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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 08.12.2017

FAZ

Unbestechlich

Marc will Menschen aus der Armut holen. Er geht in die staatliche Entwicklungshilfe und macht Karriere. Aber er bekommt das Gefühl, nur sich selbst und Afrikas Despoten zu helfen. Er hat genug gesehen.

Von Tim Kanning und Johannes Pennekamp

In Niger, Westafrika, verliert Marc endgültig den Glauben an den Sinn seiner Arbeit. Es ist eine heißer Sommertag. Die deutsche Entwicklungsbank KfW lässt eine bröckelnde Bewässerungsanlage wieder aufbauen. Einundzwanzig Millionen Euro fließen aus dem deutschen Steuertopf, damit tausend Bauern in dem armen Land ihren Reis bewässern können. Marc ist der Mann, der die Schleusen öffnet: die für das Geld aus Deutschland – und irgendwann für das ersehnte Wasser.
So stellt er sich das zumindest vor, als er im Juli in Frankfurt in den Flieger steigt und in der Business-Class Richtung Afrika abhebt. Marc, Projektmanager der KfW, weiß zwar, dass es auf der Baustelle „Verzögerungen“ gibt. Aber was er zu sehen bekommt, schockiert ihn: „Da waren keine Bauarbeiter, keine Rohre, keine Bagger, da war nichts. Nur ein Baucontainer und ein Schild. Und das ein halbes Jahr nach offiziellem Baubeginn.“ Marc, unterwegs im Auftrag der mächtigen deutschen Entwicklungsbank, fühlt sich hilflos. Das Bauunternehmen, das seinen Pflichten nicht nachgekommen war, kann er nicht feuern. Denn die Aufträge vor Ort vergibt nicht die KfW, sondern das nigrische Landwirtschaftsministerium – und das stellt sich quer. Der Direktor des Ministeriums persönlich habe ihn am Telefon angebrüllt und unter Druck gesetzt, erzählt er später. Für das verantwortliche Unternehmen habe der Minister seine Hand ins Feuer gelegt. Der Verdacht des Entwicklungshelfers: „Da muss Geld geflossen sein.“ Beweisen kann er das nicht – aber in dem Land wisse jeder: „Unternehmen und Regierende sind eins, es existiert kein fairer Wettbewerb.“

Das hatte Marc sich anders ausgemalt. Damals, als er im Bonner Stadtteil Bad Godesberg aufwuchs und davon träumte, die Welt zu verbessern. Vor der Haustür sah er Menschen, denen es gutgeht, im Fernsehen die Hungerbäuche afrikanischer Kinder. Seine Mutter stammt aus Tansania, vielleicht schmerzte ihn diese brutale Ungleichheit deshalb besonders.

Früh wusste Marc: „Ich will Entwicklungshelfer werden.“ Das ist allerdings nicht einfach. In die Entwicklungszusammenarbeit wollen viele Uni-Absolventen, die großen staatlichen Organisationen können sich aus einer großen Bewerberschar die Besten aussuchen. Marc nimmt alle Hürden locker: Volkswirtschaftsdiplom in Köln, Auslandsaufenthalte in Ägypten, Kenia und Ghana, Praktika bei GTZ und DEG, DIE-Postgraduiertenprogramm, schließlich KfW-Trainee. All die Kürzel, die der 33-Jährige aufzählt, mögen Laien nichts sagen. Für angehende Entwicklungshelfer ist jedes einzelne eine Auszeichnung.

Marc legt eine Karriere hin, um die ihn viele andere beneiden. Und die abrupt endet: ein kühler Herbstmorgen im Frankfurter Osten. Marcs Mietwohnung ist leergeräumt. Seine Klamotten, Bücher und Habseligkeiten hat er in Umzugskartons gepackt, die sich an der Wand stapeln. Nur seine Anzüge, die noch an einer Stange neben seinem Bett hängen, und ungeöffnete Briefe seines Arbeitgebers erinnern an seine Zeit bei der Entwicklungsbank. Marc erzählt. Vom Idealismus eines jungen Mannes, der zu zweifeln beginnt, den die kritischen Fragen nicht loslassen und der irgendwann überzeugt ist, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems in Afrika zu sein.
Er schildert das lähmende Gefühl, nichts ändern zu können: an Strukturen, die größer und mächtiger sind als ein einzelner Mensch. Und vom Entschluss, aus dem System auszubrechen und nicht mehr mitzumachen. Ob das klug ist? Oder naiv? Am Anfang, sagt Marc, sei er blauäugig gewesen. Bei seinem ersten Praktikum half er dabei, ein Landwirtschaftsprojekt einer Hilfsorganisation in Ghana zu beurteilen. Das Urteil fiel verheerend aus: „Es war eine Katastrophe. Aber ich habe mir gesagt, es muss ja nicht immer so laufen.“ Darum zögerte er nicht, als er im Jahr 2014 die Chance bekam, in der Frankfurter KfW-Zentrale zum Projektmanager für Westafrika aufzusteigen. Er selbst war nun verantwortlich für neue Latrinen, Wasserleitungen und weitere Projekte in Niger, Benin und Guinea. Nach gängigen Maßstäben machte er seine Sache ordentlich. Zwar habe hin und wieder ein Projekt mehr gekostet als ursprünglich kalkuliert oder länger gedauert, aber am Ende wurden sie fertig.

