Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 14.12.2018

Wirtschaftswoche

Macht es doch selbst

In Deutschland sinkt die Zahl der Spender, obwohl sich damit
Steuern sparen lassen. Die Menschen verlieren das Vertrauen in
die Leistungsfähigkeit der Helfer. Die Welthungerhilfe will
deshalb Entwicklungszusammenarbeit zum Geschäft machen –
und droht dabei an sich selbst zu scheitern.

TEXT SIMON BOOK

A m Ende eines langen Tages, an dem er mal wieder versucht hat, Afrika zu retten, sitzt Peter Lüth auf der Terrasse des Golf-Hotels in Kenias Provinzhauptstadt Kakamega und bestellt ein Bier. Es ist ein lauer Abend, die Zikaden zirpen in den Bäumen, Malaria-Mücken schwirren um die Laternen. Aber Lüth krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch. Er wird die Viecher schon kommen hören. Und falls nicht, ist es eben so: Geschäftsrisiko. Lüth nimmt einen tiefen Schluck. „Ahh“, sagt er, „das war nötig.“

Peter Lüth ist kein Abenteurer. Er ist Unternehmer. 62 Jahre alt, hat in Wismar eine Firma für biologische Pflanzenschutzmittel aufgebaut, sie vor fünf Jahren für eine hübsche Summe an Bayer verkauft, sich einige Zeit als Geschäftsführer anstellen lassen – und steckt seither Zeit und Geld in das, was er „das einzig Richtige“ nennt: den radikalen Umbau der Entwicklungshilfe.

Für die Welthungerhilfe zieht Lüth in Kenia ein Unternehmen hoch, die Toothpick Company. Eines Tages soll sie Millionen afrikanischen Bauern, deren Maispflanzen vom Striga-Parasiten befallen sind, die Ernte retten. Dafür will Lüth die Landwirte davon überzeugen, schon bei der Aussaat einen Zahnstocher, bestäubt mit einem speziellen Pilz, mit in die Erde zu bringen. Er soll Striga daran hindern auszubrechen. Bis zu 70 Prozent höhere Erträge, glaubt Lüth, können die Bauern mit seiner Methode erzielen. Kosten: ein Dollar pro Feld. Bis 2022 braucht er 400 000 Kunden – das wäre der Break-even.

Jahrelang hat Peter Lüth Geld für Hilfsorganisationen in aller Welt gespendet. Wie Millionen Deutsche auch. Für Kinder in Not, bei Flutkatastrophen, Erdbeben. Vor allem für Afrika. Gebracht hat das nicht viel, glaubt er: zu hoch die Bürokratiekosten, zu intransparent die Verwendung, zu gering die Chance auf nachhaltigen Erfolg. Deshalb hat er die Sache nun selbst in die Hand genommen, der Welthungerhilfe einen sechsstelligen Betrag überwiesen mit der Bedingung, mit ihm ein „soziales Unternehmen“ aufzubauen, das den Afrikanern hilft – aber eben nicht umsonst, sondern mit Produkten zum Minimalkostenbetrag. „Ich glaube, dass das die einzige Möglichkeit ist für die Welthungerhilfe, aber auch für die Entwicklungshilfe allgemein“, sagt Lüth. Irgendwo für fünf Jahre Geld reinzustecken und am Ende komme nichts dabei heraus, „das ist falsch. Ich glaube fest daran, dass Marktwirtschaft die Probleme besser löst.“

Mit diesem Glauben ist Peter Lüth nicht allein. Auf der ganzen Welt stellen sich Spender
ähnliche Fragen. 150 Milliarden Euro gaben allein Privatleute weltweit im vergangenen
Jahr, vor allem für Entwicklungshilfe. Über die Hälfte der deutschen Privatspenden fließt in diesen Bereich, ein Großteil in den Wochen vor Weihnachten. Manch eine Hilfsorganisation holt in dieser Zeit ein Viertel
ihrer Einnahmen herein.

