Beitrag vom 12.04.2010
ARD.de
Afrika: 50 Jahre Unabhängigkeit
Volker Seitz im Interview
"Entwicklungshilfe zementiert die Unmündigkeit Afrikas"
Benin, Niger, zuletzt Kamerun: Volker Seitz hat 17 Jahre als Diplomat in Afrika gelebt und gearbeitet. Heute kritisiert er die jahrzehntelang ausgeübte Praxis der Entwicklungshilfe - und fordert ihre Reform: "Wahre Freundschaft gegenüber Afrika muss in Zukunft kritische Zusammenarbeit bedeuten".
ARD.de: Sie bescheinigen vielen afrikanischen Machteliten mangelndes Interesse, Probleme wie Korruption, Intransparenz und Analphabetismus zu beseitigen. Wie sinnvoll ist Entwicklungszusammenarbeit unter solchen Bedingungen überhaupt noch?
Volker Seitz: Ich habe als Diplomat in Afrika sehr viele Jahre geglaubt, dass wir die richtige Entwicklungspolitik betreiben - und deshalb habe ich die Maßnahmen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) unterstützt. Doch mit der Zeit ist mir klar geworden, dass die Entwicklungszusammenarbeit der Industrieländer in den vergangenen 50 Jahren kein geeignetes Instrument zur Selbsthilfe war. So wie sie in der Vergangenheit betrieben wurde, ist Entwicklungspolitik jedenfalls nicht nur nicht zielführend, sondern sogar kontraproduktiv.
In Ihrem Buch gehen Sie mit Ihrer Kritik an den Industriestaaten sogar noch weiter. Den internationalen Entscheidungsträgern werfen Sie vor, Afrikas Probleme nicht lösen zu wollen - es gelte gar als "politisch unkorrekt", diese überhaupt zu benennen. Wie lässt sich das erklären?
Als Botschafter in Kamerun habe ich das BMZ oft über Fehlentwicklungen informiert. Doch jedes Infragestellen der Entwicklungszusammenarbeit war unerwünscht, da dies den Finanztransfer ins Stocken bringen könnte. Und wenn das Geld nicht ausgegeben werden kann, dann können auch unmöglich immer mehr Mittel vom Finanzminister verlangt werden. Auf diese Weise halten wir eine gut funktionierende "Zusammenarbeit" zwischen einer florierenden Hilfsindustrie und den afrikanischen Machteliten am Leben - zum beiderseitigen Nutzen.
Dass afrikanische Machteliten davon profitieren, liegt auf der Hand - aber worin liegt der Nutzen für uns?
Einmal abgesehen von handfesten wirtschaftlichen Interessen: Wir können auf diese Weise unser Gewissen beruhigen. Viele junge Afrikaner werfen uns doch heute schon vor, dass wir Entwicklungszusammenarbeit in der heutigen Form nicht deshalb leisten, weil wir von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind, sondern weil es für uns der einfachste und billigste Weg sei, Engagement gegen Armut und Ungerechtigkeit in der Welt zu demonstrieren.
Nennen Sie bitte ein Beispiel für eine fehlgeleitete Entwicklungszusammenarbeit.
Es ist vielen afrikanischen Ministern nicht einmal peinlich, einen ansehnlichen Betrag dafür zu fordern, dass sie ein Entwicklungsprojekt, etwa eine Schule, einweihen. Da ist es kaum verwunderlich, dass solche Projekte wieder verkümmern, sobald die ausländischen Experten weggegangen sind. Besonders deutlich wird die Fehlentwicklung anhand der so genannten Budgethilfe.
Was verbirgt sich dahinter?
Die Budgethilfe wurde erfunden, um Entwicklungsgelder besser abfließen zu lassen. Es sind finanzielle Hilfen, die direkt in den Haushalt afrikanischer Staaten einfließen - oft ohne dass dafür überhaupt Bedingungen gestellt werden, wofür diese Gelder eingesetzt werden müssen. Und selbst wenn dies geschieht, wird anschließend nicht kontrolliert, ob die Hilfen vereinbarungsgemäß eingesetzt wurden. Deshalb sind Budgethilfen nur dann richtig, wenn auf der Empfängerseite kompetente Institutionen und nationale Instanzen wie Rechnungshöfe oder unabhängige Parlamente bestehen, die ihre Regierungen kontrollieren. Dies ist jedoch fast nirgendwo der Fall - und nur in wenigen Ländern wie etwa Ruanda oder Ghana gehen die Führungseliten verantwortungsvoll mit dem Geld um.
