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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 24.09.2018

weltneuvermessung.wordpress.com/

Transnationale Akteure und Normbildungsnetzwerke und Zivilisierung der Weltordnung

Cord Jakobeit, Robert Kappel und Ulrich Mückenberger

Dringend zu wünschen – in unserer unfriedlichen, von militärischen Konflikten, ökonomischer Krise, ökologischen Gefährdungen, Arbeitsplatzbedrohung, persönlicher Aggressivität und zunehmendem Populismus bedrohten Welt – ist eine Zivilisierung der Weltordnung. Zur Zivilisierung der Weltordnung[1] tragen die verstärkte Einbeziehung einer „transnationalen Öffentlichkeit“, die entsprechende Verbesserung „transnationaler Kommunikation“ in bzw. für konkrete Probleme und Herausforderungen des „Regierens jenseits des Nationalstaats“ (Zürn 2005) sowie die Emergenz „transnationalen Rechts“ (Calliess 2014) bei. Wir sehen Anzeichen für eine Erreichbarkeit dieses Ziels.

Nicht zu tragen scheint die seit der Finanzmarktkrise und dem „Brexit“ wieder verstärkt aufkommende Hoffnung auf die Lösung einiger Probleme der Globalisierung durch Nationalstaaten, denn diesen Nationalstaaten hat längst die ökonomische Globalisierung das Gesetz des autonomen Handelns entzogen. Zu verzeichnen ist nur ein Zuwachs grenzüberschreitender Macht von Funktionseliten der nationalen Exekutiven, der schwerwiegende demokratische Legitimationsschwächen aufweist. Eine Zivilisierung der Weltordnung scheint gleichwohl möglich – und zwar unterstützt durch global agierende nichtstaatliche Netzwerke und ihre Einflüsse auf universelle Regelbildung. Grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Akteure und Netzwerke, die sich gegenüber Staaten und internationalen Organisationen (IO), aber auch der Politik von weltumspannenden Unternehmen für soziale, ökologische, marktbildende Standards einsetzen, gewinnen an Boden und Stimme.

Die vernetzte Welt und der Nationalstaat

Der Staat wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend „entstaatlicht“. „Der Glaube, der Markt würde das schon regeln, wuchs zum fundamentalistischen Irrglauben aus. Eine neue Version des Nachtwächterstaats machte sich breit“ (Dahrendorf 2009). Die Staatsquote wurde gesenkt, Staatsbetriebe wurden privatisiert, der Staat griff deutlich weniger regulierend in das Marktgeschehen ein. Und der Staat wurde zunehmend „denationalisiert“. Zahlreiche Aufgaben hat der Staat an internationale bzw. supranationale Organisationen abgetreten – wie die NATO, die EU oder die WTO. Diese nehmen heute eine stärker steuernde Rolle ein als je zuvor, auch wenn EU und WTO unverkennbar in der Krise sind. Der in seiner Autonomie eingeschränkte Nationalstaat ist auch das Resultat der neuen Dynamik der Globalisierung, in der die Nationalstaaten wegen transnationaler Verkettungen nur noch ein Akteur unter vielen sind.

Die Akteure der Globalisierung, insbesondere die transnationalen Unternehmen, vernetzen die Welt. Dies hat den US-amerikanischen Journalisten und Publizisten Thomas Friedman (2006) zu der Metapher verleitet: „Die Welt ist flach“. Diesem – nicht ganz neuen – Gedanken, lässt sich viel abgewinnen: Die Transport-, Logistik- und Transaktionskosten haben sich verringert, das Welthandelsvolumen nimmt trotz der deutlichen Abflachung seit 2012 noch knapp stärker zu als das Weltbruttosozialprodukt und wirtschaftliche Verflechtungen haben durch ausländische Direktinvestitionen und Kredite, durch Notierung inländischer Konzerne an ausländischen Börsen, durch ausländische Beratungs- und Buchprüfungsfirmen, durch global agierende digitale Dienstleistungs- und Informationsunternehmen sowie durch ausländische Ratingagenturen massiv zugenommen. Diese weltweite Interaktion mache – so nennt Friedman es – die Welt flacher. Transnational agierende Unternehmen vernetzen Produktionen, gestalten Transportketten und Bankentransaktionen. Zahlreiche konkrete Beispiele für den „flachen“ Globus lassen sich anführen, wie etwa der Kaffee- und Blumenhandel, die Automobil- und Chipindustrie, der Bankensektor, der Seetransport, der Flugverkehr und alle Bereiche der industriellen Produktion. Große Konzerne dominieren die weltweiten Handels- und Wertschöpfungsketten. Selbst kleinere Betriebe, soweit es sich um wettbewerbsstarke Spezialbetriebe (die hidden champions) handelt, sind in globale Wertschöpfungsketten (global value chains) eingebunden. Dieser grundlegende und sehr schnell vor sich gehende Prozess hat zu einer Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse und Strukturen geführt, die sich nicht mehr umkehren lässt. Weltweit agierende Unternehmen etablieren in Kooperation mit supranationalen Einrichtungen, den Nationalstaaten und Nicht-Regierungsorganisationen Netzwerke über den gesamten Globus. Diese Netzwerke schaffen und gestalten global wirkende Normen und Standards, zum Beispiel technische und geschäftliche Normen, Umwelt-, Arbeits-, Menschenrechts- und Qualitätsstandards.

