Aller au contenu principal
Pour une autre politique de développement!

Beitrag vom 24.07.2024

NZZ

«Afrika braucht keine Dekolonisierungsdiskurse»

Der Politikwissenschafter Olúfémi Táíwò rechnet in seinem Buch mit der Obsession ab, alle Probleme Afrikas auf westliche Einflüsse zurückführen zu wollen

Kacem El Ghazzali

«Vergessen Sie meine Hautfarbe und nehmen Sie keine Rücksicht darauf!» Mit diesen Worten ermutigt der in Nigeria geborene 67-jährige Olúfémi Táíwò, Professor für afrikanisches politisches Denken an der renommierten Cornell University, seine Studenten zu einem offenen Diskurs. In seinen Seminaren herrscht ein Klima der intellektuellen Freiheit ohne Tabus. «In meinem Unterricht können Sie alles sagen, auch potenziell als rassistisch aufgefasste Dinge – solange Sie Ihren Standpunkt respektvoll begründen», erklärt Táíwò. Dieser Ansatz ist für ihn der Schlüssel zu echtem Philosophieren.

In seinem Buch «Against Decolonisation» rechnet Táíwò auf ebenso scharfsinnige wie streitbare Weise mit dem grassierenden Trend zur «Dekolonisierung» ab. Für ihn ist der Begriff zu einem bedeutungsentleerten Modewort verkommen, das sich in Slogans wie «decolonise the university», «decolonise geography» oder sogar «decolonise the food» manifestiert, ohne ernsthaft zur intellektuellen Debatte beizutragen. Diese Schlagworte definieren den sogenannten «decolonial turn», den Táíwò kritisch hinterfragt.

Táíwò unterscheidet zwei Formen der Dekolonisierung: Die erste Form bedeutet die politische Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien von ihren Kolonialmächten. Dies ist in Afrika weitgehend erreicht. Die zweite, problematischere Form fordert, dass sich die Ex-Kolonien von sämtlichen kulturellen, intellektuellen Einflüssen der Kolonialzeit «reinigen» müssen. Hier setzt Táíwòs Kritik an.

Keine Opfer der Moderne

Ein Kernpunkt seiner Kritik ist, dass die sogenannten Dekolonisierer beispielsweise die Moderne als weiss und damit als etwas intrinsisch Anti-Schwarzes codieren. Diese Position verurteilt Afrikaner dazu, lediglich «Widerständler oder Opfer der Moderne» zu sein, anstatt sich die Moderne kritisch anzueignen. Die «Verabsolutierung des europäischen Kolonialismus» mache Afrikaner zu «permanenten Subalternen in ihrer eigenen Geschichte».

Táíwò attestiert dem Diskurs über die Entkolonialisierung eine reaktionäre Schlagseite. Die unkritische Beschwörung vorkolonialer Traditionen als Hort authentischer Afrikanität führe oft zu einem «Nativismus», der alles «Eigene» von Fremdeinflüssen freihalten wolle. So kritisiert er den ghanaischen Philosophen Kwasi Wiredu, der das afrikanische Denken von angeblich kolonial kontaminierten westlichen Erkenntnissen «reinigen» will. Táíwò sieht darin eine essenzialistische Verkürzung.

Die Vorstellung eines präkolonialen Afrikas, das frei von jeglichen fremden Einflüssen war, ist eine Imagination. In Wirklichkeit gab es schon immer äussere Einflüsse und Ideen, die von Afrikanern aufgegriffen wurden, sei es freiwillig oder unter Zwang.

Ein Beispiel dafür ist der Islam, der heute in vielen Teilen Afrikas heimisch geworden ist und die Kulturen nachhaltig geprägt hat. Die Aneignung und Domestizierung solcher ursprünglich fremder Elemente ist ein natürlicher Prozess kultureller Entwicklung. Eine romantisierende Verklärung eines «reinen» vorkolonialen Zustands blendet die historischen Realitäten aus.

Diesen menschheitsgeschichtlichen Horizont haben auch die grossen antikolonialen Denker im Blick gehabt, von Frantz Fanon über Amílcar Cabral bis Sékou Touré. Sie alle schätzten laut Táíwò die Errungenschaften der Moderne und eigneten sie sich kritisch an – nicht im Dienst weisser Suprematie, sondern um deren universelle Versprechen auch gegen den imperialen Westen selbst zu wenden.

Gerade die humanistische Stossrichtung ihres Denkens werde von den heutigen Dekolonisierern jedoch ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass viele der als genuin afrikanisch reklamierten Ideen in Wirklichkeit europäischen Ursprungs sind – sei es die Beschwörung einer organischen Gemeinschaftlichkeit oder die Zivilisationskritik nach Art Heideggers.

Löschung afrikanischer Denker

Mit seiner «Verabsolutierung des europäischen Kolonialismus» versperre der Dekolonisierungsansatz auch den Blick auf andere Quellen von Unterdrückung, sagt er im Zoom-Gespräch. Praktiken wie Kinderheirat, Kastenwesen oder religiöser Obskurantismus seien nicht ursächlich auf das Kolonialerbe zurückzuführen, sondern eigenständig zu problematisieren. Gerade die Obsession mit der Dekolonisierung vermeintlich westlicher Einflüsse immunisiere solche Traditionen gegen Kritik und verhindere Afrikas Fortschritt.

Diese Problematik lässt sich auch in anderen postkolonialen Kontexten beobachten. In Indien etwa argumentieren ethno-nationalistische Kräfte mit dem Dekolonisierungsdiskurs, um zu einer vermeintlich reinen, ursprünglichen Identität zurückzukehren. Unter dem Banner der Dekolonisierung werden demokratische Errungenschaften bekämpft und Muslime, die als Kolonialisten umgedeutet werden, zunehmend marginalisiert und bedroht.

Táíwò wirft jenen Akademikern, die auf der Welle der Dekolonisierung reiten, Opportunismus vor – schliesslich «profitierten sie von den reichlichen Fördergeldern aus ebenjenem Westen, von dem sie sich vorgeblich dekolonisieren wollen». Der moralische Impetus und die identitätspolitische Aufladung ihrer Forschung immunisierten sie gleichzeitig gegen Kritik, selbst wenn diese inhaltlich dürftig sei.

Auf die Frage, was Afrika braucht, antwortet Táíwò via Zoom klar: «Afrika braucht keine Dekolonisierungsdiskurse, sondern es muss in seiner Philosophie und Geschichte ernst genommen werden.» Er illustriert dies am Beispiel von Olaudah Equiano, einem afrikanischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts und Zeitgenossen von Thomas Jefferson. Beide publizierten zum Thema Freiheit, doch während Equianos Buch acht Neuauflagen erlebte, wird nur Jefferson in Anthologien zur Aufklärung aufgenommen.

Für Táíwò zeigt dies die Auslöschung afrikanischer Denker aus der Ideengeschichte. Schuld daran sind unter anderem Strömungen in den African Studies, die Afrika fast nur durch die koloniale Geschichte definieren. «Es ist an der Zeit», so Táíwò, «dass wir über identitären Partikularismus und Exotismus hinausgehen und uns ernsthaft mit afrikanischen Denkern als Teil des globalen Kanons beschäftigen.»

--------------------------------
Olúfémi Táíwò. Against Decolonisation. Taking African Agency Seriously. Hurst, London 2022. 368 S.