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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 04.01.2018

Handelsblatt

Ein Angriff auf globale Patente

Joseph Stiglitz definiert das geistige Eigentum in Zeiten der globalen Weltwirtschaft völlig neu.

Bloomberg [M]

Als die südafrikanische Regierung 1997 versuchte, ihre Gesetze zu ändern, um sich preiswerte Generika zur Behandlung von HIV/Aids zunutze zu machen, bot die globale Pharmaindustrie ihr gesamtes Arsenal gegen das Land auf, was einen hohen menschlichen Tribut forderte.
Schließlich gewann Südafrika das Verfahren, doch die Regierung hatte ihre Lektion gelernt: Sie versuchte danach nie wieder, Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Bürger in die eigenen Hände zu nehmen, indem sie das bestehende globale Regelwerk zum Schutz geistigen Eigentums infrage stellte.

Bis heute. Das südafrikanische Kabinett ist derzeit dabei, eine Strategie in Bezug auf geistiges Eigentum fertigzustellen, die verspricht, den Zugriff auf Medikamente erheblich auszuweiten. Südafrika wird jetzt allem möglichen bilateralen und multilateralen Druck seitens der reichen Länder ausgesetzt sein. Doch die Regierung hat recht, und andere Entwicklungs-und Schwellenländer sollten ihrem Beispiel folgen.

Um das weltweite Gemeinwohl zu maximieren, sollte die Politik den Wissensfluss von den entwickelten in die Entwicklungsländer in umfassender Weise fördern.
Es gab während der vergangenen zwei Jahrzehnte erheblichen Widerstand aus den Entwicklungsländern gegen das derzeitige Regelwerk zum geistigen Eigentum. Denn dies ist primär auf Versuche der reichen Länder zurückzuführen, der Welt ein Einheitsmodell aufzuzwingen, indem sie den Rechtssetzungsprozess der Welthandelsorganisation (WTO) beeinflussten und anderen über Handelsabkommen ihren Willen aufzwangen.

Die von den hochentwickelten Ländern bevorzugten Normen in Bezug auf geistiges Eigentum sind in der Regel nicht darauf ausgelegt, Innovation und wissenschaftlichen Fortschritt im größtmöglichen Maße zu fördern, sondern sollen die Gewinne der großen Pharmakonzerne und anderer, die imstande sind, die Handelsverhandlungen zu beeinflussen, maximieren. Es überrascht daher nicht, dass große Entwicklungsländer mit starker industrieller Basis – wie Südafrika, Indien und Brasilien – den Gegenangriff anführen.

Wissen als öffentliches Gut

Diese Länder nehmen dabei vor allem die offensichtlichste Manifestation der Ungerechtigkeit des aktuellen Systems ins Visier: die Zugriffsmöglichkeit auf lebenswichtige Medikamente. In Indien schuf 2005 eine Gesetzesnovelle einen einzigartigen Mechanismus, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wieder für Fairness bei den Patentierungsrichtlinien zu sorgen und so den Zugriff auf Medikamente zu gewährleisten. In Brasilien führten frühe Maßnahmen zur Behandlung von Menschen mit HIV/Aids mehrfach zu erfolgreichen Verhandlungen, durch die die Preise beträchtlich gesenkt wurden.

Länder haben jedes Recht, Widerstand gegen ein System zu leisten, das weder gerecht noch effizient ist. Die wirtschaftlichen Institutionen und Gesetze zum Schutze von Wissen in den hochentwickelten Ländern sind unzureichend, um die globale Wirtschaftsaktivität zu regeln, und sie sind schlecht geeignet, die Bedürfnisse der Entwicklungsländer und Schwellenmärkte zu erfüllen. Tatsächlich sind sie der Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse wie einer angemessenen Gesundheitsversorgung abträglich.

Das zentrale Problem ist, dass Wissen ein (globales) öffentliches Gut ist, sowohl im technischen Sinne, dass die Grenzkosten für jemanden, der es verwendet, null sind, und in dem allgemeineren Sinne, dass eine Ausweitung des Wissens das Wohl der Menschen steigert. Deshalb besteht die Befürchtung, dass der Markt nicht genug Wissen zur Verfügung stellt und keine ausreichenden Anreize zur Forschung gesetzt werden.

Im gesamten Verlauf des späten 20. Jahrhunderts herrschte die Ansicht vor, man könne diesem Marktversagen am besten durch Einführung eines zweiten begegnen: mit privaten Monopolen, die durch die strikte Durchsetzung stringenter Patente geschaffen wurden. Doch der Schutz privaten geistigen Eigentums ist nur ein Weg, um das Problem der Förderung und Finanzierung von Forschung zu lösen, und er hat sich selbst für die hochentwickelten Länder als unerwartet problematisch erwiesen.

Ein immer dichteres Patentdickicht in einer Welt von Produkten, die Tausende von Patenten erfordern, behindert die Innovation manchmal auch, und teilweise sind die Anwaltskosten höher als die Forschungsausgaben. Zudem ist die Forschung häufig nicht darauf ausgerichtet, neue Produkte herzustellen, sondern darauf, die durch das Patent gewährte Monopolmacht zu vergrößern, auszuweiten und einzusetzen.