Doch das Business funktioniert immer schlechter. Die Zahlen des deutschen Spendenrates
alarmieren die Hilfsorganisationen. Demnach war die gespendete Summe 2017 hierzulande mit 5,2 Milliarden Euro zwar nur leicht rückläufig, die Zahl der Spender aber sank dramatisch. Spendeten 2005 noch rund 35 Millionen Deutsche, sind es heute weniger als 21 Millionen. Vor allem unter 30-Jährige flüchten geradezu aus der klassischen Hilfsarbeit, bringen nur noch etwa fünf Prozent des gesamten Volumens auf. Spender über 70 tragen mittlerweile den größten Posten.

Die Hilfsindustrie setzt das unter enormen Druck. Zumal auch die Regierungen ihre Etats zurückfahren. Auch wenn Deutschland seinen Hilfs-Haushalt munter weiter aufstockt:
Drum herum wird geknausert. In Dänemark etwa sank das Budget im vergangenen
Jahr auf den niedrigsten Stand seit 34 Jahren. Gab Frankreich 2011 noch 13 Milliarden
Dollar, sind es heute nur noch acht.

Mehr Entwicklungshilfe ist den Bürgern schlicht nicht mehr vermittelbar. Seit 1960 wurden unglaubliche 4000 Milliarden Dollar allein nach Afrika gepumpt. Dennoch leben 420 Millionen Menschen auf dem Kontinent noch immer in extremer Armut, können weniger als zwei Dollar am Tag ausgeben. Die Flüchtlingskrise verdeutlichte der Weltgemeinschaft einmal mehr ihr Scheitern. 100 Millionen Menschen, schätzt die Bundesregierung, wollen Afrika verlassen. „Die Lösung kann dann doch nicht sein, mehr zu geben. Wir müssen endlich hinterfragen, warum Entwicklungshilfe nichts nutzt“, sagt Kurt Gerhardt, Initiator des Bonner Aufrufs für eine andere Entwicklungspolitik. Afrika sei längst abhängig von der Hilfe, der Westen habe „jeden Eigenantrieb erstickt“.

Zwischen Mut und Verzweiflung

Die Welthungerhilfe hat sich deshalb auf einen hierzulande bislang einzigartigen Versuch
eingelassen. Statt das Geld der Spender ausschließlich in Projekte mit begrenzter Laufzeit zu stecken, gründet sie selbst Unternehmen. Firmen wie Toothpick, geführt von Einheimischen, die Produkte für den lokalen Markt herstellen. Die Deutschen stellen dann lediglich den Aufsichtsrat und das Startkapital. Wo Produkte einen Preis bekommen, so die Hoffnung, entstehen Märkte, Beziehungen zwischen Kunden, Lieferanten und Beschäftigten, bezahlte Jobs, Bildung. Und vor allem: neue, nachhaltige Einnahmequellen für die Welthungerhilfe. Weil die Geschäfte einen kleinen Gewinn abwerfen. Und weil die Geber nachvollziehen können, wo ihr Geld hingeht.

Am Ende geht es um das Spenden-Business der Zukunft. Und wer die Welthungerhilfe ein Jahr lang auf ihrem Weg dorthin begleitet, der lernt, wie schmal der Grat ist zwischen dem Mut zum Aufbruch – und der berechtigten Angst, alles zu verspielen.

„Ich bin ja ein Gewächs der Wirtschaft“, beginnt Till Wahnbaeck an einem tristen Januarmorgen im Berliner Büro der Welthungerhilfe. „Da hatte ich die Vorstellung, dass man die Instrumente des Kapitalismus einsetzen muss, um in der Entwicklungspolitik etwas Neues zu schaffen.“ Wahnbaeck ist Historiker, arbeitete früher mal bei Procter & Gamble, bevor er 2015 Vorstandschef der Welthungerhilfe wurde – und begann, die verschlafene Organisation umzubauen. Das Geschäft, sagt Wahnbaeck, stehe momentan auf zwei Säulen, den privaten Spenden, die etwa 20 Prozent der Erträge ausmachten, und den staatlichen Zuschüssen, die 195 Millionen Euro, also fast 75 Prozent beisteuerten. „Wir brauchen aber ein drittes Bein um einen stabilen Hocker zu haben.“

