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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 04.07.2012

ruhrpottglobalWeltpolitik

Entwicklungshilfe - Eine "arrogante Geberkultur”?

Posted by Hannah Sanders in Afrika, Dritte Welt, Entwicklungshilfe 4. Juli 2012

In den Medien wird über Afrika häufig nur im Zusammenhang mit Katastrophen oder Kriegen berichtet. Kein Wunder, dass viele mit dem Kontinent zuallererst Hunger und Elend assoziieren. Nicht so Volker Seitz: Wenn er an Afrika denkt, denkt er an die intensive Lebensfreude der Menschen dort, aber auch an die vielen Entwicklungsprojekte und die internationalen Hilfsprojekte. Seitz hat selbst 17 Jahre als Diplomat in Afrika verbracht, unter anderem in Benin, Niger und Kamerun. Heute kritisiert er die staatliche Entwicklungshilfe scharf - so wie bisher kann und darf es seiner Meinung nach nicht weitergehen.

Herr Seitz, was läuft Ihrer Meinung nach falsch in der Entwicklungshilfe?

Bis heute wird jede Hilfe nach den erbrachten Leistungen und nicht nach den Resultaten beurteilt. Nicht nur gut regierte Länder in Afrika werden mit Entwicklungshilfe überschwemmt, sondern auch autoritäre und korruptionsgeneigte Herrschaftssysteme. Die Quantität der Hilfe scheint für viele wichtiger als die Qualität.

In Ihrem Buch "Afrika wird armregiert" schreiben Sie, dass fehlgeleitete Entwicklungshilfe nicht nur keine Besserung bringt, sondern die Lage in den afrikanischen Staaten sogar verschlimmern kann. Wie kann das sein?

Das Ritual des Beschönigens und Beschuldigens verbindet herrschende Klassen und weiße Helfer. Auch heute noch bekommen korrupte Herrscher Entwicklungshilfe, obwohl sie mehr Energie dafür aufbringen, ihr Volk zu unterdrücken, als Perspektiven, vor allem Jobs zu schaffen.
Es geht nicht darum, dass "wir" für afrikanische Entwicklungsprobleme europäische Lösungen anbieten. Afrika besteht aus 54 einzelnen Staaten, jeder mit seiner individuellen Konstellation und Struktur. Jedes Land muss eigene Lösungswege für sein Problem finden, die zu seiner Kultur passen. Es darf nicht immer, wenn es Probleme gibt, zuerst nach den Gebern gerufen werden. Das ist natürlich verführerisch, denn weltweit lebt etwa eine Million Menschen davon, dass sie für Entwicklungshilfe Organisationen arbeiten. Der Motor der Hilfsindustrie wird gerne angeworfen, um den Regierungen die Aufgabe abzunehmen, sich endlich Gedanken zu machen wie sie das Schicksal ihrer Bevölkerungen verbessern könnten.

Welche Erfahrungen haben Sie mit den betroffenen Menschen in Afrika gemacht - was halten diese von den immer neuen Entwicklungsprojekten, mit denen westliche Experten und Regierungen an ihrem Kontinent ‚herumdoktern‘?

Die meisten meiner afrikanischen Freunde glauben, dass die Entwicklungshilfeindustrie versucht, den Status quo in Afrika beizubehalten, da sie sonst ihre Daseinsberechtigung verliert. Wozu gibt es das Berufsbild des Entwicklungshelfers? Weil wir uns nie wieder entbehrlich machen wollen. Junge Afrikaner werfen uns doch heute schon vor, dass wir Entwicklungszusammenarbeit in der heutigen Form nicht deshalb leisten, weil wir von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind, sondern weil es für uns der einfachste und billigste Weg sei, Engagement gegen Armut und Ungerechtigkeit in der Welt zu demonstrieren. Es hat sich eine arrogante Geberkultur entwickelt und die Entwicklungshelfer haben lange so getan, als könnten sie immer alle Probleme lösen. Dadurch verloren viele Menschen den Sinn für Eigenverantwortung. Entwicklungshilfe (natürlich spreche ich nicht von Nothilfe) wurde zum Ersatz für Steuern. Den Afrikanern wird immer wieder eingeredet, dass sie ihre Probleme nicht selbst lösen könnten. Aber welche Rolle spielen schon Meinungen von Afrikanern, wenn Weiße beschließen, ihnen zu "helfen”?