Trotzdem sagt Marc heute, er habe die Welt nicht besser gemacht, sondern schlechter. Wie das möglich ist? Marc spricht gerne in Bildern: „Man tut mit den Projekten kurzfristig etwas gegen das Symptom, man stärkt aber gleichzeitig massiv die Krankheit.“ Die Nebenwirkungen der Entwicklungszusammenarbeit seien größer als die kleinen Erfolge, die neue Latrinen oder Wasserleitungen brächten. „Ein erheblicher Anteil der Entwicklungsgelder in Westafrika fließt in korrupte Kanäle“, behauptet Marc. „Daran lassen meine Erfahrungen vor Ort überhaupt keine Zweifel.“

Vor allem bei Bauausschreibungen durch Ministerien und öffentliche Einrichtungen, mit denen die KfW vor Ort zusammenarbeitet, vermutet er „systematisch Unregelmäßigkeiten“. Mindestens zehn Prozent des Geldes, so schätzt er, lande in den Taschen korrupter Beamter und Politiker. Das Fatale daran sei nicht in erster Linie die Verschwendung von Steuergeld oder dass irgendein Minister Oberklassewagen fahre, sondern die zerstörerische Kraft der Hilfen: „Die bittere Realität ist doch, dass wir die korrupten Strukturen am Leben halten, weil wir den Kleptokraten ständig neues Geld geben.“ Wenn er über dieses Thema spricht, hat seine Stimme etwas Flehendes, so als wollte er herausschreien: Das ist doch ganz offensichtlich! Warum versteht das denn niemand?

Marc weiß, dass er sich mit seinen Behauptungen weit aus dem Fenster lehnt. In seinem Arbeitsvertrag steht, dass er über seine Erlebnisse nicht reden darf. Auch nicht nach seiner Zeit bei der Entwicklungsbank. Er hat keine Beweise für Korruption. Keine Bilder von mit Dollarnoten gefüllten Briefumschlägen, keine geheimen Ton-Mitschnitte. Warum seine Geschichte trotzdem erzählt wird? Auch, weil Marc sich in eine lange Liste derjenigen einreiht, die mit der Entwicklungshilfe hart ins Gericht gehen.

Schon im Jahr 2008 urteilten namhafte Entwicklungsexperten in einem „Bonner Aufruf“: „Nach einem halben Jahrhundert personeller und finanzieller Entwicklungshilfe für Afrika stellen wir fest, dass unsere Politik versagt hat.“ Dambisa Moyo, geboren in Sambia, studiert in Oxford und Harvard, prangert in ihrem Bestseller „Dead Aid“ einen Teufelskreis aus Korruption und Armut an. „Der Punkt ist nicht, dass Korruption in Afrika existiert. Der Punkt ist, dass die Hilfe einer ihrer größten Helfer ist“, schreibt sie. William Easterly, viele Jahre Entwicklungs-Fachmann der Weltbank, wirft heute seinen früheren Kollegen vor, die Afrikaner mit ihrem vermeintlichen Expertenwissen davon abzuhalten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eines seiner Bücher taufte der Wissenschaftler der New York University „Tyrannei der Experten“. Und Axel Dreher, ein namhafter deutscher Entwicklungsökonom, hält es bis heute nicht für erwiesen, dass all die vielen Milliarden Dollar und Euro für zusätzliches Wirtschaftswachstum in Afrika gesorgt haben.