Bis zu einem Viertel könnten soziale Unternehmen wie die Toothpick Company eines Tages zu den Einnahmen beitragen. Das ist Wahnbaecks Vision. Neben dem klassischen Projektgeschäft, dem Brunnenbau etwa, wo das Geld am Ende „von 100 auf null“ sei, will er die Organisation verstärkt für Kooperationen mit Unternehmen öffnen, etwa beim Kaffee- oder Kakaoanbau. Auch als Investor will er auftreten, eine halbe Million Euro in Impact Investments stecken, also in Unternehmen, die einen sozialen Zweck aktiv verfolgen, Kooperativen etwa, die für Bauern die Ernte vermarkten. Irgendwann kann sich Wahnbaeck sogar einen Fonds mit negativer Rendite vorstellen, in den Anleger einzahlen, die nicht all ihr Geld zurückhaben wollen, aber Unternehmen dringend benötigtes Kapital stellen.

Vor allem steckt Wahnbaeck vier Millionen Euro in vier eigene Unternehmen, sogenannte „social businesses“. Für Wahnbaeck sind sie die „Blaupause“ für die Hilfe der Zukunft. „Wenn Toothpick Erfolg hat, rollen wir das Modell auf ganz Afrika aus“, sagt er.

Dafür greift Wahnbaeck tief in die Struktur der Organisation ein, schafft ein eigenes
Innovationsressort, plant eine Tochtergesellschaft, in der die wirtschaftlichen Aktivitäten
der Welthungerhilfe gebündelt werden, und will weniger soziale Helfer engagieren, dafür
mehr mit Unternehmenshintergrund. Menschen wie Samson Nduguti, der einen Abschluss in Landwirtschaft hat und einen in Entrepreneurship, der schon bei BASF arbeitete und für Technosat. Ein fröhlicher Kenianer, der nun die Geschäfte der Toothpick Company führt – und von sich selbst sagt: „Ich bin in erster Linie Geschäftsmann.“

Mit Mitarbeitern wie Nduguti schleift Wahnbaek das Selbstverständnis seiner Organisation.
Haben sich seine Leute bislang vor allem darum gekümmert, möglichst perfekte Projektanträge zu schreiben, um an öffentliche Gelder zu kommen, gilt jetzt frei nach dem Ökonomen Muhammad Yunus: „A charity dollar only has one life. A social business dollar lives endless.“ Profit soll also zum Indikator für den Erfolg der eigenen Arbeit werden, der Gewinn die strukturellen Kosten der Welthungerhilfe decken. Für viele altgediente Entwicklungshelfer klingt das unerhört. Für Wahnbaeck ist es unausweichlich: „Wir können von Unternehmen in unserem Handeln und Denken viel lernen.“

Zwischen Markt und Moral

Genau darum gehe es, sagt auch Katherine Milligan, Direktorin der Schwab-Stiftung für soziales Unternehmertum in Davos. Ein Bürgerkriegsflüchtling in Syrien oder ein Flutopfer auf Haiti brauche natürlich immer sofortige, unentgeltliche, bedingungslose Hilfe. Aber wenn ein Markt versage oder eine Regierung, wenn es um Umwelt- oder Sozialprobleme gehe, „können die Geschäftsprinzipien und der Marktmechanismus ein Hebel sein, um die Probleme der Armen und Schwachen zu lösen“.

Mitten im kenianischen Nirgendwo, zwischen zwei Meter hohen Maispflanzen und rostbrauner Einöde, steht der Mann, der das beweisen soll – und verzweifelt. Es ist Anfang Mai, Regenzeit. Und Biologe Lüth ist in diesem Jahr schon zum zweiten Mal im Land, um endlich erste Erfolge zu verzeichnen. Im Winter hat er seine afrikanischen Angestellten vier Testfelder anlegen lassen, alle ordentlich nebeneinander. Zwei mit, zwei ohne seinen biologischen Pflanzenschutz. Er hat seinem alten Arbeitgeber Bayer einen Bioreaktor abgeschwatzt und aus China eine Million Holz-Zahnstocher importiert. Lüth hat Bauern gesucht, die diese mit seinem Pilz bestäuben können, und Mitarbeiter, die in ihren Dörfern von der neuartigen Striga-Schutzmethode aus Deutschland berichten. Abends will er den Vertrag mit Geschäftsführer Nduguti unterschreiben. Es ist alles bereit. Doch Lüth ist sauer.

