Beitrag vom 30.03.2012
FAZ
Stefan Kühl
Paradoxien der Entwicklungshilfe
Industrieländer geben viel Geld, damit ihre "Partner" in den Entwicklungsländern ihre staatlichen Organisationen entwickeln können. Doch so, wie diese Beratungsprojekte heute durchgeführt werden, erreichen sie das Gegenteil: Es kommt nicht zur Stärkung, sondern zur Entmündigung.
Ownership - dieses englische Schlagwort wird zurzeit in der Entwicklungshilfe ganz großgeschrieben. Die durch die Industriestaaten kontrollierten multinationalen und nationalen Entwicklungshilfeorganisationen wollen nicht mehr vorgeben, wie sich die Länder in Afrika, Asien oder Lateinamerika entwickeln sollen. Vielmehr sollen ihre "Projektpartner" vor Ort selbst darüber bestimmen, in welcher Form ihre Energieversorgung sichergestellt, die Alphabetisierungsquote erhöht oder die Wasserversorgung der Bevölkerung verbessert werden soll.
Mit dieser Überlegung reagieren die Entwicklungshilfeorganisationen auf die über Jahrzehnte anhaltende Kritik an der Entwicklungshilfe. Immer wieder ist - zuerst von Kritikern im Westen, jetzt zunehmend auch von afrikanischen und asiatischen Intellektuellen - hervorgehoben worden, dass die Entwicklungshilfegelder letztlich in den Ländern versandeten, dass sie korrupte lokale Eliten stabilisierten, die Entfaltung von Marktkräften blockierten und grundlegende Reformen verhinderten. Auf diese Kritik haben die multinationalen und nationalen Entwicklungshilfeorganisationen reagiert, indem sie das Postulat ausgegeben haben, dass die Entwicklungsprozesse von den Betroffenen letztlich selbst gewollt und getragen werden müssten. Dementsprechend spricht man - jedenfalls wenn man sich politisch korrekt ausdrücken möchte - heutzutage konsequenterweise auch nicht mehr von Entwicklungshilfe, sondern von Entwicklungszusammenarbeit.
Der Gedanke, dass die Betroffenen in den Entwicklungsländern ihr Schicksal selbst in der Hand nehmen sollen, ist alles andere als neu. Schon früh wurde in der Entwicklungshilfe ein chinesisches Sprichwort kolportiert. Wenn man jemandem einen Fisch gebe, so das immer wieder vorgebrachte entwicklungspolitische Mantra, dann habe er für einen Tag etwas zu essen. Wenn man ihm aber beibringe, wie man Fische fängt, habe er für den Rest seines Lebens etwas zu essen.
Heute scheint man wenigstens rhetorisch noch einen Schritt über dieses entwicklungspolitische Mantra hinauszugehen: Man will den Menschen in den Entwicklungsländern selbst überlassen, ob sie überhaupt fischen möchten und in welcher Form sie das Fischen lernen wollen. Auf einer internationalen Konferenz in Paris im Jahr 2005, den Folgekonferenzen in Accra 2008 und 2011 in Busan wurde von fast allen Regierungen der Geber- und Nehmerländer, von den führenden multinationalen Entwicklungshilfeorganisationen und einer Reihe von Netzwerken von Nichtregierungsorganisationen als Leitprinzip festgeschrieben, dass nach fünfzig Jahren Entwicklungshilfe nicht mehr die großen westlichen Entwicklungshilfeorganisationen im "Fahrersitz" sitzen sollen, sondern die Partner in den Entwicklungsländern.
Damit aber die Ministerien, die öffentlichen Verwaltungen, die Unternehmen und die Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungsländer die Verantwortung auch übernehmen können, sollen sie unterstützt werden, indem man ihren Institutionen Beratung zuteilwerden lässt. Die Industriestaaten stellen deswegen einen erheblichen Teil ihres Entwicklungshilfebudgets von insgesamt weit über 100 Milliarden Euro dafür zur Verfügung, dass ihre "Partner" in den Entwicklungsländern ihre staatlichen Organisationen entwickeln, ihr Personal ausbilden oder ihre rechtlichen Rahmenbedingungen verändern können. Aber - und diese Paradoxie der Entwicklungshilfe soll im Folgenden dargestellt werden - durch die Art und Weise, wie diese Beratungsprojekte zurzeit weltweit durchgeführt werden, wird genau der gegenteilige Effekt produziert: Es kommt nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Entmündigung der Projektpartner in den Entwicklungsländern.