Unternehmen und Wirtschaftsverbände steuern ihre Aktionen in enger Abstimmung, sie bahnen Kontakte an und schließen Kontrakte, betreiben professionalisierte Lobbyarbeit und suchen die Nähe von exekutiven Funktionseliten, sie legen Normen fest und sie vereinbaren Lieferbeziehungen. Im Falle von Streitigkeiten schlichten Handelskammern und Unternehmen auf der Basis von Standardverträgen selbst. Unternehmen, Lobbygruppen, transnationale Aktivistennetzwerke („advocacy networks“), Beraterfirmen und Menschenrechts-, Umwelt- und Konsumgruppen sowie Unternehmen greifen interagierend in die Normbildung von Wertschöpfungsketten ein, handeln öffentlichkeitswirksam und nehmen durch harte Lobbyarbeit einen direkten Einfluss auf die Gestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Oft sind die Regierungen der Einzelstaaten nur am Rande an solchen Aushandlungsprozessen beteiligt. Die Regierungen kümmern sich meist um die Rahmenbedingungen und um Gesetze, aber die Interaktionen von transnationalen Akteuren und die Ausgestaltung der Beziehungen in der Wertschöpfungskette vollziehen sich weitgehend neben und außerhalb staatlicher Strukturen.

Die staatlichen Handlungsspielräume werden aber auch durch illegale Netzwerke wie mafiöse Gruppen und Kriminellennetzwerke herausgefordert. Neu ist daran nicht die grenzüberschreitende Kriminalität, die es schon sehr lange gegeben hat. Neu ist dagegen, dass sich diese illegalen Netzwerke die Vorteile der Globalisierung zu Nutze machen und umfassende, z.T. transkontinentale und globale, illegale ökonomische Strukturen aufgebaut haben, mit deren Hilfe sie sich der Kontrolle von Nationalstaaten widersetzen und z. T. erfolgreich entziehen.

Bedrohung der Demokratie durch einen gouvernementalen Internationalismus

Unsere These lautet nicht, die Globalisierung schwäche die Macht der Staaten. Was sie schwächt, ist deren Autonomie in der Machtausübung. Zugleich verschiebt sie – gerade wo sie zu einer Stärkung der Staatsgewalt beiträgt – die Machtgewichte innerhalb der staatlichen und verfassungsmäßigen Ordnungen – und zwar offenbar zugunsten der demokratisch nicht unmittelbar legitimierten Exekutiv- und Finanzeliten. Diesen ermöglicht die Globalisierung, sich weitgehend der demokratischen „Fesseln“ zu entledigen, die ihnen die nationale demokratische Staatsordnung auferlegt hatte.

Wir haben darauf hingewiesen, wie Akteure aus verschiedenen institutionellen Bereichen und aus verschiedenen Ländern sich vernetzen und Normen setzen. In der Diskussion über Global Governance werden diese neuen Entwicklungen weitgehend ausgeblendet und stattdessen betont, dass in der globalen Welt inter- und supranationale Einrichtungen – wie die WTO, die UNO oder die Europäische Union – globale Prozesse am besten steuern könnten. Dabei wird übersehen, dass diese Supra-Organisationen demokratische Errungenschaften bedrohen: Der Mangel oder auch die Aushöhlung demokratischer Legitimität auf den Entscheidungsebenen dieser inter- und supranationalen Einrichtungen (wie der EU oder WTO) besteht darin, dass die Staatsbürger von effektiver Mitbestimmung abgekoppelt sind. Statt ihrer agieren die Exekutiven, die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich in Richtung Liberalisierung und Privatisierung bewegt haben.