Vor ihm steht eine seiner Testerinnen, Winrose Oduor, 36, eine Farmerin, die elf Kinder zu ernähren hat mit ihrem Feld, das nicht mal einen Hektar misst. Die letzte Ernte ist durch Striga fast komplett ausgefallen. Frau Oduor kann ihre vier Söhne nun nicht mehr in die Oberschule schicken, weil dafür das Geld fehlt. Für Lüths Besuch hat sie sich eigens ihr gelbes Sonntagskleid angezogen, läuft ihm darin durch den einsetzenden Regen entgegen. „Wir hoffen sehr, dass die Deutschen die Lösung haben“, sagt sie. „Wir haben gegen Striga schon so viel versucht: gezaubert und gebetet, gedüngt und gespritzt. Sie sind unsere letzte Hoffnung.“

Lüth geht wortlos durch den Mais, bückt sich, sucht nach Fähnchen, Absperrbändern oder sonstigen Anzeichen, dass hier verschiedene Feldversuche nebeneinander laufen. Dann brummt er: „Das hier ist alles unbrauchbar. Unser Pilz ist überall, es gibt keine neutralen Kontrollfelder.“ So bekomme man nie die Zulassung der Behörden. „Die Leute müssen sich an die Verabredungen halten. Die Chancen stehen 50:50.“ Niemals zuvor hat sich eine deutsche Hilfsorganisation auf ein solches Abenteuer eingelassen, hat ihr anvertraute private Spenden und öffentliche Gelder genommen und begonnen, damit Roulette zu spielen. Für Unternehmer ist die Option des Scheiterns immer Teil der Überlegungen, für Start-ups gar Teil ihres Selbstverständnisses. Hilfsorganisationen aber scheitern nie. Ihre Projekte sind nur mehr oder weniger erfolgreich. Wird Entwicklungshilfe aber zu einem Geschäft, werden Erfolg und Misserfolg messbar. Das scheuen viele Organisationen.

„Wir wären doch schön blöd, wenn wir jetzt unser Geschäftsmodell ändern würden“, sagt ein hochrangiger Manager einer staatsnahen Hilfsorganisation, der normalerweise in der Businessklasse zwischen Frankfurt und Berlin pendelt und nur im ICE-Bordbistro sitzt, weil die Lufthansa streikt. „Unsere Kassen sind so voll wie nie zuvor. Unsere Projektanträge gehen reihenweise durch. Unsere Mitarbeiterzahl ist so hoch wie nie. Warum sollten wir das gefährden?“ Auch bei den konfessionellen Organisationen Misereor und Brot für die Welt sieht man den Kurs der Hungerhilfe skeptisch – obschon die Spenderbasis bei kirchlichen Helfern noch dramatischer schwindet.

Zwischen Spenden und Spendieren

Vor allem junge Menschen stimmen derweil mit ihrem Konto ab. Sozialisiert in einer globalisierten, transparenten, nachprüfbaren Welt, sind für sie „neue Formen des Spendens wichtiger“, urteilt der Deutsche Spendenrat in seinem jüngsten Bericht. Crowdfunding für soziale Projekte spiele eine größere Rolle. 60 Prozent derjenigen, die sich für diese Form der Spende entschieden, geben kein Geld mehr an klassische Hilfsorganisationen.