Die Probleme entspringen also dem Zwang, dass einmal für Entwicklungszusammenarbeit bewilligtes Geld auf "Teufel komm raus" ausgegeben werden muss?
Genau. Warum sollten die Regime die Probleme ihres Landes lösen, wenn sie mit fremder Hilfe rechnen können? Warum sollte es nicht möglich sein, von einer Regierung zu verlangen, dass sie zunächst mit eigenen Mitteln etwa ein Krankenhaus errichtet, ehe zusätzliche Gelder bewilligt werden? Allerdings wird sich dann ein weiteres, bislang verdecktes Problem zeigen: Viele Machteliten haben gar kein echtes Interesse daran, dass Krankenhäuser in ihren Ländern gebaut werden. Wenn sie krank werden, sind sie - im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Bevölkerung - nicht auf ihr eigenes, völlig desolates Gesundheitssystem angewiesen. Stattdessen lassen sie sich lieber in Frankreich, der Schweiz oder den USA behandeln.
Bleiben wir beim Beispiel Krankenhausbau - auf welche Weise kann Entwicklungspolitik die Initiativen vor Ort fördern?
Indem sie darauf drängt, dass Regierungen die Bevölkerung an den Entwicklungsanstrengungen beteiligen. Heute wird ein Krankenhaus von einer Hilfsorganisation geplant, von der Regierung gebilligt und die Bevölkerung darf applaudieren, wenn es eingeweiht wird. Da es ohne Beteiligung der Bevölkerung gebaut wird - und oft auch an ihren Bedürfnissen vorbei -, verfällt es jedoch nach kurzer Zeit, bis ein beflissener Geldgeber sich bereiterklärt, Haus und Geräte zu erneuern. So zementieren wir die Unmündigkeit der Armen. Wenn die Bevölkerung dagegen mit Hand anlegen würde, wäre es auch ihr Krankenhaus.
"Wir haben das Gute mit guter Absicht verwechselt"
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie "kein Problem Afrikas kennen, das nicht direkt oder indirekt auf die fehlende Bildung zurückzuführen ist". Doch gerade dieses Hauptproblem sei noch immer nicht ernsthaft angegangen worden. Haben afrikanische Regierungen kein Interesse an einer gebildeten Bevölkerung?
Dies trifft in der Tat auf viele Regime zu. Das verdeutlicht schon die Tatsache, dass es in ganz Afrika gerade einmal 100 Wirtschaftshochschulen gibt. Genauso wie bei den Krankenhäusern kümmert das die Machteliten jedoch nicht, weil ihre eigenen Kinder ohnehin in Europa oder in den USA studieren.
Sehen afrikanische Machteliten eine gebildete Bevölkerung also bloß als nicht notwendig an?
Leider nein, das Problem ist tiefgreifender. Nicht wenige Regierungen blockieren das Bildungswesen ihrer Länder ganz bewusst - aus Angst vor einer gebildeten neuen Generation. Gut ausgebildete junge Afrikaner lassen sich nicht mehr manipulieren, sie fordern Rechte. Heute lernen die Menschen nicht, wie sie sich gegen Korruption wehren können, was Demokratie bedeutet, wie sie Computer benutzen oder wie sie sich vor Aids, Tuberkulose oder Malaria schützen können. Für viele Regierungen ist die Flucht der Jugend nach Europa auch kein Alarmzeichen, sondern willkommen, da auf diese Weise Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit exportiert werden. Sie werden dadurch den Druck los.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann geht es also auch um einen Generationenkonflikt: junge Bildungselite gegen alte Machtelite.
Stimmt. Der ghanaische Wirtschaftswissenschaftler George Ayittey hat ein treffendes Bild gefunden. Er bezeichnet Afrikas junge, gut ausgebildete Bildungselite als "Geparden-Generation", weil sie sich schneller bewegt als die "Flusspferd-Generation", die vielerorts noch an der Macht ist. "Flusspferde" beklagten sich immer noch über den Kolonialismus und Imperialismus, während "Geparden" Demokratie, Transparenz und ein Ende der Korruption forderten.
Die "Geparden" kommen in den bestehenden autoritären Strukturen kaum zum Zug. Welche Hoffnungen legen Sie in diese neue Generation?
