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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 22.01.2011

"Finanz und Wirtschaft" Zürich

Afrikas träge Löwen

Der Kontinent wandelt sich und findet im Rohstoffboom viel Beachtung. Ist das neue Wachstum nur ein Strohfeuer oder dauerhaft? Zweifel sind angebracht.
von Wolfgang Drechsler

Gäbe es den Konjunktiv nicht, für Afrika müsste er erfunden werden. Was an Edelmetallen und anderen Bodenschätzen wertvoll ist, schlummert in seinem Boden. Die Landwirtschaft könnte blühen und gewaltige Überschüsse produzieren. Und allein das Aufstauen des Kongo würde genug Energie freisetzen, um damit fast ganz Afrika zu beleuchten. Die Variationen der Möglichkeitsform beschreiben noch immer das Schicksal des Schwarzen Kontinents - und seiner mittlerweile über eine Milliarde Menschen.
Das Jahrzehnt beginnt wieder einmal mit der Prognose, in Afrika werde es fortan bergauf gehen. Diesmal malt die Unternehmensberatung McKinsey das (zweifellos grosse) Potenzial im Szenario «Lions on the move» in schillernden Farben. Mut mache die Wachstumsbeschleunigung: Das Bruttosozialprodukt auf dem Kontinent ist in den letzten zehn Jahren durchschnittlich 5,7% p. a. geklettert nach nur 2,4% in den zwanzig Jahren zuvor.
Doch die Realität ist weit weniger rosig: Statt seinen Wohlstand zu mehren, ist Afrika seit der Unabhängigkeit vor fünfzig Jahren immer weiter hinter Asien und Lateinamerika zurückgefallen. Das Wachstum wird vor allem von den nordafrikanischen Staaten und einigen wenigen Ölländern wie Angola oder Äquatorialguinea getragen. Berücksichtigt werden muss auch, dass die Vergleichsbasis tief ist. Zudem ist die Verteilung höchst ungleich - die wenigen Reichen sind fast überall reicher, die Masse der Armen hingegen noch ärmer geworden.