Die Wissenschaft unterscheidet grundsätzlich zwei Motive des Spendens: das Geben aus altruistischen und das aus egoistischen Motiven. Bei Letzterem geht es dem Spender um das, was Ökonomen „warmes Glühen“ nennen, die seelische Genugtuung durch eine milde Gabe. Auch Selbstschutz und Prestigedenken spielen hier eine Rolle. Beim altruistischen Spenden indes orientieren sich die Geber ausschließlich am Nutzen des Spendenempfängers. Vieles spricht dafür, dass junge Menschen vor allem aus solchen Motiven heraus spenden, allein schon, weil ihnen das nötige finanzielle Polster und der soziale Status fehlen, den sie mit einer Spende beschützen müssten. Das aber bedeutet auch, dass junge Spender viel fokussierter darauf sind, was ihre Spende bewirkt, wie das Geld eingesetzt wird.

Außerhalb Deutschlands ist deshalb seit Langem klar, wie sich Hilfsorganisationen aufstellen müssen. „Soziale Unternehmen sind viel attraktiver für Spender, gerade für die jungen Leute“, sagt Marilia Bezerra, die bei Care International den Bereich Enterprises leitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Mitarbeiter von Care, die die berühmten Pakete für die Westberliner Luftbrücke packten. Seit mehr als 70 Jahren kümmern sie sich um notleidende, hilfsbedürftige Menschen. Nur geschieht das eben immer öfter mit Marktwirtschaft.

800 Millionen Dollar beträgt das jährliche Care-Budget für die traditionelle Hilfsarbeit. Dieselbe Summe, sagt Bezerra, stecke heute „under management“, etwa in einem der über 430 Projekte, die unter dem Namen Seaf seit 1989 weltweit für Cares Entwicklungshilfe
aufgelegt wurden. Bezerras Logik ist simpel: Die Vereinten Nationen hätten vor einigen Jahren berechnet, dass es 1,5 Billionen Dollar im Jahr brauche, um Armut und Hunger auf der Welt zu besiegen. Die Entwicklungshilfe aller Staaten der Welt betrage jedoch nur etwa 300 Milliarden. „Die Lücke muss privates Geld schließen“, sagt Bezerra. Dafür aber müsse Entwicklungshilfe endlich Zinsen bringen.

Die EU hat inzwischen Programme aufgelegt, um gezielt soziale Unternehmen zu fördern. Auch Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) will Ressourcen umleiten. Der Förderung der Privatwirtschaft, heißt es aus seinem Haus, komme „eine wichtige Rolle zu“. Man habe deshalb „Ansätze zur spezifisc Förderung von Unternehmen“ entwickelt.

Was vage klingt, könnte der Anfang eines Strategieschwenks sein. Eine Wende, die sie am Stadtrand von Utrecht in den Niederlanden schon hinter sich haben. In einem unscheinbaren Backsteinbau residiert Icco, einst eine der größten Hilfsorganisationen des Landes. Früher waren allein hier 300 Mitarbeiter beschäftigt, heute sind es kaum mehr 40. Seit 2010 ist Iccos Budget implodiert: Von 140 Millionen Euro Staatsgeld im Jahr auf 70, heute sind es noch sieben.

Doch Icco geht es nicht schlechter. Im Gegenteil. Die Zahl der Mitarbeiter ist wieder so hoch wie vor der Krise, nur sind sie nun verteilt auf 20 Standorte weltweit, „immer dort, wo unsere Geldgeber sitzen“, sagt Marinus Verweij, der Direktor. Kümmerte sich Icco 2010 noch um alle möglichen Themen, sei das Geschäft heute klar zielgerichtet: 80 Prozent der Gelder gehen in die Landwirtschaft. Und zwar nur in Unternehmen, die eine Rendite erwirtschaften. „Aid and trade“ nennen sie ihren Ansatz bei Icco. „Wir müssen von Anfang an beweisen, dass unsere Firmen Geld verdienen“, sagt Verweij. Die Spender wollten eine Geschichte hören – „eine Erfolgsgeschichte“.

Bis zum Spätsommer dieses Jahres sieht man das auch bei der Welthungerhilfe so. Wahnbaecks Umbau kommt voran. Am 31. August dann eine dünne Pressemitteilung: Das Präsidium der Welthungerhilfe habe Mathias Mogge als neuen Vorstandsvorsitzenden zum 1. September gewählt. Wahnbaeck sei raus, „auf eigenen Wunsch“.

