Beitrag vom 13.05.2014
Zollern-Alb-Kurier
NIGERIA: Land am Abgrund
von WOLFGANG DRECHSLER
In keinem anderen Land Afrikas klaffen Anspruch und Realität derart weit auseinander wie in Nigeria, dem mit rund 175 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Nur zu gerne greifen seine Politiker zu Superlativen, um die vermeintlichen Erfolge des Landes seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1960 darzustellen. Erst Anfang April feierte Nigerias Regierung enthusiastisch die Meldung, dass das Land durch eine Neuberechnung seines Sozialprodukts plötzlich zur stärksten Wirtschaftsmacht in Afrika aufgestiegen sei. Dass die Zahlen geschönt waren und keine Bedeutung für die rund 125 Millionen Menschen haben, die von weniger als zwei Dollar am Tag und damit unterhalb der Armutsgrenze leben, blieb wie üblich unerwähnt.
Unbemerkt blieb lange auch, dass Nigeria dabei ist, Somalia den Rang als gewalttätigstem Land des Kontinents abzulaufen. Fast 2000 Menschen sind in dem westafrikanischen Ölstaat seit Jahresbeginn der vor allem im Nordosten wütenden Gewalt zum Opfer gefallen. Doch erst die Entführung von mehr als 200 Schulmädchen und die völlige Gleichgültigkeit von Armee und Regierung bei der Suche nach ihnen hat die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf Nigeria gelenkt.
Die Entführung ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor fünf Jahren begann und die dazu geführt hat, dass der muslimische Norden inzwischen zumindest teilweise der Kontrolle der Zentralregierung in Abuja entglitten ist. In den vergangenen beiden Jahren hat die islamistische Terrorsekte Boko Haram, die für die Entführung verantwortlich ist, ihren Aktionsradius immer weiter in die Mitte des Landes verlagert. Daran haben weder der im Norden verhängte Ausnahmezustand noch die jüngste Militäroffensive gegen die Islamisten etwas ändern können. Im Gegenteil: die Lage im Nordosten ist zuletzt immer weiter eskaliert.
Dabei fließt inzwischen fast ein Fünftel des nigerianischen Staatshaushaltes in den Sicherheitssektor. Langjährige Beobachter wie der Afrika-Experte Robert Kappel vermuten eine massive Selbstbereicherung von Generälen, Geschäftsleuten und Gouverneuren an diesen, eigentlich der Terrorbekämpfung zugedachten Geldern. Während die Militärs nach außen hin Boko Haram bekämpfen, ermutigen sie die Terrorbande und andere Gruppen demnach inoffiziell zu immer neuer Gewalt, damit noch mehr Geld in den Sektor fließt. Die Rede ist zudem von bezahlten Überfällen und geheimen Waffenlieferungen. Anders ist kaum zu erklären, wie Boko Haram in den Besitz modernster Waffen kommen konnte. Sollte die Kollaboration stimmen, wäre dies nur ein weiteres Indiz dafür wie tief verwurzelt die Korruption in der Gesellschaft ist - und wie wenig dort das Gemeinwohl zählt.
Präsident Goodluck Jonathan hat die Entführung der Schülerinnen als Wendepunkt im Kampf gegen den Terror beschrieben, weil das Ausland das Ausmaß des Terrors nun zur Kenntnis genommen habe und aktiv helfe. Er könnte sich täuschen: Drastischer als je zuvor hat das Geiseldrama vor allem der eigenen Bevölkerung die Unfähigkeit, Apathie und Gier der nigerianischen Elite vor Augen geführt.
Einige Beobachter haben wiederholt vor einem Scheitern Nigerias gewarnt. In der Tat ist das Land ein Musterbeispiel dafür wie eng in Afrika der mögliche Zerfall eines Staates und der vermeintliche Aufschwung beieinander liegen. Diese Kluft zu schließen, ist die eigentliche Aufgabe des Kontinents. Gleichwohl ist derzeit schwer zu sehen wie ein Land wie Nigeria ohne staatliche Institutionen, ohne Infrastruktur und ohne Industrie jenseits des Öls auf absehbare Zeit zu einer echten Demokratie reifen kann.