Auf weltweiter Ebene (etwa den Ebenen von WTO, Weltbank und Internationalem Währungsfonds) wird das Problem noch deutlicher. Einerseits sind es auch hier die parlamentarisch oder zivilgesellschaftlich kaum kontrollierten Exekutiven, die kooperieren, Standards setzen und oft irreversible Entscheidungen fällen. Aber könnte nicht die mangelnde Legitimität des Verfahrens gegebenenfalls durch gute, schnelle und wirksame Entscheidungen kompensiert werden und ihnen das verleihen, was Fritz Scharpf in diesem Zusammenhang „Output“-Legitimation genannt hat? Tatsächlich fehlt jedoch diesen Entscheidungen oftmals auch jegliche Effektivität, sodass auch die Output-Legitimität den Mangel an Input-Legitimität nicht auszugleichen vermag. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise würde nun eine solche europäische und internationale Kooperation der Nationalstaaten notwendig machen. Faktisch jedoch findet diese kaum statt bzw. erschöpft sich angesichts der Rekonstituierung nationaler Interessen in der symbolischen Politik von aufgewerteten intergouvernementalen Institutionen wie der G-20. Damit sind auch die Handlungsmöglichkeiten der supranationalen EU in Kooperation mit den Nationalstaaten eingeschränkt.

Vor der Krise war ein gouvernementaler Internationalismus zu verzeichnen, der das Interesse der Regierungen an Globalisierung, Privatisierung und Deregulierung signalisierte. Jetzt, nach dem Abklingen des Schockzustands, gewinnen wieder die nationalen Reflexe und Rhetoriken die Oberhand, zumal mit der neuen Herausforderung des „Brexit“. Hier könnte sich zeigen, dass Illusionen von Gestaltungsmöglichkeiten geweckt werden, die sich kaum werden umsetzen lassen. Denn zahlreiche Politikfelder sind durch das Agieren von internationalen Regierungsorganisationen bereits verbindlich festgeschrieben worden, wie zum Beispiel im Rahmen der WTO. Auch hier haben wir es mit nicht demokratisch legitimierten Entscheidungs- und Normbildungsprozessen zu tun: Es agieren transgouvernemental vernetzte nationale Exekutiven, sie betreiben eine selbstreferentielle Politik und entziehen sich weitgehend demokratischer Kontrolle. Regeln werden jenseits direkter parlamentarischer Überprüfung und Legitimierung und unter weitgehender Ausklammerung transnational agierender zivilgesellschaftlicher Akteure festgelegt. Die Öffentlichkeit hat diese Prozesse im Zusammenhang mit den Verhandlungen über TTIP und CETA, den beiden „Mega-Regionals“ mit europäischer Beteiligung, verstärkt wahrgenommen.

Ein wesentliches Problem solcher supra- und internationaler Entscheidungen ist darin zu sehen, dass die Regeln und Entscheidungen zwar zentral formuliert sind, ihre Umsetzung aber notgedrungen an die Nationalstaaten delegiert ist, wo sie demokratische Legitimität nicht direkt, sondern allenfalls mittelbar erlangt haben. Die Folge sind sowohl Legitimitäts- als auch Effektivitätsdefizite. Staatengemeinschaften aus rund 200 Nationalstaaten und ohne weitreichende supra- und internationale Regelungs- und Durchsetzungsinstanzen können Entscheidungen in der Regel nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner fällen. Weder sind diese Entscheidungen demokratisch legitimiert noch können sie auf der Handlungsebene der internationalen Organisationen wirksam umgesetzt werden. Oft bleibt es besonders interessierten Staaten und transnationalen zivilgesellschaftlichen Akteuren überlassen, diese Beschlüsse zu verbessern und ihre Wirkung zu kontrollieren und zu überwachen. Beispiele dafür gibt es u. a. im Bereich der Menschenrechte oder auch in der Umweltpolitik. In der Menschenrechtspolitik erweisen sich u.a. Amnesty International und Human Rights Watch als Antreiber und Kontrolleure staatlichen Handelns. Und in der internationalen Umweltpolitik bei der Verbesserung und Überwachung bestehender Abkommen zum Schutz einzelner Arten haben sich Nichtregierungsorganisationen wie der World Wide Fund For Nature (WWF) oder Conservation International einen Namen gemacht. Nun mag man einwenden, dass es sich hier um randständige Themen und Politikfelder handele. Aber die Beispiele zeigen, dass die transgouvernemental vernetzten nationalen Exekutiven nicht überall agieren können, wie sie wollen.