Tatsächlich hatte es wohl handfesten Streit gegeben um Wahnbaecks Ziel, auch mit sozialen Unternehmen wie der Toothpick Company „eine Welt ohne Hunger“ zu erreichen. Sein bisheriger Vize Mogge, der seit über 20 Jahren für die Organisation arbeitet, hielt das für unrealistisch – wie überhaupt den ganzen neuen „Social business“-Ansatz für Budenzauber. Am Ende hatte er dabei wohl nicht nur viele Mitarbeiter, sondern auch das Präsidium hinter sich.

Bekommt die Welthungerhilfe Angst vor der eigenen Courage? Innovation ist seither jedenfalls nur ein Thema unter vielen. Zwar besteht die Strategie bis 2020 weiter – doch statt die unternehmerischen Aktivitäten auszubauen und in eine eigene Gesellschaft zu überführen, sieht Mogge sie nur als Ergänzung: „ Meine Vision ist es, dass wir unsere bewährte Art der Entwicklungshilfe, die alte Welt, noch mehr mit der neuen Welt vernetzen“, sagt er. Klar sei: Kern-Expertise bleibe das „Projektgeschäft“.

Zwischen Glauben und Hoffen

Vielleicht ist ein radikaler Neuanfang ohne äußeren Druck wie in den Niederlanden auch einfach zu viel verlangt. Vielleicht läuft das business as usual einfach noch viel zu gut.
Vielleicht ist die Szene einfach noch nicht reif dafür. Seitdem die Welthungerhilfe 1962 gegründet wurde, hat sie mehr als 3,2 Milliarden Euro in 8900 Hilfsprojekten und 70 Ländern
investiert. Ihr Geschäftsmodell als Vertreterin der Armen und Entrechteten im Kampf
für eine bessere Welt funktioniert seit einem halben Jahrhundert. Bei der Welthungerhilfe
haben sie gesehen, wie Konzerne Afrika als Lieferant von billigen Rohstoffen ausbeuteten
– und so den Kontinent dahin brachten, wo er heute ist. In ihrer Welt sind Unternehmen
Teil des Problems – nicht der Lösung.

Ein solches Selbstverständnis abzulegen ist mehr als nur ein kleiner Wandel. Es ist ein Akt, der die Organisation an den Rand der Selbstverleugnung bringt: Auf dem Spiel stünden „unser Ruf, unsere Marke, unsere Effizienz, am Ende unsere Glaubwürdigkeit“, sagt Katharina Wertenbruch, die bei der Welthungerhilfe Großspender betreut. Natürlich sei das Interesse an den neuen Investments bei den Gebern groß. Aber man müsse als Organisation „auch bereit sein dafür“.

Am Ende eines langen Tages, an dem er mal wieder versucht hat, Afrika zu retten, sitzt Peter Lüth im Hotel-Restaurant Wismar an der Ostsee. Draußen pfeift ein kalter Wind, in zehn Tagen ist Weihnachten. Und die Zulassung für die Toothpick Company hat er noch immer nicht. Die Versuchsfelder sehen besser aus. Aber die Bürokratie – ein Jahr hat Lüth gebraucht, um ein Bankkonto für die Firma einzurichten. So schlimm habe er sich das nicht vorgestellt. „Wir wissen jetzt, dass unsere Methode funktioniert, wir wissen, dass das ein Geschäft werden kann“, sagt Lüth. Wenn die Zulassung zur nächsten Saison noch nicht da sei, werde man eben vorproduzieren. Spätestens im Herbst könne man die ersten 2000 Kunden beliefern. „Wir müssen Erfolg haben“, sagt Lüth, „nur dann gibt es mehr solcher Projekte, nur dann gibt es eine andere Entwicklungshilfe.“

Neue Ideen dafür hat Peter Lüth auch schon: eine kleine Bäckerei in Uganda, eine
Hühnerfarm in Tansania, eine Brauerei in Kenia. Die Businesspläne liegen bereits auf
seinem Tisch. Er wird weitermachen, ob mit Welthungerhilfe – oder ohne sie.