Glasfassade, Drehtür, Aufzug, ein Zimmer mit großem Besprechungstisch – die Frankfurter KfW-Zentrale. In Deutschland ist die staatliche Förderbank vor allem als Unterstützer von Häuslebauern und Unternehmensgründern bekannt. Doch sie ist auch für die finanzielle Entwicklungshilfe zuständig, geführt wird diese Sparte von dem früheren Bundesbank-Vorstand Joachim Nagel. 7,3 Milliarden Euro hat die Entwicklungsbank im vergangenen Jahr bereitgestellt, jeder einzelne Euro ist ordentlich verbucht und kann nachverfolgt werden. Was sagen sie hier zu dem Vorwurf, Kleptokraten zu füttern und alles schlimmer zu machen?

„Es gibt auch Experten, die das ganz anders sehen“, sagt Monika Beck. Sie leitet die Compliance-Abteilung der Bank, es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Geld an der richtigen Stelle ankommt – und nur da. Aber kann man das in Entwicklungsländern sicherstellen? Bevor die Managerin über Afrika sprechen will, sagt sie: „Korruption gibt es auch in Deutschland.“ Man denke an den Hauptstadtflughafen BER. Aber: „Wir arbeiten in Ländern, in denen Korruption an der Tagesordnung ist.“ Dann schiebt sie ein Blatt Papier über den Konferenztisch, auf dem sie aufgelistet hat, was die Entwicklungsbank unternimmt, um Korruption zu bekämpfen: Bevor ein Projekt beginnt, gibt es eine „Due Diligence“, mit der alle Projektpartner auf Unstimmigkeiten abgeklopft werden. Vor Ort gibt es Sachverständige, die Ausschreibungsangebote auf Plausibilität prüfen. Externe Berater betreuen die Projekte während der Bauphase, Geld wird nur in Tranchen nach Baufortschritt ausgezahlt, Rechnungsprüfer attestieren die korrekte Mittelverwendung. In entlegene Winkel schickt die Bank Drohnen, um zu überprüfen, ob ein Bauprojekt vorankommt. Ist ein Projekt abgeschlossen, gibt es mehrere Evaluierungen, die abschließende erst fünf Jahre nach dem Ende. Und das Bewässerungsprojekt für die Bauern in Niger, das Marc für so verdächtig hält? Die KfW bestätigt, dass es „bei der Auftragsabwicklung auf den Baustellen mittlerweile zu zeitlichen Verzögerungen von über einem halben Jahr“ gekommen ist. Eines von mehreren beauftragten Unternehmen sei „wegen massiver Rückstände“ dreimal abgemahnt worden, was für eine Vertragskündigung nach nigrischem Recht erforderlich ist. Die Restarbeiten würden neu vergeben. „Es liegen uns in den genannten beiden Fällen jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte für korrupte Geschäftspraktiken vor“, teilt die Bank mit.

Wer Beck zuhört, bekommt den Eindruck, dass kein Euro in die falschen Hände geraten kann. Aber natürlich stimmt das nicht. Und daraus macht auch die Korruptionsbekämpferin keinen Hehl. Sie erzählt von einzelnen Projekten, in denen offensichtlich Geld abgezweigt wurde: zum Beispiel bei Hochhaustürmen, die gedämmt werden sollten: „Die Bauherren dachten wohl, es fliegt nicht auf, wenn nur eines der Häuser dickere Wände bekommt.“ Am Ende musste der Projektpartner das Geld für den zweiten Turm zurückzahlen. In einem anderen Fall sollte ein Umschlag per Zufallsprinzip gezogen werden. Einer war vorher gekühlt worden – das Losverfahren ad absurdum geführt. Etwa sechzig Verdachtsfälle gebe es im Jahr, sagt Beck. Dass es nicht mehr seien, sei guter Prävention zu verdanken.