Viele Afrikaner kennen durch die täglichen TV Sendungen aus Europa die Verhältnisse im Westen genau. Und sie sind zunehmend frustriert, weil ihre Wahrnehmung der Lebensrealität nicht im Einklang zu bringen ist mit der Form, wie sie regiert werden. Diese Kluft der wirtschaftlichen und politischen Lebensumstände wird immer größer werden, denn Reformen sind von den Autokraten nicht zu erwarten. Die mehrheitlich jungen Afrikanerinnen und Afrikaner haben genug von Erklärungen und deren inhaltsscheue Gewundenheit und machen sich deshalb auf den Weg zu uns, da sie an der Fähigkeit der Führungseliten zweifeln, sich um ihre Probleme zu kümmern. Für die Regierungen ist die Flucht kein Alarmzeichen, sondern willkommen, da die Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit nach Europa exportiert werden können.

In Ihrem Kommentar zum Artikel "Entwicklungshilfe? Ja bitte!" kritisieren Sie auch die "Entwicklungshilfeindustrie", die vom Geschäft mit der Mildtätigkeit profitiert. Wen meinen Sie damit konkret?

In erster Linie staatliche Hilfe. Weil sich nur noch wenige Medien festangestellte Korrespondenten leisten, wird das Afrikabild von Hilfswerken geprägt. Sie haben einen Sonderstatus, der scheinbar jegliche Kritik verbietet. Es ist unverständlich, wenn derartige Organisationen, die erhebliche wirtschaftliche Eigeninteressen verfolgen, sich nicht damit anfreunden können, dass das eigene Handeln kritisch hinterfragt werden darf. Aus welchem Grunde sollten sie über jede Kritik erhaben sein? Die lärm-und reklamefreudige Entwicklungshilfe-Lobby befeuert mit Verve immer wieder die Diskussionen, denn allein in Deutschland leben über 100.000 Menschen von der Entwicklungshilfe. Das Schlimme ist, die Lobbyisten reden nicht nur Unsinn, sondern sie können diesen Unsinn auch durchsetzen.

Die Geberstaaten sind vor 40 Jahren bei den Vereinten Nationen eine Selbstverpflichtung eingegangen. 0,7 Prozent am Bruttonationaleinkommen sollte der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Entwicklungshilfe betragen. Seitdem gelten diese 0,7 Prozent als magische Zahl für erfolgreiche Hilfe. Das schlimmste an der Diskussion: Sie konzentriert sich auf finanzielle Größen - und leistet dem verheerenden Denken Vorschub, mehr Geld bedeute mehr Entwicklung. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, dass sich Entwicklung von außen nicht steuern lässt, werden nicht zur Kenntnis genommen. Es gibt keine überzeugenden Argumente für immer mehr Geld, wenn die Impulse für Entwicklung nicht aus dem Land selbst kommen. Wenn Entwicklungshelfer nach eigenen Erfahrungen die Sinnhaftigkeit der Hilfe in Frage stellen, wird dies von einer angstbesetzten Hierarchie als Illoyalität vorgehalten.

Ist es bei den zahlreichen Problemen sinnvoll, überhaupt Entwicklungshilfe zu leisten?

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Hilfe. Aber wenn Entwicklungshilfe sinnvoll sein soll, dann dürfen wir nur noch dort unterstützen, wo es eigenständige Initiativen und Lösungen gibt. Es ist die Aufgabe der Afrikaner ihre eigene Entwicklung voranzutreiben, aber es ist unsere Aufgabe, dort wo Eigenverantwortung im Vordergrund steht, daran teilzuhaben.

