Beitrag vom 01.11.2018
General-Anzeiger Bonn
Das Dilemma der Entwicklungshilfe
Zwischen unerfüllbaren Ansprüchen und radikaler Kritik: In der Nord-Süd-Politik gibt es keine einfachen Antworten
VON LUTZ WARKALLA
Achille Mbembe nimmt kein Blatt vor den Mund. „Das ganze Konzept der Entwicklungshilfe ist falsch
und hat mit der Realität nichts zu tun“, sagte der Politikwissenschaftler aus Kamerun, der in Südafrika lehrt, kürzlich in einem Interview der katholischen Nachrichtenagentur KNA. „Man sollte
sie einstellen, zumal es mehr und mehr darum geht, diese Zahlungen an bestimmte Bedingungen zu
knüpfen. Das jüngste Beispiel sind jene Formen der Zusammenarbeit, die darauf abzielen, die Mobilität der Afrikaner einzuschränken, weil die Europäer von ihrer Antimigrationspolitik
besessen sind. Eine perverse Form von Politik, unter der die Afrikaner unglaublich leiden
und die sie schon allein deswegen zurückweisen sollten.“
Mbembe ist bei Weitem nicht der einzige, der mit der Entwicklungszusammenarbeit hadert, und er ist auch nicht der einzige Afrikaner. Schon seit Anfang des Jahrtausends predigt James Shikwati,
Wirtschaftswissenschaftler aus Kenia, es brauche „Handel statt Hilfe“, um die Armut zu überwinden. Tatsächlich gehören Zweifel an der Wirksamkeit von Entwicklungszusammenarbeit
von Anfang an ebenso dazu wie ihre maßlose Überschätzung. Auch in der aktuellen Migrationsdebatte überfordert die Politik die Entwicklungshilfe mit dem Anspruch, schnell
Fluchtursachen bekämpfen zu können.
Rund 146 Milliarden US-Dollar (127 Milliarden Euro) stellten die westlichen Geberländer 2017 laut
Angaben der OECD für die Entwicklungszusammenarbeit bereit. Der größte Teil der Mittel kommt
den afrikanischen Ländern südlich der Sahara zugute (2016: gut 45 Milliarden US-Dollar). Insgesamt waren es weltweit seit Beginn der Entwicklungshilfe vor rund 60 Jahren mehr als drei Billionen Dollar.
Verdammt viel Geld, ist man versucht zu sagen, doch wie sieht es tatsächlich mit der Wirksamkeit
aus? Die Zahlen scheinen eine klare Sprache zu sprechen. Entwicklung ist besser als ihr Ruf, bilanziert etwa Michael Bohnet, ehemaliger Ministerialdirektor im Entwicklungsministerium (BMZ): Die extreme Armut wurde um die Hälfte verringert, die Zahl der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, halbiert, 90 Prozent aller Kinder in Entwicklungsländern besuchen die Grundschule, die Zahl der Kinder- und Müttersterblichkeit wurde fast halbiert. „Es ist eigenartig, wie in einer Welt, in der „bad news sells“, diese Erfolgsgeschichte in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt bleibt“, so Bohnet.
Gegen diese Wissenslücke versucht auch der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Max Roser
(35) von der Universität Oxford anzugehen: „Die Welt ist gar nicht so schlecht, wie die meisten Menschen glauben“, sagt er. In seinem Onlineprojekt „Our World in Data“ (https://ourworldindata.org/ahistory-of-global-living-conditions-in-5-ch…) untermauert er
dies mit aussagekräftigen Grafiken.
Das Dilemma dabei ist: So schön diese Fortschritte, zu denen auch die Entwicklungszusammenarbeit
beigetragen hat, sind, sie finden nicht überall oder nicht überall in gleichem Maße statt: Die Welt ist einfach zu vielfältig, die Probleme je nach Land zu unterschiedlich,sodass sich Lösungen nicht beliebig reproduzieren lassen. So schreibt Bohnet etwa den Erfolg zahlreicher Schwellenländer von Korea über Malaysia bis zu Brasilien oder Chile, die früher Schwerpunktländer
deutscher Entwicklungszusammenarbeit waren, unter anderem der Initialzündung der Zusammenarbeit zu. Aber er verkennt auch nicht – und das ist die oft beschriebene Schattenseite der entwicklungspolitischen Bilanz –, dass vor allem in afrikanischen Ländern Erfolge oft ausbleiben. So ist der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen in Afrika südlich der Sahara zwischen 1990 und 2012 laut Weltbank nur von 57 Prozent auf 43 Prozent gesunken, in Südasien etwa fiel er von 59 (1981) auf 19 Prozent, in Ostasien sogar von 81 auf sieben Prozent.
Kein Wunder, dass sich Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit vor allem auf Kritik an der Zusammenarbeit mit Afrika fokussiert. Zugleich – und das ist das pikante an dem Sachverhalt – rückt mit dem Schwerpunkt „Fluchtursachenbekämpfung“ die Zusammenarbeit gerade mit Afrika in den Vordergrund. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) will mit seinem „Marshallplan mit Afrika“ nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft den Weg auf den Nachbarkontinent öffnen, damit sie mit ihren Investitionen neue Arbeitsplätze schaffen kann. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte sich im August mit einer Wirtschaftsdelegation im Schlepptau nach Westafrika auf, um ein Tauschgeschäft voranzubringen nach dem Motto: mehr Wirtschaftskooperation gegen bessere Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Migration nach Europa.