„Wir sind best-in-class“, findet Compliance-Chefin Beck im Vergleich zu Geber-Organisationen anderer Länder. Ziel sei es, über Entwicklungsprojekte „korruptionsfreie Inseln“ zu schaffen. Die sollen ausstrahlen und Politikern, Behörden und Unternehmen zeigen, dass es auch ohne Schmiergeld geht. In einzelnen Bereichen und Sektoren könne die Bank dies erreichen. Eine solche Hilfe sei besser als gar keine Hilfe, davon sind sie überzeugt bei der KfW. „Aber wenn man denkt, man kann das ganze System ändern, ist das natürlich ein falscher Idealismus.“
Falscher Idealismus? Wir fragen einen altgedienten KfW-Mitarbeiter, der sich dem Rentenalter nähert. „Die jungen Leute kommen und blenden negative Sachen aus“, sagt er. „Wir nennen sie bei uns: die Weltverbesserer.“ Weltverbesserer wie Marc. Die Älteren belächelten diese Jüngeren, aber ihr Idealismus sei wichtig für die Stimmung im Haus. Im Laufe der Zeit würden die „Weltverbesserer“ dann realisieren, dass in der Entwicklungshilfe vieles im Argen liegt, sie würden dann pragmatischer. Kündigen würden dann aber die wenigsten. Auch dieser KfW-Mitarbeiter hält Korruption für ein großes Problem. „Natürlich geht Geld für Korruption drauf. Die Baufirma drückt dem Minister mal einen Umschlag mit Geld in die Hand, das lässt sich kaum verhindern“, sagt er. Ein anderer Insider, der als Berater für die KfW und andere Organisationen arbeitet, sagt: „Es gibt auf dem Papier Checks and Balances. Aber jeder weiß, dass wir in der ein oder anderen Form für die Mitarbeiter in den Ministerien zahlen.“ Mehrmals sei er in seiner Laufbahn kurz davor gewesen, den Bundesrechnungshof einzuschalten, weil man so nicht mit öffentlichen Mitteln umgehen dürfe. Die große Konkurrenz der Geldgeber begünstige die Korruption sogar: Es gibt viele Mittel zu vergeben, aber zugleich einen Mangel an unterstützenswerten Projekten. Die Organisationen stünden zudem unter Druck, dass die Mittel möglichst schnell abfließen. Wenn einem Empfängerstaat die deutschen Standards zu hoch sind, muss er nach Alternativen nicht lange suchen. Die erfahrenen Entwicklungshelfer prangern zudem einen „Etikettenschwindel“ an, der mit Slogans wie „Klimawandel stoppen“ oder „Fluchtursachen bekämpfen“ betrieben werde. „Wir machen dieselben Sachen wie immer, verkaufen sie aber unter diesen Labeln“, sagt der KfW-Mitarbeiter. Auch die Evaluierungsabteilung der Entwicklungsbank, in der abgesehen von der Chefin nur KfW-Mitarbeiter beschäftigt sind, sei nicht so unabhängig wie nach außen behauptet.

Denkt man da ans Hinschmeißen? Der Berater der Entwicklungsorganisationen gesteht, dass er sich seit mehreren Jahren „massiv die Sinnfrage“ stellt. „Ich müsste eigentlich da raus und etwas ganz anderes machen.“ Wenn man aber mehr als zwanzig Jahre nichts anderes gemacht habe und die Rente nicht mehr weit sei, „dann ist ein Absprung und kompletter Neuanfang in einem völlig anderen Berufsfeld nicht so einfach zu realisieren“.

Marc hat sich anders entscheiden. In Besprechungen, in Gesprächen mit seinen Chefs, beim Feierabendbier mit Kollegen: immer wieder habe er Kritik geübt, versucht aufzurütteln, Gleichgesinnte gesucht. „Meine Kollegen stimmen mir bei den allermeisten Beobachtungen zu“, sagt Marc. „Am Ende geben sie sich dann aber damit zufrieden, dass irgendwo eine neue Schule, ein Brunnen oder eine Straße entsteht. Der Gesamtkontext und die Nebenwirkungen blenden sie aus.“ Sie redeten sich die Sache schön und machten einfach weiter – „als Rädchen im Getriebe“. Die Altbauwohnung, das gute Gehalt, teure Dienstreisen, die Familie, die Anerkennung der Freunde – das alles hindere sie daran, aus dem „goldenen Käfig“ auszubrechen. Marc wollte so nicht weitermachen. Ende September hatte er seinen letzten Arbeitstag.

In seiner Wohnung liegen ein Klettergurt und Kletterschuhe. Nach seinem Abgang bei der KfW fliegt er nach Laos, er will sich eine Auszeit nehmen, ein paar Monate als Kletterlehrer arbeiten. Seine Ex-Kollegen halten ihm vor, dass er damit erst recht nicht die Welt retten wird. Und einen Plan, wie man es besser machen kann, habe er auch nicht. Ist es besser, Afrika einfach sich selbst zu überlassen? Marc ist für den Moment überzeugt, das Richtige zu tun. Sein Antrieb ist derselbe wie damals als Jugendlicher in Bonn. Er will etwas verändern. Er denkt dabei aber nicht mehr zuerst an Afrika. Sondern an die westliche Entwicklungszusammenarbeit.