Beitrag vom 09.08.2010
FAZ
In Afrika tut sich Unerhörtes
Von Thomas Scheen
Fünfzig Jahre ist es her, dass ein großer Teil der afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen wurde, von Kongo über die Elfenbeinküste bis hin zu Nigeria. Und seit genauso langer Zeit wird den afrikanischen Bevölkerungen von ihren neuen Eliten ein besseres Leben versprochen, ein Leben in Würde und Wohlstand. Doch was sie bekamen, war meist etwas anderes: rücksichtslose Despoten, politische Repression und wirtschaftlicher Verfall.
Viele afrikanische Führer, die einst angetreten waren, ihren Völkern die Freiheit zu bringen, wurden zu Karikaturen der ehemaligen Unterdrücker. "Kaiser" Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik oder "Feldmarschall" Mobutu im damaligen Zaïre sind zwei der bekanntesten Beispiele. Die einzige Konstante, die sich seit dieser Zeit durch die afrikanische Politik zieht, ist das völlige Fehlen von Respekt der Verantwortlichen gegenüber den Menschen dieses Kontinents. Von ihrer Verachtung für das Recht ganz zu schweigen.
Im Vergleich mit den ehemaligen asiatischen Kolonien, die ebenfalls um 1960 in die Unabhängigkeit entlassen wurden, ist die politische und wirtschaftliche Bilanz Afrikas verheerend. Die Asiaten sind aufgrund ihrer Wirtschaftskraft und des damit einhergehenden politischen Gewichts nicht mehr aus der Weltpolitik wegzudenken. Afrika hingegen hält immer noch die Hand auf. Sicher: Es gibt das Beispiel Südafrika und seinen friedlichen Machtwechsel von Weiß zu Schwarz. In Botswana, Tansania, Senegal, Ghana und Mali werden die Ergebnisse von Wahlen respektiert, wenn auch noch nicht seit langer Zeit. Anderswo aber herrschen auf dem Kontinent immer noch Sitten und Gebräuche aus dem Handbuch des Diktators. In Tschad herrscht ein Präsident, der Andersdenkende mit brutaler Gewalt verfolgt, sein Amtskollege in Sudan wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit steckbrieflich gesucht, und im einstigen Vorzeigeland Elfenbeinküste amtiert nach wie vor ein Präsident, dessen reguläre Legislaturperiode vor sechs Jahren zu Ende ging.
Die häufig bemühte Erklärung, Afrikas Zustand sei eine Folge des Postkolonialismus, also des Versuchs der ehemaligen Kolonialmächte, über korrumpierte Eliten den Zugriff auf die Bodenschätze des Kontinents zu bewahren, trifft auf die ersten Jahrzehnte nach der Erlangung der Unabhängigkeit zu. Solange der Kalte Krieg währte, wetteiferten beide Seiten um die Gunst afrikanischer Potentaten. Ebenso wie der Westen versuchte auch die Sowjetunion ihren Einfluss durch Systemexport zu sichern. Die moralische Integrität der afrikanischen Führer wurde nicht hinterfragt, solange sie nur dem "richtigen" Lager angehörten. Doch diese Zeit endete auch für Afrika mit dem Fall der Berliner Mauer. Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Der Kalte Krieg hat als Ausrede endgültig ausgedient.
Als ein weiterer Grund dafür, warum es in Afrika nicht vorwärtsgeht, wird die Einführung des Mehrparteiensystems zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts angeführt. Afrika, so heißt es, sei nicht geschaffen für die Demokratie und erst recht nicht für Mehrparteiensysteme. Weil es soziale Schichtungen, wie sie Europa in Jahrhunderten herausgebildet habe, in afrikanischen Gesellschaften nicht gebe, würden politische Gegensätze immer über ethnische Zugehörigkeiten entschieden, was den Zusammenhalt der Staaten gefährde.
Richtig daran ist, dass ein auf Parteiprogrammen und damit auf konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen basierendes Mehrparteiensystem in Afrika keine Tradition hat. Tatsächlich ist aufgrund nicht existierender staatlicher Sozialsysteme die ethnische Zugehörigkeit die einzige verlässliche Konstante im Leben vieler Afrikaner, was die Virulenz der ethnisch motivierten Auseinandersetzungen erklärt.
Falsch an dieser Annahme aber ist der intellektuelle Kurzschluss, Afrika sei deshalb nicht geschaffen für demokratische Regierungsformen. Das Gegenteil ist der Fall. Warum sonst wohl lassen sich die Anhänger der Opposition in Zimbabwe jahrelang verprügeln, und warum gingen so viele Kenianer auf die Straße, um endlich eine neue und zeitgemäße Verfassung zu erzwingen? Die ethnische Komponente der afrikanischen Politik wird in dem Maß zurückgehen, in dem die Länder sich wirtschaftlich entwickeln und ihre Bürger aus der Armut herausholen.
Den Wohlstand der breiten Massen zu heben muss deshalb die vordringliche Aufgabe der afrikanischen Eliten sein. In dieser Hinsicht hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Afrika, nicht zuletzt durch die Einführung von Mobilfunk und Internet, Unerhörtes getan. Überall auf dem Kontinent entsteht ein neuer Mittelstand, der öffentlich Vergleiche anstellt mit gesellschaftlichen Entwicklungen in anderen Weltgegenden und damit die Haftungsfrage an die eigenen Eliten verbindet. Doch mit einer Antwort tun diese sich schwer. "L'Afrique de Papa", also die unbedingte Autoritätshörigkeit, ist keine Kategorie mehr, in der junge Afrikaner denken. Die Alten haben das noch nicht bemerkt.