Die Regeln des Beratungsgeschäfts in der Entwicklungshilfe
Um zu verstehen, wie es zu dieser Entmündigung kommt, muss man sich klarmachen, dass das milliardenschwere Beratungsgeschäft in den Entwicklungsländern nach anderen Regeln funktioniert als das Beratungsgeschäft in den Industrieländern. Vereinfacht ausgedrückt: In den Industrieländern identifiziert ein Unternehmen oder eine Verwaltung ein spezifisches Problem - zum Beispiel die strategische Neuausrichtung der Organisation, die Restrukturierung einer Abteilung oder die Ausbildung des Personals in neuen Technologien - und engagiert auf eigene Kosten für einige Wochen oder Monate ein Beratungsunternehmen. In Entwicklungsländern werden Beratungsunternehmen in der Regel jedoch nur selten für solche überschaubaren Aufgaben engagiert; stattdessen werden mit Mitteln und mit der technischen Hilfe der großen Geberorganisationen über mehrere Jahre laufende Beratungsprojekte konzipiert. Diese in der Regel mehrere Millionen Euro teuren Beratungsaufträge, die aus einem Paket unterschiedlicher Aufgaben bestehen, werden international ausgeschrieben, und die Beratungsfirma mit dem besten Konzept und den besten Beratern erhält am Ende den Zuschlag.
Man erhofft sich davon, dass die Berater tiefe Einblicke in die Arbeit des Klienten erhalten und dass sich ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Berater und Klient entwickelt. Für die Weltbank, die regionalen afrikanischen, lateinamerikanischen, asiatischen und europäischen Entwicklungsbanken und die vielen nationalen Entwicklungshilfeagenturen hat die Form der Projektanlage jedoch vorrangig einen großen Vorteil: Man braucht sich als Geber nur einmal zu Beginn des Projektes um die Beauftragung zu kümmern und muss - jedenfalls wenn alles gut läuft - nur noch die regelmäßige Auszahlung des Honorars an die Berater sicherstellen. Die Arbeit mit einer Vielzahl von kleineren Beratungsprojekten, für die dann jeweils spezialisierte Berater gesucht werden müssen, erspart man sich. In der Szene der Entwicklungshilfeorganisationen nennt man das die "Ausnutzung von Skaleneffekten" durch die Konzipierung möglichst groß dimensionierter Projekte.
Beratungsfirmen als Lebenslaufsammelstellen
Für die einzelnen Beratungsunternehmen in der Entwicklungshilfe ist es jedoch nahezu unmöglich, Kompetenzen in all den unterschiedlichen Feldern auszubilden, die in einem Entwicklungshilfeprojekt gebündelt sind. Schließlich rentiert es sich für die Beratungsfirmen nicht, "auf Vorrat" Mitarbeiter mit spezifischen Länderkenntnissen für so unterschiedliche Felder wie Organisationsentwicklung, Fachtraining für Personal, Rechtsberatung und Zielgruppensensibilisierung einzustellen. Die Beschäftigung eines festen Stammes von Beratern wäre eine starke finanzielle Belastung, weil es für die meisten Firmen völlig unkalkulierbar ist, wie viele und welche Aufträge sie im Ausschreibungsgeschäft gewinnen werden.
Stattdessen haben die in der Entwicklungshilfe tätigen Beratungsfirmen eine spezielle Kompetenz ausgebildet: das Erstellen von vielversprechenden Angeboten für die Ausschreibungen der Entwicklungshilfeorganisationen. Nicht selten bestehen die Unternehmen, die sich um die großen Beratungsaufträge bewerben, nur aus wenigen festangestellten Mitarbeitern, deren Kompetenz darin besteht, möglichst viele Lebensläufe von freien Beratern zu sammeln, Kontakte zu lokalen Beratungsunternehmen in den Entwicklungsländern zu pflegen und das alles zu einem attraktiven Angebot auf eine Ausschreibung eines großen Entwicklungshilfeprojektes zusammenzustellen. Nicht wenige Beratungsfirmen in der Entwicklungszusammenarbeit werden deswegen wohl auch zu Recht als "Lebenslaufsammelstellen" bezeichnet, die je nach ihrem Erfolg im Ausschreibungsgeschäft wachsen oder schrumpfen.