Afrikas Elendsklischees verkaufen sich sehr gut. Das konstruierte Bild vom hilfsbedürftigen Afrika ist ein Produkt des politischen Lobbyismus "Für Afrika”. Ist ein Fotograf in der Nähe, ist die Selbstinszenierung der wohltätigen Weltenretter perfekt. Die Aufmerksamkeit für die eigene Marke ist gesichert. Die Folge ist, dass Afrika-Politik oft an der auf das "Helfen” reduzierten Oberfläche bleibt. Mit der höheren Moralität des eigenen Standpunktes wird begründet, dass die wohlhabenden Länder eine Verpflichtung haben die Entwicklung der ärmeren Länder voranzubringen. Inzwischen gibt es aber auch zahlreiche Afrikaner, die die Verlogenheit der florierenden Hilfsbranche anprangern, die die passive Lebenseinstellung von Bedürftigen noch fördert. Afrikas Jugend ist schlecht ausgebildet und Bildung genießt trotzdem in den meisten Staaten keine Priorität. Dabei ist Bildung das einzige Mittel des Widerstandes gegen das Schicksal.

Angesichts der ernüchternden Bilanz, die Sie hinsichtlich staatlicher Entwicklungshilfe ziehen: Ist es überhaupt möglich, auf vernünftige Entwicklungshilfe unserer Regierung zu vertrauen oder stehen wir als Privatpersonen vielmehr selbst in der Verantwortung - etwa in dem wir im Supermarkt eher einmal zu der Fairtrade-Sorte greifen, auch wenn es ein paar Cent mehr kostet?

"Fair Trade” und auch "Cotton made in Afrika” sehe ich positiv. Man kann sich auch persönlich engagieren. Aber nach meinen Erfahrungen sind Projekte schief gegangen, wenn nicht sichergestellt werden kann, dass ein - auch nicht zu geringer finanzieller - Beitrag von den Empfängern geleistet wird. Es müssen Maßstäbe zur Selbsthilfe gesetzt werden: Menschen, die in einem System aufgewachsen sind, in dem sie sich über Jahrzehnte mit bestehenden erheblichen Missständen abfinden mussten, fehlt oft der Antrieb. Sie müssen ermutigt werden. Unbedingt müssen aber die Bewohner und die Kommune zum Beispiel eine Schule akzeptieren und zumindest einen Teil der Folgekosten tragen. Die Hoffnung, die Leute werden schon kooperieren, wenn die Schule einmal steht, kann zu einem weiteren Fehlschlag führen.

Ich empfehle folgende Hilfsmöglichkeit: In vielen Staaten ist Afrikanern nicht möglich das Studium ihrer Kinder eigenständig zu finanzieren. Hier hilft unter anderem der Verein ZIKOMO ("Danke”) in Graz. Es werden afrikanische Studenten und Studentinnen in ihren Heimatländern gefördert. Studienbezogene Kosten werden übernommen. Die Überwindung der Bildungsarmut bedeutet besonders für die Frauen Selbstvertrauen und eine Chance ihre Situation dauerhaft zu ändern. Mit Stipendien kann auch der Abwanderung des hochqualifizierten akademischen Nachwuchses aus ökonomischen Gründen entgegen gewirkt werden. Auf diese künftigen Fach-und Führungskräfte, insbesondere im naturwissenschaftlich technischen Bereich, sind die Länder dringend angewiesen.

In Ihrem Buch kommen Sie zu dem Schluss, dass Entwicklungshilfe an gute Regierungsführung in den Empfängerländern geknüpft werden müsse, sogenannte good governance-Kriterien. Nur die afrikanischen Regierungen, die eine verantwortungsbewusste und am Wohl ihrer Völker orientierte Politik betreiben, sollten Hilfen erhalten, so die Aussage. Ich kann Ihr Argument nachvollziehen, dass die afrikanischen Eliten nur so eigene Verantwortung übernehmen können. Dabei frage ich mich aber: Lassen wir so nicht gerade die Menschen allein, die unter korrupten und unfähigen Regimen leiden und am meisten auf Hilfe von außen angewiesen sind?

Autokratische Systeme, deren Potentaten in Schmiergeldern und Milliarden zum Beispiel aus Öl oder Mineralien ersticken, sollten keine Entwicklungshilfe mehr bekommen. Von den 133,5 Milliarden Dollar die 2011 an staatlicher Entwicklungshilfe von den Gebern gezahlt wurden, kommen höchstens 20 Prozent bei den Bedürftigen an. Wir sollten endlich umdenken und künftig nur noch dort helfen, wo sich Regierungen ihren Bevölkerungen verpflichtet fühlen.