Zivilgesellschaftlich eingebundene Normbildung auf Weltebene

Zwei Kernprobleme weisen die beschriebenen, von der Globalisierung geprägten Verflechtungs- und Normbildungsprozesse auf, in denen die nationalen Exekutiven vielfach dominieren. Sie werden von den betroffenen Bürgern nicht mehr als auf ihren Willen und ihre Stimme zurückführbar wahrgenommen – ihre demokratische Verankerung ist nur noch schwach. Und sie bleiben hinsichtlich ihrer Reichweite und praktischen Durchsetzung hinter den Erwartungen zurück – ihnen fehlt also die Output-Legitimität. Diese beiden Probleme müssen im Vordergrund stehen, wenn man sich – wie wir im Folgenden versuchen – eine alternative Vorstellung von einer demokratischeren Weltordnung im Zeitalter der Globalisierung machen will. Wenn wir uns dabei auf den demokratisierenden Beitrag transnationaler Netzwerke beziehen, so ist damit weder gemeint, dass diese sozusagen „im Alleingang“ (also ohne Staaten oder internationale Organisationen) Demokratie herstellen könnten, noch, dass diese nicht selbst noch demokratiegefährdend sein könnten. Wir betrachten diese Netzwerke vielmehr als Foren für transnationale Öffentlichkeit, Kraftquelle und Ideenproduzenten, die heute Themen und Inhalte von Normbildung auf die grenzüberschreitende Agenda setzen können, zu denen die traditionellen Akteure internationaler Beziehungen aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind. Dabei betrachten wir ihren Beitrag zu einer Demokratisierung der Weltordnung u. a. in Abhängigkeit von jeweiliger Zielsetzung und innerer Struktur dieser Netzwerke, von ihrer Verknüpfung mit demokratisch legitimierten internationalen staatlichen Instanzen etc.

Um die vor einigen Jahren geführte Staats- und Verstaatlichungskritik und die Diskurse für eine Weltzivilgesellschaft und Perspektiven diskursiver Weltvergesellschaftung ist es still geworden. Es hat auch ein Schwenk stattgefunden, bei dem die Gegenpositionen im Sinne einer Rückkehr des Staates laut geworden sind. Und nur schwach vernehmen wir den Ruf nach transnationalem Kosmopolitismus oder nach einem globalen Gesellschaftsvertrag. Zwar wird es nie einen Welt“demos“ geben, und somit auch keinen demokratisch legitimierten Weltstaat. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass es nicht – auch ohne Weltdemos und Weltstaat – eine auf demokratischere Weise zivilisierte Weltordnung als die gegenwärtige geben kann. Wir postulieren dazu zwei unabdingbare Ansprüche: eine demokratisch zivilisiertere Weltordnung erfordert, dass auf globaler Ebene getroffene Entscheidungen und Regeln über Berechtigungen und Verpflichtungen stärker als bisher mit dem Willen und der Stimme derer verknüpft werden, die von diesen Berechtigungen und Verpflichtungen betroffen werden. Dafür ist es erstens nötig eine Bewertung, Ermutigung und Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Netzwerken, die sich auf transnationaler Ebene um universelle Regeln über Berechtigungen und Verpflichtungen und deren Durchsetzung bemühen, zu fördern und zweitens die Verbindung solcher nichtstaatlicher Normbildungsnetzwerke mit nationalen und internationalen staatlichen Instanzen zu unterstützen, die demokratisch legitimiert sind (etwa den Parlamenten).

Von einem Weltdemos zu sprechen, wäre angesichts der Vielfalt und Diversität der „demoi“ der Welt verfehlt. Eher schon kann man von Weltzivilgesellschaften sprechen – allerdings auch nur im Plural, weil sie sich an unterschiedlichen Gegenständen in unterschiedlicher Zusammensetzung bilden und bemerkbar machen. In der sich abzeichnenden Weltordnung bildet sich so auf globaler Ebene das Prinzip der Subsidiarität neu ab. Die hier ins Auge gefassten Weltzivilgesellschaften weisen in der Regel grenz-, sprach- und kulturüberschreitenden Charakter auf und sind daher von ihrer Zusammensetzung her oft „Hybridbildungen“ – bestehen also nicht nur aus Zivilpersonen, sondern auch aus Staatsvertretern, Parlamentariern, Wirtschaftsrepräsentanten usw.. Das macht sie geeignet zu Brückenschlägen im weltweiten governance-Dreieck von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Daher sind diese Weltzivilgesellschaften eine Art Keimzelle der demokratischen Zivilisierung der Weltordnung.