Sie wird eines Tages an die Macht kommen. Wir müssen uns dann fragen lassen, warum wir wider besseres Wissen die korrupten alten Männer, die teils jahrzehntelang Macht und Kontrolle über die Bevölkerungen hatten, so lange unterstützt haben. Es ist jetzt dringend geboten, dass die Verantwortlichen der Entwicklungszusammenarbeit mit den "Geparden" sprechen, die immer wieder betonen, dass es in Ländern ohne gefestigte Gewaltenteilung und redliche Haushaltsführung weiterhin Ungerechtigkeiten und Fluchtbewegungen geben wird. Missstände sowohl in unserer Entwicklungshilfeindustrie als auch in Afrika dürfen nicht weiter beschönigt werden.
Wenn unsere Entwicklungsgelder autoritäre Machtstrukturen, Korruption und mangelhafte Wirtschaftspolitik zementieren, dann stellt sich die Frage, welches Interesse wir an einem zerrütteten und abhängigen Afrika haben.
Ich glaube nicht, dass wir bewusst freie, unabhängige Staaten verhindern wollen. Aber Wohltätigkeit ohne echte Selbsthilfe geht nicht an die Wurzeln der Armut. Wirksam helfen kann man nach meinen Erfahrungen nur, wenn man sich selbstlos an den wahren Bedürfnissen der eigentlichen Empfänger orientiert. Wahre Freundschaft gegenüber Afrika muss in Zukunft kritische Zusammenarbeit bedeuten.
Es ist in Europa gängige Praxis, Korruption in afrikanischen Ländern als kulturelles und unlösbares Problem darzustellen. Warum kommen wir nicht weg von solchen kurios anmutenden Erklärungsversuchen?
Ich weiß es nicht, aber diese Vorstellung begegnet mir immer wieder. Ich halte das für eine schon an Rassismus grenzende Beleidigung der Afrikaner. In den erfolgreichen Staaten wie Ruanda und Botswana gibt es kaum Korruption, weil sie schwer bestraft wird. Der frühere Staatschef von Botswana, Festus Mogue, hat sich nachweislich während seiner zehnjährigen Präsidentschaft nicht bereichert. Als er aus dem Amt ausschied, stand er kurz vor der Privatinsolvenz.
Wie sollte die Hilfe für Afrika konkret aussehen?
Die effizienteste Hilfe ist immer noch die Bildungs- und Wirtschaftsförderung. Ein größerer Teil der jährlich über sechs Milliarden Euro deutscher Hilfe könnte in Risikokapital umgewandelt werden. Mit Krediten könnten dann etwa Konserven- oder Zuckerfabriken errichtet werden. Das würde die Menschen eher aus der Armut befreien. In Kamerun werden Tonnen von Gemüse exportiert, die dann in Frankreich in die Dose kommen. Warum kann das Gemüse nicht in Afrika verarbeitet und dann exportiert werden?
Ist Dirk Niebel der richtige Mann, um die Entwicklungszusammenarbeit künftig in sinnvolle Bahnen zu lenken?
Ich hatte die Möglichkeit mit Minister Niebel zu sprechen und bin guter Hoffnung, dass er künftig afrikanische Länder bevorzugt, in denen die Eliten Lösungen im eigenen Land suchen und vor allem die Bedürfnisse ihrer eigenen Bevölkerung ernster nehmen. Es ist zu begrüßen, dass er die Wirksamkeit des Geldverteilens in Frage stellt und stattdessen nach neuen, tauglichen Wegen sucht, um endlich eine eigenständige Entwicklung in Afrika in Gang zu setzen. Wir sollten in Zukunft nur noch Bildung, Aufbau demokratischer Strukturen, Kleinkredite und arbeitsintensive Beschäftigungsprogramme unterstützen. Viel zu lange haben wir das Gute mit der guten Absicht verwechselt.
Das Interview führte Ellen Hoffers.
Volker Seitz
Jahrgang 1943, hat als deutscher Diplomat in verschiedenen afrikanischen Ländern gelebt und gearbeitet. Bis zu seiner Pensionierung war er als deutscher Botschafter in Kamerun tätig (2004-2008). Er ist Autor des Buches "Afrika wird armregiert" (aktualisierte und erweiterte Neuauflage 2010), in dem er sich für eine Reform der Entwicklungszusammenarbeit - früher "Entwicklungshilfe" - einsetzt.