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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 11.11.2014

Die Welt

Afrikas großes Experiment mit der Gratis-Kuh

Kostenlose Kühe für mittellose Bauern - so bekämpft Ruandas Regierung den Hunger im eigenen Land

Von Julia Rotenberger

Etwas Ackerland auf einem Hügel, ein Haus aus Lehm - das ist die Welt von Aurelia Mukandangiri. Mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihren Kindern lebt sie in Kicukiro, einem Vorort auf einem der Hügel von Ruandas Hauptstadt Kigali. Kein Bus fährt über die mit Schlaglöchern übersäte Straße zu ihrem Haus. Nicht mal eins der röhrenden Motorradtaxen, die überall in der Stadt zu sehen sind, wirbelt den roten Staub auf. Wer hier hoch kommt, geht zu Fuß. Doch Aurelia ist keine arme Frau mehr, denn in ihrem Haus muht es. Indibori - übersetzt "die Kuhschönheit" - kaut langsam am Heu, das vor ihr auf dem Futtertrog liegt. Aus dicken Ästen und Stroh ist um sie herum ein Stall gebaut. Mit ihren runden, sanften Augen und hellbraunem Fell ist sie der ganze Stolz der Familie Mukandangiri. Vor sieben Jahren hat Aurelia ihre Kuh von der ruandischen Regierung bekommen. Sie ist eins von 198.000 Tieren, die durch das "Girinka"-Programm ein Zuhause gefunden haben. "Girinka" heißt auf der Landessprache Kinyarwanda so viel wie "Du darfst eine Kuh haben". Seit 2006 verteilen ruandische Beamte zusammen mit ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Tiere an Bauern. Es ist wohl eines der ambitioniertesten Entwicklungshilfe-Experimente Afrikas. 1,6 Milliarden Ruanda-Francs (etwa 1,7 Millionen Euro) ließ sich die ruandische Regierung die Kühe allein im vergangenen Jahr kosten. Darin enthalten sind 5000 neue Tiere plus die Besamung der bereits vorhandenen Kühe in 30 Provinzen des Landes. Dabei ist die Regierung zwar der größte, aber nicht der einzige Finanzier: Organisationen wie "Heifer International" oder "Send a Cow" helfen dabei, das Programm umzusetzen. Sie spenden weitere Tiere und Geld.

Das Programm baut wieder auf, was vor 20 Jahren zerstört wurde. Während des Völkermordes 1994 starben in Ruanda knapp eine Million Menschen - und ihre Tiere. Laut UNICEF starben binnen weniger Monate bis zu 90 Prozent aller Rinder in Ruanda, darunter viele Milchkühe. Vor dem Bürgerkrieg waren die Rinder ein Statussymbol: Unter der belgischen Kolonialherrschaft in den 1950er-Jahren entschied ihre Anzahl darüber, wer zu welcher Bevölkerungsgruppe gehörte.

Hatte jemand mehr als zehn Kühe, stand in seinem Ausweis "Tutsi". Er wurde von den Kolonialherren bevorzugt behandelt. Kühe wurden so zum Symbol einer verhassten Machtelite. Heute sind die Tiere das genaue Gegenteil: ein Geschenk an die Armen. In manchen Regionen, wie etwa in der Provinz Bugesera im Osten des Landes, hatten bis zu 40 Prozent der Bewohner nicht genug zu essen. Wie viele Kühe in welche Provinz des Landes kommen, entscheidet Andrew Kagabo. Der 54-Jährige hat Tiermedizin studiert. Heute beschäftigt sich der Programm-Koordinator aber oft mit Zahlen und seltener mit Tieren. "Ziel ist es, 2017, wenn das Programm ausläuft, 350.000 Tiere verteilt zu haben", sagt er. 198.000 tun es bereits. Wie sein Arbeitgeber, die ruandische Regierung, weiß auch Kagabo um die Bedeutung der Tiere für die Bevölkerung: "Wer dir eine Kuh schenkt, ist dein Freund", sagt er.

Nicht nur zur Bekämpfung von Hunger und zur Versöhnung tragen die Kühe bei. Sie sind inzwischen auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. In den vergangenen zwei Jahren ist die Milchproduktion Ruandas um elf Prozent gestiegen. 2013 löste Milch sogar Kaffee als Exportgut Nummer eins ab. Damit ist Milch eine wichtige Devisenquelle des kleinen Binnenstaates im Osten Afrikas: 22 Millionen Dollar (17,6 Millionen Euro) Devisen hat Ruanda im vergangenen Jahr damit erwirtschaftet, mit Kaffeebohnen dagegen rund 17 Millionen Dollar.

Inzwischen geht in den Ställen vieler ruandischen Bauern Leistung vor Schönheit. Europäische Rassen lösen nach und nach die einheimischen ab. Doch die Exoten geben nicht nur viel Milch - sie bereiten auch Probleme. Elisee Kamanzi hat damit täglich zu tun. Er ist Projekt-Manager bei Heifer International, der größten NGO, die das Girinka-Programm unterstützt.

Die Mitarbeiter gehen in die Dörfer und achten darauf, dass die Tiere ihre Besitzer nicht überfordern. "Die Bauern finden es schwierig, sich um die exotischen Rassen zu kümmern", sagt Kamanzi. Das heiße Klima setze den Tieren zu.

Ein weiteres Problem: "Viele der Farmer hatten noch nie in ihrem Leben Tiere oder sie haben sie während des Völkermords verloren." Sie hätten verlernt, wie man eine Kuh pflegt. "Wir müssen sie erst langsam wieder an die Tiere heranführen", erzählt Kamanzi.

Auch Aurelia Mukandangiri hat ein Training absolviert, bevor sie ihre Indibori bekam. Trotzdem hat sie Angst, dass die Kuh krank werden könnte.

In der Regel übernimmt das Programm nur die Kosten für die ersten Impfungen und die medizinische Versorgung in den ersten Monaten beim neuen Besitzer. Die Kuh habe sich für sie gelohnt, erzählt Aurelia, Mühen und Kosten zum Trotz. Vor einigen Monaten hat die Familie ein Kalb von Indibori verkauft. 180.000 Ruanda-Francs - 190 Euro - hat Aurelia das Tier eingebracht. "Von dem Geld habe ich das Haus renoviert", erzählt sie und zeigt auf die frisch in Rot gestrichene Tür und die Fensterrahmen ihres Hauses.