Kritiker der Entwicklungszusammenarbeit wie die Initiative „Bonner Aufruf“ fordern in einem Mitte September veröffentlichten „Bonner Memorandum“ kurz und bündig: „Entwicklungshilfe
für Afrika beenden – Afrika muss sich selbst entwickeln (wollen).“ Es müsse „Schluss sein mit unserem paternalistischen Verhalten gegenüber Afrika“. Tatsächlich fordert das Memorandum nicht wirklich ein Ende der Zusammenarbeit, sondern eine andere, vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die Gründe dafür finden sich in einer Pauschalkritik an den Afrikanern bzw. den afrikanischen
Eliten: Die bisherige Entwicklungshilfe mache keinen Sinn, weil
- einziges Ziel der herrschenden Gruppen die Selbstbereicherung sei,
- die Kapitalflucht höher sei als die Summe der Entwicklungshilfegelder,
- die afrikanischen Gesellschaften ignorierten, dass die starke Bevölkerungszunahme jede
Entwicklungsbemühung konterkariere,
- die bäuerliche Landwirtschaft nicht unterstützt und fruchtbares Ackerland an andere
Länder verpachtet werde,
- innerafrikanische Handelschancen ebenso wenig genutzt würden wie Möglichkeiten, sich
durch Zölle gegen Billigimporte zu schützen und
- Entwicklungshilfe als Mittel gegen Flucht und Migration instrumentalisiert werde.
Was man für sinnvoll erachtet, bleibt nebulös: Deutschland müsse seine politischen und ökonomischen Interessen eindeutig definieren einschließlich der Beachtung international vereinbarter Werte, Normen, Standards und der Menschenrechte. Deutschland müsse eine Strategie gegenüber Afrika entwickeln, die von der postkolonialen Rohstoffausbeutung zur Produktion von Industriegütern führe.
Afrika müsse „bereit sein“, seine Rohstoffe wie Gold oder Coltan selbst zu verarbeiten. Afrikanische Regierungen müssten freies Unternehmertum fördern statt behindern und deutsche Unternehmen sollten sich als faire Partner anbieten.
Auch wenn die Hinweise auf Fehlentwicklungen berechtigt sind, wirft das Memorandum doch
auch Fragen auf: Wo bleibt bei dieser Pauschalkritik an den Afrikanern der „Respekt vor der Leistungsfähigkeit der afrikanischen Gesellschaften“, der im Memorandum ausdrücklich gefordert wird?
Was ist mit der Vielfältigkeit Afrikas, das ja immerhin aus 54 Staaten besteht? Was ist mit der anderen Seite von Korruption und Kapitalflucht – also den westlichen Wirtschaftspartnern, die fleißig zahlen, den Banken, die reichen Präsidenten armer Staaten helfen, ihr Geld ins Ausland zu schaffen, der Unter- oder Überberechnung von Aus- oder Einfuhren von Gütern zur Erzeugung
von Fluchtkapital?
Keine Rede ist in dem Memorandum vom Klimawandel, dessen Folgen die meisten Staaten Afrikas
aus eigener Kraft nicht meistern können. Keine Rede von den fragilen Staaten wie Somalia, der Zentralafrikanischen Republik oder Südsudan, in denen Konflikte und Gewalt herrschen und die staatlichen Institutionen praktisch nicht mehr existieren. Laut dem Index der fragilen Staaten des Fund for Peace in Washington liegt mit gut 20 die Mehrzahl dieser Staaten in Afrika – zehn davon gelten als völlig zerfallen.
Für die Entwicklungszusammenarbeit ist das eine große Herausforderung: Schwache Staaten können zu Inkubatoren für neue Generationen von Terroristen werden. Diesen Ländern zu helfen, zu mehr Stabilität zu kommen, ist von zentralem Interesse auch für Deutschland. Ist staatliche Entwicklungszusammenarbeit wirklich obsolet, wie Kritiker – auch aus Afrika – suggerieren?
Tatsächlich steht vieles, was von Entwicklungshilfekritikern gefordert wird, auch auf der staatlichen Agenda. Das gerade veröffentlichte Strategiepapier „Entwicklungshilfe 2030“ des Entwicklungsministers fordert unter anderem den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Erhöhung der Eigenleistung: „Wir werden die Zahl unserer Partnerländer reduzieren und unsere Zusammenarbeit noch stärker konditionalisieren und auf Wirksamkeit hin überprüfen“, heißt es in dem Papier. „Ein wichtiger Bestandteil ist dabei der Aufbau eigener Finanz- und Steuerverwaltungen, von Rechnungshöfen und Institutionen zur Bekämpfung der Korruption.“
Die Frage ist häufig eher: Werden die hehren Ziele in der Praxis umgesetzt? Werden die Schwerpunkte richtig gesetzt – etwa mehr Unterstützung für die ärmsten Länder oder für Programme zur Bekämpfung des Bevölkerungswachstums? Ist es nicht kontraproduktiv, mit korrupten oder undemokratischen Regimen zu kungeln, um Fluchtbewegungen zu stoppen?
Bleibt die Frage, ob die Privatwirtschaft wirklich das Instrument ist, das bei der Entwicklung Afrikas Wunder bewirken kann. Niemand weiß, ob die neue Wirtschaftselite so viel besser ist als die alte Politikergarde, ob sich bei ihr nicht auch viele finden, die ebenfalls nur versuchen,
ihr Schäfchen ins Trockene statt das Land nach vorn und die Armen aus der Armut zu bringen.
Wunder sind in der Entwicklungszusammenarbeit schon zu oft verheißen worden – und regelmäßig
ausgeblieben.