Es sind die zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bewegungen – neuartige zivile und soziale Dialoge -, die in unserem Sinne ihre Stimme (voice) für weltweite Normen in einer Vielfalt von Themen und Akteurskonstellationen erheben. Dabei geht es etwa um Frauenrechte, Menschenrechte allgemein, Kernarbeitsnormen für arbeitende Menschen sowie um Sozial- und Umweltstandards. Andere Netze bilden sich um die Setzung von Regeln fairer ökonomischer Marktbeziehungen und Qualitätsstandards, bemühen sich um Regeln für eine ökologisch nachhaltige Arbeits- und Lebensweise oder um aktive Friedenspolitik durch eine effektivere Rüstungskontrolle. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen, dass sie die klassische internationale Politik (governance by governments) für nicht geeignet halten, globale Probleme zu lösen. Auch schätzen sie die supra- und internationale Struktur als ineffizient, nicht ausreichend oder gar als autokratieverdächtig ein. Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bewegungen nehmen entweder die Regelbildung selber in die Hand und arbeiten nach diesen selbst geschaffenen Normen (governance without governments) oder sie drängen internationale politische und wirtschaftliche Akteure dazu, solche Regeln zu setzen und auch praktisch durchzusetzen (governance with governments). Beispiel für die governance without governments finden sich vor allem im Bereich der Etablierung zertifizierter Sozial- und Umweltstandards mit Organisationen wie RugMark zur Bekämpfung von Kinderarbeit in der Teppichherstellung oder mit der Vergabe von Siegeln (Fair-Trade) für Produkte aus Entwicklungsländern. Initiativen dieser Art haben in den letzten beiden Jahrzehnten geradezu einen Boom erlebt. Weitere Beispiele thematisieren wirtschaftliche, soziale und politische Konstellationen, in denen es um Regelbildung bei globalen Unternehmensaktivitäten, um die Bildung transnationaler Sozialstandards und um Frieden und Rüstungskontrolle sowie den Kampf gegen weltweite Korruption geht.

Die folgenden drei Beispiele zeigen zunächst verschiedene Formen von Standards und Normen, die an transnational agierende Unternehmen gerichtet sind: Statt völlig ungeregelten Agierens von Unternehmen im globalen Raum zeichnen sich in diesen Fällen Einflüsse gesellschaftlicher Gruppen und faktisch wirksame Verpflichtungen ab. Die Standards und Normen wurden oft durch aktive Intervention von Konsumentenorganisationen, von Menschenrechtsgruppen und Umweltschützern verändert, indem öffentlicher Druck ausgeübt wurde und damit die global player zu Konzessionen genötigt wurden. Vielfach wehrten die großen Unternehmen diese Aktionen jedoch ab, wichen ihnen aus und etablierten reine Business Standards, die keine Transparenz mehr aufwiesen.

Ein Beispiel für sektorspezifische codices und labels, die vor allem von Unternehmensverbänden (enterprise associations), Kammern, transnationalen Unternehmen und deren Zulieferern vereinbart wurden, ist das Eco-Tex Label. Es wurde 1991 von einer Vereinigung von 130 Textilunternehmen gegründet und enthielt die Selbstverpflichtung, Textilien ohne Formaldehyde und Pestizide zu produzieren.

Ein weiteres Beispiel sind die codes of conduct mit Selbstverpflichtung von Unternehmen und deren Zulieferern, die Implementierung der Standards – die Qualität, Lieferpünktlichkeit und auch Arbeitsstandards betreffen – eigenständig zu verfolgen . Die Definition der Standards ist relativ einfach, und die Legitimation des Verfahrens bleibt schwach. Am weitesten verbreitet sind diese codes of conduct in den USA, allein 85 der einhundert größten Unternehmen haben solche rein unternehmensbezogene codes aufgestellt. Vor allem in Sektoren mit extensiver globaler Arbeitsteilung (Kleidung, Nahrungsmittel, Spielzeug und Sportbekleidung) haben Handelskonzerne (wie die Kaufhausketten Karstadt und Sainsbury) und Markenfirmen (wie Nike, Adidas, Reebok, Levi-Strauss, Zara) mit ihren weltweit verstreuten Unterauftragnehmern solche Standards vereinbart. Diese Verhaltenskodices sind durch rein unternehmensinterne Aushandlungsprozesse zustande gekommen. Allerdings haben Aktionen von Konsumentengruppen mit ethischen Maßstäben beim Kauf von Produkten dazu beigetragen, dass alle Verstöße gegen die eigenen Codes das Vertrauen in solche Business Codices unterminiert haben.

