenen Menschen kaum wirtschaftlich-berufliche Perspektiven hat. Jedes Jahr fehlen 20Millionen Jobs in Afrika für die auf den Arbeitsmarkt Hinzukommenden. Die Landflucht führt zu einem wuchernden Wachstum von Megastädten wie Lagos und Kinshasa. Die Infrastruktur ist schon heute überlastet, die Städte drohen in Stau und Müll zu ersticken. Ein Bevölkerungswachstum auf vier Milliarden in Afrika halten daher einige Experten wie der Berliner Bevölkerungswissenschaftler Rainer Klingholz für keine realistische Prognose. Entweder gebe es eine katastrophale Entwicklung mit Krisen, Hungersnöten und Massenemigration, argumentieren sie, oder es gelinge eine Wende zum Besseren mit geringerem Bevölkerungswachstum. Doch bislang sinken die Geburtenraten in den meisten afrikanischen Ländern nur sehr langsam.
Die wirtschaftliche Unterentwicklung ist ein entscheidender Faktor. Denn in armen Ländern haben Frauen mehr Kinder als in reichen Ländern. Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung ist bisher überall auf der Welt mit sinkenden Kinderzahlen verbunden gewesen. Aber welche weiteren, auch kulturellen oder sozialen Faktoren spielen noch eine Rolle?
Schwache Frauenrechte und die in Teilen Afrikas verbreitete Vielweiberei (Polygynie) sind ein Teil der Antwort, wie mehrere Studien zeigen, an denen die Mannheimer Entwicklungsökonomin Michèle Tertilt, Matthias Doepke von der Northwestern University in Illinois und andere Forscher gearbeitet haben. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Tatsache, dass Männer in Afrika oft eine höhere Kinderzahl wünschen als Frauen. Im Tschad, einem sehr armen, trockenen Land südlich der Sahara, sehen Männer im Durchschnitt fast 13 Kinder als Idealzahl an, Frauen gut acht Kinder. Nigrische Männer finden 12 bis 13 Kinder ideal, nigrische Frauen neun, ergab die internationale Umfrage „Demographic and Health Survey“ (DHS). In den meisten Ländern wollen die Männer zwei bis drei Nachkommen mehr als die Frauen, an denen später die mühevolle Erziehungsarbeit hängenbleibt. Ein „Pater familias“ mit großer Kinderschar genießt hingegen hohes Sozialprestige, gilt als besonders potent.
Die Frage ist: Wer setzt sich durch? Hier muss man die Vielweiberei in Betracht ziehen. Die Forscher sehen klare Unterschiede zwischen Ländern wie Burkina Faso, in denen Polygynie stark verbreitet ist, und anderen wie Äthiopien, wo Polygynie eine Randerscheinung ist. In Burkina Faso wünschen und bekommen die Männer viel mehr Kinder (4,6 mehr) als die durchschnittliche Frau hat. Kann ein Mann es sich leisten, nimmt er sich eben weitere Ehefrauen als Gebärerinnen hinzu. Vielweiberei ist möglich, da üblicherweise ältere Männer jüngere Frauen heiraten und die Bevölkerung so stark wächst, dass dafür viele Mädchen zur Verfügung stehen. Laut DHS leben in Burkina Faso fast die Hälfte aller Frauen in Mehrfrauen-Ehen bei nur langsam abnehmender Tendenz. In Benin ist es mehr als jede Dritte, in Sambia und Zimbabwe etwa jede Siebte, in Äthiopien dagegen nur jede Zehnte. Die Polygynie erlaubt es den Männern, ihren Wunsch nach hoher Kinderzahl auszuleben.
Allerdings führt das zu einer schlechteren wirtschaftlichen Entwicklung. Denn es gibt eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Quantität der Nachkommenschaft und der Qualität ihrer Ausbildung. Ein Vater mit sehr vielen Kindern kann nur noch wenig in die Erziehung und die Schulbildung jedes einzelnen Sohnes oder jeder einzelnen Tochter investieren. Anders gesagt: Das Humankapital der Nachkommen ist gering.
Der Schlüssel für gebremste Geburtenzahlen in den afrikanischen Entwicklungsländern liegt nach Ansicht vieler Forscher deshalb in einer Stärkung der Rolle der Frauen. Mädchen gehen bis heute in vielen Regionen kaum oder nur kurz zur Schule; sie werden in sehr jungem Alter verheiratet und gebären oft schon mit 16 oder 17 Jahren ihr erstes Kind. Mehr Gleichberechtigung, mehr Schulbildung und allgemein Selbstbestimmung der Frauen würden die Situation ändern. Hätten die Frauen ein stärkeres Mitspracherecht, könnten sie durchsetzen, wie viele Kinder sie wollen. Die Folge wäre eine sinkende Geburtenrate.
In einigen Ländern gibt es Ansätze für ein sich wandelndes soziokulturelles Klima, das die Frauenrechte stärkt. Etwa in Ruanda, dessen Staatschef Paul Kagame die Bedeutung des Themas erkannt hat. Andere afrikanische Politiker und Potentaten schwärmen noch von sehr großen Familien. In Äthiopien ist in der Hauptstadtregion Addis Abeba, die sich wirtschaftlich kräftig entwickelt, in den vergangenen Jahren die durchschnittliche Kinderzahl jüngerer Frauen merklich gesunken. Das verlangsamt die Bevölkerungszunahme. Allerdings hat eine demographisch rasante Entwicklung einen sehr langen Bremsweg. Selbst bei einer sinkenden Geburtenrate steht Afrika eine drastische Bevölkerungszunahme bevor.
Matthias Doepke, Michèle Tertilt: Women‘s Empowerment, the Gender Gap in Desired Fertility, and Fertility Outcomes in Developing Countries, AEA Papers & Proceedings 2018
Erica Field et al.: Gender Gaps in Completed Fertility, Journal of Demographic Economics 2016