Im Ungleichgewicht
Auch die Diversifizierung der fast überall auf einen Rohstoff basierenden Volkswirtschaften ist kaum vorangekommen - und entsprechend fragil die vermeintliche Erholung. Noch immer sind 35 der 48 schwarzafrikanischen Länder Lebensmittelimporteure. Seit den Siebzigerjahren hat sich Afrikas Anteil an den weltweiten Agrarexporten auf unter 4% halbiert. Auch seine Jugend ist nicht etwa eine Talentschmiede und eine neue Konsumschicht, wie McKinsey glaubt, sondern überwiegend arbeitslos und schlecht ausgebildet. Niemand weiß heute, wie angesichts der anhaltenden Abhängigkeit vom Rohstoffexport Jobs geschaffen werden sollen für eine Bevölkerung, die bis 2030 um weitere 50% auf 1,5 Mrd. wachsen dürfte.
Trotz einzelner Fortschritte wie der erfolgreichen Ausrichtung der Fussball-WM in Südafrika prägen Afrika noch immer extreme Armut, Krankheit und Gewalt. Die Weigerung des ivorischen Präsidenten Gbagbo, seine Wahlschlappe im November zu akzeptieren und abzutreten, hat nun ein weiteres Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht - und ist ein deutlicher Beleg dafür, wie labil selbst die früheren Hoffnungsträger des Kontinents sind. Mit der missglückten Wahl in der Elfenbeinküste hat Afrikas ohnehin sehr langsame Annäherung an demokratischere Verhältnisse einen weiteren Rückschlag erlitten, auch wenn jetzt erstmals geschlossen gegen den Wahlverlierer vorgegangen werden soll. In Simbabwe und Kenia wurde genau das fatalerweise verpasst. Dort köcheln die tiefen Krisen ungelöst weiter. Der windelweiche Umgang Afrikas mit seinen Despoten ermuntert geradezu, demokratisches Votum zu missachten.
Die Elfenbeinküste ist ein Versatzstück in einem düsteren Gesamtbild. Im riesigen Kongo, wo 2011 ebenfalls gewählt wird, hat Präsident Kabila die Repressalien gegen die Opposition verschärft. Im Sudan wird es nach dem gerade abgehaltenen Referendum zur zweiten Abspaltung eines Landes in Afrika seit der Entkolonialisierung kommen. Das könnte zum Präzedenzfall für Nigeria werden, wo im April gewählt wird: Wie der Sudan ist Nigeria tief gespalten zwischen einem muslimisch-arabischen Norden und einem christlich-animistischen Süden.
Dass es nur wenige Lichtblicke wie Ghana gibt, liegt am weitgehend fehlenden Demokratiebewusstsein. So werden die Eigenheiten des Nationalstaats europäischer Tradition in Afrika mit traditionellen Normen und Gebräuchen wild gemischt. Geprägt wird dieser bizarre Mix von einer absolutistisch anmutenden Machtfülle der Staatschefs - und einem Verständnis vom Staat, das diesen als Einnahmequelle der herrschenden Volksgruppe oder Familie begreift. Das Wort Gemeinwohl ist im Norden wie im Süden Afrikas bis heute so gut wie unbekannt. Bei Wahlen geht es um existenzielle Fragen: Sie entscheiden über die Möglichkeit, an den Pfründen teilzuhaben. Das fördert die Militanz und verleitet zum Betrug. Abgesehen von der Schmach einer Niederlage bedeutet der Verlust von Macht und Einkommen den Zerfall der Klientel.
Die Unterdrückung fast jeglicher Opposition und das gnadenlose Festklammern der Führer an der Macht hat sowohl im arabischen Norden wie im Süden der Sahara zu verkrusteten Gesellschaftsstrukturen geführt. Statt sie aufzubrechen und ein Maß an Pluralismus zu gewähren, werden kritische Geister in vielen Staaten seit Jahrzehnten eingekerkert oder mundtot gemacht. In Tunesien regierte der nun gestürzte Präsident Ben Ali sein Land fast ein Vierteljahrhundert wie sein persönliches Eigentum. Doch zumindest da ist die Zeit der Untätigkeit vorüber. In Schwarzafrika hat die unverfrorene Selbstbedienungsmentalität der postkolonialen Eliten zur Folge, dass weite Teile des Kontinents wirtschaftlich stagnieren. Im Sudan ist eine Sezession des Südens unvermeidlich, weil die Region von den Machthabern im Norden total vernachlässigt worden ist. Fast alle staatlichen Strukturen müssen jetzt von Grund auf neu errichtet werden. Die Rohstoffe haben daran wenig geändert: Vielmehr ist zu befürchten, dass sich der Ölreichtum des Südsudans nicht als Triebfeder der Entwicklung, sondern als Fluch erweist.

Umdenken nötig
In Nigeria haben die Machthaber die in den letzten vierzig Jahren erhaltenen Öleinnahmen von rund 400 Mrd. $ vergeudet. Die Zahl der Nigerianer, die unter der Armutsgrenze leben, stieg von 19 Mio. 1970 (in einer Bevölkerung von 70 Mio.) auf 90 Mio. (von 125 Mio.). Ähnliches gilt für die Elfenbeinküste. Das einstige Entwicklungsmodell Westafrikas hat zehn verlorene Jahre hinter sich, in denen die Wirtschaft, genau wie in Simbabwe, um fast die Hälfte schrumpfte - und die Zahl der Ivorer unter der Armutsgrenze von 18 auf fast 50% schnellte.
Selbst die optimistischen McKinsey-Ökonomen gestehen ein, dass auch sie nicht wissen, ob das vom weltweiten Rohstoffboom getragene Wachstum in Afrika diesmal dauerhaft ist - oder wieder nur ein Strohfeuer. Ein Kontinent auf den Spuren der asiatischen Tiger? Wenn der Kontinent endlich erkennen würde, dass seine Probleme nicht extern, sondern ganz überwiegend hausgemacht sind und entsprechend handeln würde, könnte sein riesiges Potenzial erschlossen werden. Solange jedoch in Afrika der Konjunktiv regiert und seine machthungrigen Eliten die politischen Strukturen vergiften, wird viel Wasser den Kongo hinabfließen, bis die von McKinsey beschworenen afrikanischen Löwen zum Sprung ansetzen.