Ein drittes Beispiel zeigt, wie auf der einen Seite zivilgesellschaftliche Gruppen (NGOs), religiös-motivierte Vereinigungen, Solidaritätsnetzwerke und Minoritätengruppen, auf der anderen Seite mächtige Kaufhäuser und Einkaufsgesellschaften gemeinsame Arrangements gestaltet haben. Die Einigung auf codices und labels wird auch von Staaten und supranationalen Einrichtungen unterstützt. Ein herausragendes Beispiel ist der vom WWF im Kampf gegen die Vernichtung des tropischen Regenwaldes etablierte Forestry Stewardship Council (FSC). Seit seiner Gründung im Jahr 1993 hat der FSC deutlich an Einfluss – vor allem in Europa – gewonnen. Eine große Zahl von Unternehmen hat die Standards verbindlich akzeptiert und nutzt das Siegel des FSC als Werbemittel, um umwelt- und sozialverträgliche geschlagenes Holz zu verkaufen. Es handelt sich um ein von einer Nichtregierungsorganisation initiiertes Konzept, das inzwischen von einem Netzwerk aus zivilgesellschaftlichen Gruppen und Unternehmen weiter entwickelt und zertifiziert wird. Das Monitoring wird von dritter Seite durch Zertifikationsgesellschaften und/oder NGOs wahrgenommen. Die Festlegung von Standards und Normen ist schwierig und erfordert regelmäßige Verhandlungen, damit die Legitimität erhalten bleibt. Immerhin deuten sich ein neuartiger vielseitiger Beteiligungsprozess und darauf zurückgehende wirksame Regelungen an – worin der von uns gesuchte Nexus von Stimme und Berechtigung zum Ausdruck kommt.

Die bisher beschriebenen transnationalen Normbildungen liegen auf wirtschaftlichem Gebiet und betreffen nachhaltige Markt- und Qualitätsstandards. Übergänge zu Sozial- und Infrastrukturstandards sind fließend, was vor Allem mit zwei Tendenzen zusammen hängt: Globale Wertschöpfungsketten sind mit bestimmten Qualitätsstandards verbunden, die ihrerseits bestimmte Qualifikations- und Sozialstandards in den wenig entwickelten Ländern nach sich ziehen (upgrading-Prozesse. Hier arbeiten transnational agierende Akteurskonstellationen in netzwerk- oder hybridförmiger Gestalt an der Formulierung und Durchsetzung zivilisierender sozialer Normen. Wenn führende Unternehmen (lead firms)[2] von Wertschöpfungsketten Qualitätsnormen erzielen wollen, müssen sie das Qualifikationsniveau in den vorgelagerten Produktionsstufen erhöhen und zur Verbesserung der Infrastruktur (Schule, berufliche Bildung) beitragen. Dass damit die Aussicht auf Durchsetzung ökologischer und sozialer Fortschritte verbunden ist, haben wir angedeutet.

Hier spielt das Wirken transnationaler Akteure eine Rolle, die sich die Bildung sozialer Standards explizit zum Ziel gesetzt haben. Der älteste dieser Akteure ist die International Labour Organisation (ILO), die seit über 90 Jahren in hybrider Komposition (hälftig Regierungs-, hälftig Sozialpartner-Vertreter) Übereinkommen und Empfehlungen verabschiedet. 1998 erklärte die ILO vier Kernbereiche bisher verabschiedeter Übereinkommen zu sog. „Kernarbeitsnormen“, die unabhängig von nationalen Ratifikationsakten in allen Mitgliedsstaaten gelten sollen. Ohne Ratifikation erlangen diese Kernarbeitsnormen rechtliche Geltung allerdings auch erst auf hybride Weise, indem sie in anderen Regelwerken Aufnahme finden, die rechtliche Garantien sowie Sanktionen aufweisen, nämlich in verbindlichen Regelungen in Wertschöpfungsketten, in den codes of conduct von Weltkonzernen, im Verhaltenscodex des Global Compact der Vereinten Nationen, in den International Framework Agreements (IFA) zwischen weltweit agierenden Firmen und Gewerkschaften oder in den globalen Abkommen europäischer Betriebsräte. Solche Regelungen finden sich im Übrigen weniger selten, als man meinen könnte.