Es gibt mindestens drei Alternativen, um Forschung zu finanzieren und Forschungsanreize zu setzen. Eine besteht darin, sich auf zentralisierte Mechanismen direkter Unterstützung für Forschung zu stützen, wie etwa die National Institutes of Health und die National Science Foundation in den USA. Ein weiterer Weg ist, die direkte Förderung etwa durch Steuergutschriften zu dezentralisieren. Oder eine Behörde, private Stiftung oder ein Forschungsinstitut kann Preise für erfolgreiche Innovationen vergeben.

Dynamo technischer Wandel

Man kann sich das Patentsystem als Vergabe eines Preises vorstellen. Doch der Preis behindert den Wissensfluss, verringert den aus dem Wissen abgeleiteten Nutzen und führt zu wirtschaftlichen Verzerrungen. Im Gegensatz dazu maximiert die letzte Alternative zu diesem System den Wissensfluss, indem sie ein schöpferisches Gemeingut aufrechterhält; ein Beispiel hierfür ist Open-Source-Software.

Die Entwicklungsländer sollten all diese Ansätze nutzen, um Wissenserwerb und Innovation zu fördern. Schließlich erkennen die Ökonomen seit Jahrzehnten an, dass die wichtigste Determinante von Wachstum – und damit der Errungenschaften im Bereich der menschlichen Entwicklung und des Gemeinwohls – technologischer Wandel und das von diesem verkörperte Wissen sind.
Was die Entwicklungsländer von den entwickelten Ländern unterscheidet, ist nicht bloß ein Ressourcen-, sondern gleichermaßen ein Wissensdefizit. Um das weltweite Gemeinwohl zu maximieren, sollte die Politik den Wissensfluss von den entwickelten in die Entwicklungsländer in umfassender Weise fördern.

Die mächtigen Lobbys in den hochentwickelten Ländern, die dieses System geformt haben, räumen Ersterem einen größeren Stellenwert ein, was sich in ihrem Widerstand gegen Bestimmungen widerspiegelt, mit althergebrachtem Wissen oder der Artenvielfalt verknüpfte Eigentumsrechte anzuerkennen.

Die weitverbreitete Übernahme des heutigen stringenten Schutzes geistigen Eigentums ist zudem geschichtlich ohne Beispiel. Selbst unter den frühen Betreibern der Industrialisierung kam der Schutz geistigen Eigentums sehr spät und wurde häufig bewusst gescheut, um eine schnellere Industrialisierung und ein rascheres Wachstum zu ermöglichen.

Das falsche System

Das aktuelle System zum Schutz geistigen Eigentums ist nicht aufrechtzuerhalten. Die Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts wird sich von der des 20. Jahrhunderts auf mindestens zwei wichtige Weisen unterscheiden. Erstens werden Volkswirtschaften wie Südafrika, Indien und Brasilien erheblich an Gewicht gewinnen. Zweitens wird auf die „Weightless Economy“ – die Wirtschaft der Ideen, Kenntnisse und Informationen – ein wachsender Anteil der Produktionsleistung entfallen, und zwar gleichermaßen in den entwickelten wie in den Entwicklungsländern.

Die die „Steuerung“ des globalen Wissens betreffenden Regeln müssen sich ändern, um diese neuen Realitäten widerzuspiegeln. Ein System zum Schutz des geistigen Eigentums, das vor einem Vierteljahrhundert von den hochentwickelten Ländern auf politischen Druck einiger Branchen in diesen Ländern festgelegt wurde, hat heute wenig Sinn.

Die Maximierung der Gewinne einiger weniger zulasten der globalen Entwicklung und des Gemeinwohls hat schon damals wenig Sinn gehabt – außer unter dem Gesichtspunkt der Machtdynamik der damaligen Zeit.

Diese Dynamik ändert sich nun, und die Schwellenländervolkswirtschaften sollten eine Vorreiterrolle dabei übernehmen, ein ausgewogenes System zum Schutz geistigen Eigentums zu schaffen, das die Bedeutung von Wissen für die Entwicklung, das Wachstum und das Gemeinwohl anerkennt.

Wichtig ist deshalb nicht nur die Erzeugung von Wissen, sondern auch, dass es auf eine Weise genutzt werden kann, die der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Menschen Vorrang einräumt vor den Profiten der Konzerne. Südafrikas potenzielle Entscheidung, den Zugriff auf Medikamente zu ermöglichen, könnte ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zu diesem Ziel sein.

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Der Autor ist Nobelpreisträger für Ökonomie, Professor an der Columbia University. Co-Autoren sind: Dean Baker, Mitgründer des Center for Economic and Policy Research, und Arjun Jayadev, Direktor des Forschungs-zentrums an der Azim Premji University und Professor für Ökonomie an der Azim Premji University und der University of Massachusetts. Sie erreichen sie unter: gastautor@handelsblatt.com