Die in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Beratungsunternehmen beherrschen das Aufhübschen von Konzepten und Plänen also noch besser als ihre in dieser Hinsicht auch nicht gerade stümperhaft agierenden Pendants in der westlichen Hemisphäre. Während es in Europa oder Nordamerika üblich ist, dass Beratungsunternehmen ihren Kunden ihr Vorgehen in einem Gespräch genau erläutern und dabei eher papierarm arbeiten, bekommen in der Entwicklungszusammenarbeit die Kunden ihre potentiellen Berater während der Ausschreibungsphase häufig gar nicht zu Gesicht, sondern werden stattdessen mit auf Hochglanzpapier gedruckten Konzeptpapieren beeindruckt. Während die Berater, die für westliche Unternehmen oder Verwaltungen arbeiten, häufig nur über einen sehr kurzen oder gar keinen Lebenslauf verfügen, haben in der Entwicklungszusammenarbeit allein aus Darstellungsgründen schon vierzigjährige Berater Lebensläufe, die über zehn oder mehr Seiten gehen.
Die Entwicklungshilfeorganisationen beobachten dann zwar, dass die für die Ausschreibungen produzierten Konzepte häufig wenig mit der späteren Projektrealität zu tun haben, dass die Lebensläufe der Experten aufgeblasen wurden und dass der im Angebot der Beratungsfirma aufgeführte international renommierte Experte nach Erhalt des Zuschlags plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht. Aber die Schuld dafür wird den jeweiligen "tricksenden" Beratungsunternehmen gegeben. Dass es die Entwicklungshilfeorganisationen selbst sind, die durch ihre großformatigen Ausschreibungen die Ausbildung dieser spezifischen Schauseitenkompetenz in der entwicklungspolitischen Beratungsindustrie geradezu befördern, wird gern übersehen.
Die Produktion von zwei Welten einer Organisation
Das Problem ist nicht vorrangig, dass aufgrund dieser Logik der entwicklungspolitischen Beratungsindustrie eine ganze Reihe von Beratungsprojekten scheitert. Anders als bei den "weißen Elefanten" - den durch Entwicklungshilfe finanzierten, aber nach wenigen Jahren nicht mehr funktionsfähigen Kraftwerken, Staudämmen oder Fabrikanlagen - wird die Nutzlosigkeit von Beratungsprojekten in der Regel nicht breit sichtbar. Vor Ort als weitgehend erfolglos betrachtete Einsätze lassen sich im Reportwesen der Entwicklungshilfeorganisationen häufig noch als ein teilweiser Erfolg darstellen. Und wenn ein Projekt wirklich einmal grandios gescheitert ist, braucht man den Fehler nicht in der eigenen Beratungsarchitektur zu suchen, sondern kann ihn - ganz im Sinne der populären systemischen Beratungsphilosophie - bei den widerständigen Klienten in den Entwicklungsländern oder bei den sich verschlechternden politischen Rahmenbedingungen identifizieren.
Das zentrale Problem der Beratungsarchitektur in der Entwicklungszusammenarbeit besteht darin, dass die eigentlich als Nutznießer gedachten Organisationen in den Entwicklungsländern durch die langjährigen Beratungsprojekte entmündigt werden. Hat die westliche Entwicklungshilfeagentur das Großprojekt erst einmal an ein Beratungsunternehmen vergeben, dann gibt es für ein Bildungsministerium in Ghana, den Leiter eines Straßenbauamtes in Vietnam oder ein Wasserunternehmen in Mexiko kaum noch eine Möglichkeit, das für mehrere Jahre engagierte Beratungsteam wieder loszuwerden.
Sicherlich können Berater auch unter den Bedingungen der Vergabe von langjährigen und komplexen Projekten gute Arbeit leisten, aber nicht selten entsteht durch den Einsatz der Beratungsfirmen in den zu beratenden Unternehmen, Verwaltungen oder Ministerien eine Parallelstruktur. Die Berater sitzen bei ihren Kunden in eigenen Büros, produzieren eine Vielzahl von Berichten für die Geberorganisation, haben aber keinen oder nur begrenzten Zugang zu den relevanten Entscheidungsprozessen ihrer Klienten. Bestenfalls ist diese Parallelstruktur mehr oder minder nutzlos, schlimmstenfalls wird die Arbeit der Organisation im Entwicklungsland durch die Parallelstruktur blockiert. Aber weil die Beratungsprojekte in der Regel nicht von den Entwicklungshilfeorganisationen der Nehmerländer selbst, sondern aus Steuergeldern der Industriestaaten bezahlt werden, ertragen die Organisationen in den Entwicklungsländern die Berater. Die Projektmanager der westlichen Entwicklungshilfeorganisationen wundern sich vielleicht, weswegen ihre Partner in den Entwicklungsländern angesichts dieser offensichtlichen Wirkungslosigkeit nicht gegen diese nutzlose Form der Beratung rebellieren. Aber weswegen sollten sie es tun - schließlich sind es ja nicht "ihre" Berater.