Der ILO hat sich ein großer Kreis neuformierter netzartig verbundener Akteure zur Erzielung und Durchsetzung globaler Sozialstandards beigesellt. Tripartite Social Minimum Standards (TSMS) werden von Gewerkschaften, NGOs, transnationalen Unternehmen (global buyers and producers) sowie von der ILO und Regierungen vereinbart. Zivilgesellschaftliche Organisationen können sich bei Zertifizierungseinrichtungen registrieren lassen und Audits vornehmen. Das Monitoring wird von third party associations organisiert. Die TSMS haben eine große Reichweite, trotz unterschiedlicher Auffassung der verschiedenen Akteure bei der Formulierung der Standards. Beispiele für die TSMS sind die Social Accountability SA 8000, die Fair Labor Association (FLA) und ETI (Ethical Trading Initiative). SA 8000 setzt Qualitätssicherungsmaßstäbe (u. a. Arbeitsstandards). Die Kernstandards von SA 8000 und FLA lehnen sich an die Arbeitsstandards, Arbeitszeitfestlegung, Mindestlohn und Koalitionsfreiheit der ILO an. Die ETI ist eine britische Initiative von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Universitäten, des Department for International Development der britischen Regierung und transnationalen Konzernen. Ziel ist keine Zertifizierung sondern die Identifizierung von sogenannter guter Praxis bei der Implementierung von Arbeitsschutzrichtlinien („codes of labour practices“).

Ein großangelegter Versuch der International Standardisation Organisation (ISO), Social Responsibility (SR) in einen weltweiten Standard zu transformieren, steht derzeit vor dem Abschluss. ISO 26000 hat in 47 Staaten eine Vielzahl von stakeholders – Unternehmen, Konsumenten, Gewerkschaften, Kommunen, Wissenschaft u. a. – über fast 10 Jahre lang konsultiert und einbezogen. Auch wenn das Ergebnis nicht rechtlich verbindlich sein wird, finden sich darin Definitionen, Grundsätze und Arbeitshilfen zur Umsetzung von SR, die auf hybride Weise – über mal staatliche/mal private nationale Standardisierungsinstitutionen – zur Umsetzung und wohl partiell auch zur Verbindlichkeit gebracht werden.

Internationale soziale Normgebung erlangt so in einer Vielfalt von Formen eine andere als nur inter- oder transgouvernementale Struktur. Betroffene werden einbezogen – bei der Normgebung ebenso wie bei der Normdurchsetzung und -überwachung. Das Gehörtwerden und der Rechtsanspruch, voice und entitlement, werden transnational verkoppelt. Noch deutlicher ist das bei globalen politischen und menschenrechtlichen Standards.

So kann beispielsweise auch Transparency International (TI), die Nichtregierungsorganisation, die sich seit 1993 weltweit dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hat, als Versuch gedeutet werden, den Nexus von Gehörtwerden und Rechtsanspruch wiederherzustellen. Hierbei ging es um das Gebot der good governance insbesondere in sich entwickelnden Staaten. Dieser Nexus war von staatlichen Organisationen zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation teilweise massiv unterbrochen und verletzt worden. Bei der Unterstützung politischer Alliierter sah der Westen über Abweichungen von Werten und Normen sowie über Korruptionspraktiken hinweg.

Ausblick

Zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO), die epistemic community und Lobbygruppen greifen mehr denn je in die Ausgestaltung der Weltwirtschaft und Weltpolitik ein. Sie schaffen – zusammen mit Staaten und internationalen Regierungsorganisationen – neue Normen, sie setzen Standards. Aber dies geschieht bei weitem nicht in allen Staaten. Autoritäre Staaten verbieten Aktivitäten der zivilgesellschaftlichen Organisationen, hegen sie ein oder instrumentalisieren sie. Gerade einige der aufstrebenden Staaten (neue regionale Führungsmächte, einige der BRICS, vor allem Russland und China, aber auch die großen autoritären Staaten wie Saudi Arabien, Ägypten und Pakistan) wenden sich massiv gegen jede Art von zivilgesellschaftlichem Engagement. Andere Länder, wie Nigeria oder Brasilien, korrumpieren die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und machen sie so zu willfährigen Agenten. Die indische Regierung geht z.T. hart mit der kritischen Zivilgesellschaft um und setzt dem ausufernden Treiben der Hindunationalisten wenig entgegen. Und die Erdogan-Regierung in der Türkei nutzt den gescheiterten Putsch vom Juli 2016 ungehemmt als Vorwand, um rigoros gegen alle oppositionellen Kräfte vorzugehen, nicht nur gegen die aus der Zivilgesellschaft, sondern auch gegen die in der Verwaltung, Justiz, Wissenschaft etc.

