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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 18.08.2008

Süddeutsche Zeitung

Kampf gegen Armut mit falschen Mitteln

Die deutsche Entwicklungshilfepolitik "von oben" ist gescheitert,
notwendig wäre die Förderung von Mikrokrediten für Kleinbauern

Von Winfried Pinger

Bundeskanzlerin Angela Merkel traf im Oktober 2007 in der indischen Metropole Mumbai, ehemals Bombay, eine Gruppe sehr armer Frauen. Diese berichteten, dass sie mit Kleinstkrediten ihre Situation wesentlich verbessern konnten. Ein kleines Beispiel für wirksame Hilfe zur Selbsthilfe.

Der Kanzlerin liegt das Schicksal der Ärmsten in den Entwicklungsländern am Herzen. Und sie engagiert sich, wie das noch kein Kanzler vor ihr getan hat. Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm sagte sie zu, die deutsche Entwicklungshilfe in den kommenden vier Jahren um 750 Millionen Euro jährlich zu erhöhen. Diese Zusage hat sie für 2008 eingehalten und auch für den Entwurf des Bundeshaushalts 2009. Eine solche Steigerung hat es noch nie gegeben. Selbstverständlich sind die Menschen in Deutschland und den Entwicklungsländern davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Steuermittel effizient zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden. Doch hier liegt Merkels Problem. "Mehr Geld" ist nämlich nur die eine Seite der Medaille. Vordringlich müsste die radikale Änderung der Entwicklungszusammenarbeit sein. Dies ist die Aufgabe der Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, ihrer Mitarbeiter und Hunderter angestellter Experten.

Die tiefgreifende Änderung der Entwicklungszusammenarbeit ist überfällig. Wir - auch ich - haben erkennen müssen, dass ein halbes Jahrhundert massiver, personeller und finanzieller Entwicklungshilfe die Situation der Armen und Ärmsten in Afrika nicht verbessert hat. Afrika hat einen großen Reichtum an menschlichen und natürlichen Ressourcen. Trotzdem leidet die Masse der Menschen an extremer Armut und Elend. Die Entwicklungspolitik "von oben" über die korrupten und ineffizienten staatlichen Strukturen in den Entwicklungsländern hat versagt.

Das Gravierendste ist: Wir haben Präsidenten, Regime und "Eliten" gefördert, die mit Härte und Kälte nur ihre eigenen Interessen verfolgten und denen das Schicksal ihrer Völker gleichgültig war. Die "Eliten" konnten sich auf diese Weise an der Macht halten, die eigene Bevölkerung ausbeuten, Rüstungen und Armeen bezahlen und oft auch Nummernkonten in der Schweiz oder in Liech-tenstein bedienen.

Die notwendige Änderung bedeutet, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit auf die Selbsthilfestrukturen der Menschen, auf die Handwerker, Gewerbetreibenden und Kleinbauern konzentrieren muss, also auf eine Entwicklung von unten. Die menschliche Würde gebietet es, dass jeder Einzelne und jede Gesellschaft die Verantwortung für ihre Entwicklung zunächst bei sich selbst suchen. Trotz aller anderslautender Lippenbekenntnisse von Hilfe zur Selbsthilfe hat es eine Entwicklungspolitik, die im Wesentlichen auf die Selbsthilfepotentiale der Armen setzt, nie gegeben. Mehr als 80 Prozent der deutschen Entwicklungshilfe werden nach wie vor "von oben" über die staatliche Bürokratie umgesetzt - neuerdings sogar ohne Zweckbestimmung als pauschale Budgethilfe, ein neues Angebot zur Korruption. Nun war die Hungerkrise, auch in Afrika, der Anlass dafür, dass wiederum die Kanzlerin die Initiative ergriff und für mehr finanzielle Mittel sorgte. Noch in diesem Jahr stellt die Bundesregierung durch Umschichtung dem Entwicklungshilfehaushalt 500 Millionen Euro zur Verfügung - eine gewaltige Kraftanstrengung.

Umso enttäuschender ist das Programm, das die Ministerien dem Bundeskanzleramt zur Verwendung der Mittel vorlegten. Dieses Programm wird von dem alten, gescheiterten Denken geprägt. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass auf 32 Seiten mit keinem einzigen Wort eines der besten Mittel der Armutsbekämpfung und der Ernährungssicherung aus eigener Kraft auch nur erwähnt ist, die Mikrofinanz für Kleinbauern. Mikrofinanzbanken gewähren Armen und Ärmsten, Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden Kleinstkredite ohne jede Sicherheit. Trotzdem liegt die Rückzahlungsquote bei mehr als 98 Prozent, bei kostendeckenden Realzinsen, ohne die diese Banken auf Dauer nicht existieren könnten. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Muhammad Yunus hat mit 7,5 Millionen Kreditnehmern auf dem Lande, 93 Prozent von ihnen Frauen, in Bangladesch bewiesen, dass die Mikrofinanz bei 98,6 Prozent Rückzahlungsquote auch unter korrupten politischen Rahmenbedingungen dazu führt, dass die extreme Armut mit einer Entwicklungshilfe "von unten" beseitigt werden kann. Dies ist auch in Afrika möglich. Yunus ist bereit, seine Erfahrung mit uns und unseren deutschen Mitteln in Afrika zum Aufbau zusätzlicher Mikrofinanzinstitutionen einzusetzen.

Die Kleinbauern könnten mit den Kleinstkrediten einer Mikrofinanzbank besseres Saatgut und Düngemittel finanzieren und dadurch die Produktion sehr schnell steigern. Dies wäre dann erfolgreiche Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung zugleich. Afrika kann sich dann wieder selbst ernähren; außerhalb der Wüsten gibt es in vielen Ländern Zentral- und Südafrikas auch große fruchtbare Landschaften. Mit dieser Konzentration auf die kleinbäuerlichen Strukturen wäre im Übrigen für die Zukunft vermieden, dass bei ähnlichen Hungerkrisen subventionierte Nahrungsmittel aus den Industrieländern die Agrarmärkte in Afrika zerstören.

Geradezu katastrophal wären daher, wie in dem neuen Programm mehrfach vorgesehen, "günstige" Kredite. Zwar scheinen "günstige" Kredite auf Anhieb besonders hilfreich zu sein. Jedoch werden damit die mühsam in den Entwicklungsländern aufgebauten Finanzsysteme einer unfairen Konkurrenz ausgesetzt. Vor allem aber würden die Mikrofinanzinstitutionen, die auf kostendeckende Zinsen angewiesen sind, ruiniert. Im Übrigen: Wer entscheidet über "günstige" Kredite? Der Korruption würden wieder Tür und Tor geöffnet.

Sollten die von der Kanzlerin zugesagten enormen Mittel für Afrika wie bisher ohne entscheidende Wirkung versickern, wird die Zustimmung in Verärgerung umschlagen. Die Legitimationskrise der Entwicklungspolitik würde sich zuspitzen. Der empörte Blick der Bevölkerung würde sich auf die Entwicklungsministerin und die "Entwicklungsexperten" richten. Nicht zu vermeiden wären dann aber auch kritische Fragen an diejenige, die für den Einsatz der zusätzlichen Steuermittel sorgte, die Kanzlerin selbst. Sie bekommt dann ein Problem.