Beratungsmaßnahmen als Mittel zur Entmündigung
Dass Qualität und Umfang von Dienstleistungen häufig nicht vorrangig durch die Anforderungen eines Kunden, sondern maßgeblich durch die eigenen Interessen des Dienstleisters bestimmt werden, ist in der Organisationsforschung allgemein bekannt. Die Software-Lösungen, die IT-Unternehmen ihren in der Wirtschaft tätigen Kunden anbieten, sind selten allein durch deren Wünsche geprägt, sondern spiegeln das Interesse des IT-Unternehmens an einer möglichst effizienten und kostensparenden Entwicklung und Abwicklung des Auftrags wider. Die Organisation der Schule in Jahrgangsklassen mit gleichaltrigen Schülern ist - das zeigen neuere Forschungen - nicht unbedingt das beste Format, weil es systematisch das Lernen von älteren Schülern und das Lernen durch das Belehren jüngerer Schüler verhindert, aber es ist für Schulen selbst am einfachsten zu handhaben. Und letztlich spricht viel für das Aufsetzen von über Jahre gehenden und fast alle Bereiche eines Ministeriums, einer Verwaltung oder eines Unternehmens umfassenden Unterstützungsmaßnahmen, auch wenn diese langfristigen Maßnahmen die Handlungsmöglichkeiten des Klienten einschränken; schließlich gibt dieses Beratungsformat den Entwicklungshilfeorganisationen der Geberländer bei geringen Organisationskosten ein Höchstmaß an Planungssicherheit.
Jetzt hat die Arbeit in den westlichen Entwicklungshilfeorganisationen ihre ganz eigene Logik, der man sich bei der entwicklungspolitischen Planung nicht verschließen darf. Die Entwicklungshilfeorganisationen brauchen Planungssicherheit über ihre Mittelabflüsse, weil nicht ausgegebene Gelder mindestens genauso problematisch sind wie schlecht eingesetzte. Die verantwortlichen Projektmanager in den Entwicklungshilfeorganisationen betreuen häufig eine Vielzahl von Projekten und sind dankbar, wenn sie für ein Projekt nur einen großen Beratungsauftrag ausschreiben und abwickeln müssen. Aber man sollte sich eingestehen, dass diese Beratungsarchitektur zwar für die eigenen Prozesse die kostengünstigste Variante darstellt, die Handlungsmöglichkeiten des Gegenübers in den Entwicklungsländern jedoch dadurch reduziert werden.
Entwicklungshilfeorganisationen wie die Weltbank, die regionalen Entwicklungsbanken oder auch die nationalen Entwicklungsagenturen sollten ein kleines Experiment wagen. Einer ihrer Manager sollte für die eigene Organisation fordern, einen mehrjährigen, die ganze Organisation umfassenden Beratungsauftrag zu vergeben, der so unterschiedliche Aspekte wie Organisationsentwicklung, Personaltraining, EDV-Umstellungen, Rechtsberatungen und Öffentlichkeitsarbeit umfasst und der faktisch nicht kündbar ist. Dies würde nur Kopfschütteln hervorrufen, und der Manager würde darauf hingewiesen, dass man viel stärker mit kleingliedrigen Beratungspaketen arbeiten müsse, die jeweils an spezialisierte Berater vergeben werden und in der Regel deshalb auch nur über wenige Wochen oder Monate laufen sollten. Große mehrjährige Projektpakete würden als unsinnige Maßnahme dargestellt werden, die letztlich die Organisation selbst zu stark an eine Beratungsfirma binden und damit letztlich die eigene Autonomie schwächen würde. Aber genau diesen Autonomieverlust muten die Entwicklungshilfeorganisationen ihren Partnern in den Entwicklungsländern zu.
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Der Autor Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater für Ministerien, Unternehmen und staatliche Entwicklungshilfe-organisationen. Kühl, 1966 in Hamburg geboren, studierte Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ökonomie an der Universität Bielefeld sowie in Baltimore, Paris und Oxford. Nach seiner Promotion in Soziologie gründete er das Beratungsbüro Centra Consult an der Universität von Bangui (Zentralafrikanische Republik) und arbeitete als Senior Consultant bei der Beratungsfirma Metaplan (hig.)