Auch in der OECD-Welt stehen die ZGO unter starkem Druck. Einerseits wird die Legitimität ihres Handelns bezweifelt. Andererseits stößt ihr Engagement an Grenzen. Diese Ambivalenz prägt ZGO in vielen Ländern.

Es gibt eine Abkehr von Global Governance und ein Wiedererstarken des Nationalstaates, der in vielen Krisen handelt und Verantwortung übernimmt und dabei den Beitrag der ZGO mindert oder gar ins Leere laufen lässt. D. h. in Krisen entscheiden wieder mehr die Exekutiven. Viele Länder intervenieren in ihren Ökonomien mit massiven Konjunkturprogrammen und Kreditmaßnahmen (beispielsweise zur Nachfragesteuerung durch Arbeitsplatzbeschaffung). Aber der Nationalstaat selbst gerät an die Grenzen seiner nationalen wie regionalen Gestaltungsmöglichkeiten. Das europäische Agieren in der Finanz-, Währungs- und in der Migrationskrise liefert ein deutliches Beispiel für die Rückkehr nationalstaatlicher Alleingänge. Der gegenwärtige Nationalstaat ist auch das Resultat der neuen Dynamik der Globalisierung, in der die Nationalstaaten wegen transnationaler Verkettungen nur noch ein Akteur unter vielen sind. Der reluctant hegemon Deutschland übernimmt in der EU eine tragende Rolle in der griechischen Finanzkrise und interagiert hier mit der supranationalen EU-Institutionen, den 28 nationalstaatlichen Regierungen und dem IWF. Gleichzeitig bekommt Deutschland innerhalb der EU in der Reaktion auf die großen Migrationsbewegungen seine Grenzen aufgezeigt. Kann der Nationalstaat überhaupt wieder „führen“, also Führungsmacht zeigen, oder sollen ZGO zusammen mit dem Nationalstaat und supra-nationalen Organisationen zu „zivilen“ Regelungen, Normen und Standards beitragen?

In der gegenwärtigen Diskussion werden diese neuen Entwicklungen weitgehend ausgeblendet. Stattdessen wird in der Diskussion über Gobal Governance vielfach weiter betont, dass in der globalen Welt partielle supranationale Einrichtungen – wie die WTO, die UNO oder die Europäische Union – am besten globale Prozesse steuern könnten. Aber diese Supra-Organisationen bedrohen demokratische Errungenschaften. Die Aushöhlung und der Mangel an demokratischer Legitimität werden offensichtlich, wenn man die Entscheidungsebenen supra- und internationaler Einrichtungen (wie der EU oder WTO) betrachtet. Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind von effektiver Mitbestimmung abgekoppelt, weil die Legitimationsketten jenseits des Nationalstaates immer dünner werden. Dass diese Entwicklungen von populistischen Parteien und Bewegungen genutzt werden, um einen autoritären Staat zu fordern, ist eine in Europa aber auch in anderen Teilen der Welt nicht mehr zu ignorierende Tendenz.

Über Ausmaß, Reichweite, Wirksamkeit und Gewicht der zivilgesellschaftlichen Akteure, Netzwerke, Initiativen und Bewegungen mag man streiten. Es muss auch hinterfragt werden, wen sie wie zuverlässig repräsentieren und aufgrund welcher Mandate sie handeln. Unterschieden werden sollten auch die sogenannten bad networks, die nur partikulare Interessen mit illegitimen Methoden verfolgen. Und doch: In den genannten Netzwerken deuten sich kosmopolitische Zivilgesellschaften und Versuche einer Zivilisierung der Welt an, die grenzüberschreitend Normen gestalten und darauf bezogen voice ausüben können.

Um nicht als „NGO-Wolkenkuckucksheimer“ missverstanden zu werden, bedarf es einiger Klarstellungen. Selbstverständlich verfügen transnationale zivilgesellschaftliche Akteure und Netzwerke in erster Linie lediglich über eine Selbstlegitimierung, weil eine interne und externe Rechenschaftslegung (accountability) zunächst nicht vorhanden oder äußerst begrenzt ist. Es geht mithin zunächst um Interessenartikulation, erweiterte Inklusion und um das Ermächtigen (empowerment) von Gruppen, die sich im konventionellen Parteiengefüge nur noch partiell bzw. überhaupt nicht (mehr) wiederfinden können. Die Aktions- und Artiku