Aber auch Wohltätigkeit ohne echte Selbsthilfe geht nicht an die Wurzeln der Armut. Wirksam helfen kann man nach meinen Erfahrungen, wenn man sich selbstlos an den wahren Bedürfnissen der eigentlichen Empfänger orientiert und ihnen hilft sich aus der Abhängigkeit zu befreien. Die effizienteste Hilfe ist Bildung und Wirtschaftsförderung. Mit Krediten könnten dann Zement, Konserven, Saft- oder Zuckerfabriken errichtet werden. In Kamerun werden Tonnen von Gemüse exportiert, die dann in Frankreich in die Dose kommen. Warum kann das Gemüse nicht in Afrika verarbeitet und dann exportiert werden?

Welche Perspektiven sehen Sie für die afrikanischen Staaten - ist eine Verbesserung über kurz oder lang in Sicht?

Es ist unbestreitbar, dass es Fortschritte gibt. Fast überall in Afrika wächst eine Mittelschicht heran, erfolgreiche Händler, Handwerker, Lehrer, Anwälte. Diese Menschen sind nicht reich, sie brauchen keine Hilfe. Aber sie wollen sich auch nicht mehr Regimen unterordnen, die vorgeben, die Nation, den Fortschritt oder den Wohlstand für alle zu vertreten.

Es sind Entwicklungen hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beobachten: Zum Beispiel war früher ein friedlicher Machtwechsel nach knappem Wahlausgang wie in Ghana im Januar 2009 und in Sambia 2011 undenkbar. In Ghana und Sambia wurde er schon zum zweiten Mal geschafft. Auch in anderen afrikanischen Staaten gibt es Hoffnung: Das nigrische Militär hielt Wort und übergab im April 2011 dem legitimierten Präsidenten die Macht. Nationale und internationale Beobachter bestätigten, dass die Wahl friedlich und fair verlaufen ist. Und in Guinea wurde 2010 zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit 1958 ein demokratisch gewählter Präsident vereidigt. Auch der Machtwechsel im Senegal im April 2012 ist ein Erfolg, zumal der Wahlverlierer seine Niederlage noch in der Wahlnacht anerkannt hat.

Ich setze auf die Frauen in Afrika. In allen afrikanischen Ländern südlich der Sahara hängt der Kampf gegen Armut entscheidend von mehr Gleichberechtigung für Frauen ab. Die wenig überzeugenden Ergebnisse der Regierungsverantwortung in den letzten 50 Jahren seit der Unabhängigkeit haben klar gezeigt: Kompetenz kann nicht der Grund dafür sein, warum in Afrika Männer die Regierungen dominieren. Afrika zahlt für die Marginalisierung seiner Frauen einen hohen Preis. Afrikanische Gesellschaften sind immer noch patriarchalisch organisiert. Die Frauen haben sich unterzuordnen. Der Mann ist - nach althergebrachten Denkweisen - der unumstrittene Chef der Familie, selbst wenn die Frau den täglichen Überlebenskampf organisiert.

Es hat sich gezeigt, dass Frauen in Afrika weitaus produktiver sind als Männer, wenn sie Zugang zu Bildung, Besitz, Kredit sowie Recht auf Boden und Erbschaft bekommen. Frauen in Afrika dominieren das Leben, managen Haushalte und tragen die Verantwortung für das Überleben der Familien. Frauen legen mehr Wert auf die Grundversorgung ihrer Kinder. Sie erleben die Auswirkungen von unsauberem Trinkwasser und fehlender Hygiene auf ihre Kinder näher mit. Sie sind - obwohl benachteiligt - die Konstante im Leben ihrer Familie und zuverlässige Arbeiterinnen für den Erhalt und die Weiterentwicklung ihrer Gesellschaft. Sie haben inzwischen erkannt, wie wichtig es ist, dass sie ins Licht der Öffentlichkeit treten und sich zum Beispiel in der Politik engagieren. Die Frauen entdecken, dass sie Rechte haben. Sie gewinnen Selbstvertrauen und die Kraft sich zu wehren. Ein Positivbeispiel: In keinem Land der Welt gibt es mehr Frauen in entscheidenden Positionen als in Ruanda. Das ist einer der Hauptgründe für den Aufstieg des Landes zu einer der fortschrittlichsten Nationen Afrikas. Frauen sind in Entscheidungen eingebunden. Dies befördert Fortschritt und Wachstum erheblich.