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Beitrag vom 10.06.2020

FAZ

Afrika, wo bist du?

Nach dem Unglück die Literatur: Maryse Condé, Frankreichs wichtigste Übersee-Autorin, schreibt von ihrer schmerzhaften Suche nach kreolischer Identität.

„Die eigene Herkunft spielt keine Rolle. Viel wich­ti­ger ist es, man selbst zu sein, dort wo man ist, die eigene Stimme und den eige­nen Weg zu kennen.“ Maryse Condé, 1937 auf der fran­zö­si­schen Kari­bik-Insel Guade­lou­pe als jüngs­tes von acht Kindern gebo­ren, hat bis zu dieser Erkennt­nis einen harten Kampf führen müssen. Nicht nur gegen rassis­ti­sche Herab­set­zun­gen sowohl in Paris als auch im post­ko­lo­nia­len Afrika, nicht nur gegen die gesell­schaft­li­che Ächtung als allein­er­zie­hen­de Mutter von vier Kindern und noto­ri­sche Provo­ka­teu­rin, sondern auch und vor allem gegen sich selbst.

Im zwei­ten Band ihrer Auto­bio­gra­phie, „Das unge­schmink­te Leben“, der acht Jahre nach dem fran­zö­si­schen Origi­nal jetzt in deut­scher Über­set­zung vorliegt, zeigt sich die hoch­ver­dien­te Träge­rin des Alter­na­ti­ven Nobel­prei­ses für Lite­ra­tur als „Opfer des Schick­sals“, als empfind­sa­me Selbst­zweif­le­rin voller „Schwä­che, Verletz­lich­keit und tief sitzen­dem Egois­mus“. Diese unge­schmink­ten Worte aus der Feder der ange­se­hens­ten fran­zö­si­schen Über­see-Auto­rin, der laut Selbst­aus­kunft gleich­wohl „das Leben nicht schmeckt“, könn­ten wirken wie eine allzu wehmü­tig gera­te­ne öffent­li­che Selbst­an­kla­ge. So einfach ist es aber nicht. Die scho­nungs­lo­se Offen­heit und noto­ri­sche Angriffs­lust, die Maryse Condé als Essay­is­tin und Auto­rin immer ausmach­ten, prägen auch den Blick auf ihr eige­nes Leben.

Dass sie „intel­li­gent und böse“ sei, erfuh­ren Condés Leser bereits im ersten Band ihrer Memoi­ren („Le Cœur à rire et à pleu­rer“, 1999), in dem sie über ihre Kind­heit auf Guade­lou­pe berich­te­te. Ihre ersten Lebens­jah­re waren geprägt von Einsam­keit und Lange­wei­le, denn ihre Eltern, die sich als „grands nègres“ verstan­den, schot­te­ten die Fami­lie in ihrem obses­si­ven Bedürf­nis nach bildungs­bür­ger­li­cher Distink­ti­on von nahezu allen sozia­len Kontak­ten in der eins­ti­gen Skla­ven­ko­lo­nie ab. Nicht afro-fran­zö­si­sches Selbst­be­wusst­sein, sondern die im wahrs­ten Sinne „skla­vi­sche“ Nach­ah­mung franko-fran­zö­si­scher Bürger­lich­keit prägte den Fami­li­en­haus­halt. Die seeli­schen und gesell­schaft­li­chen Verhee­run­gen dieser post­ko­lo­nia­len Atti­tü­de erleb­te Maryse Condé am eige­nen Leib. Sie machen „Das unge­schmink­te Leben“ zu einem ebenso persön­li­chen wie poli­tisch aufschluss­rei­chen Zeug­nis.

Im Alter von sech­zehn Jahren verließ Condé ihre Heimat und ging wie viele aufstre­ben­de Fran­zo­sen aus den Über­see-Kolo­ni­en nach Paris. Als sie eben­dort nach einem flam­men­den Liebes­aben­teu­er ihren ersten Sohn gebar, darauf­hin ihr Studi­um an einer Elite­uni­ver­si­tät abbrach und zugleich vom Tod ihrer Mutter auf Guade­lou­pe erfuhr, wandel­ten sich die neuen Lebens­um­stän­de kurzer­hand in eine „Hölle“. Der Antago­nis­mus zwischen ihrem streng-bürger­li­chen Eltern­haus, in dem Paris als einzig mögli­cher Ausgangs­punkt eines gelun­ge­nen Lebens galt, und der Lebens­rea­li­tät einer dunkel­häu­ti­gen, allein­er­zie­hen­den Mutter aus einer frühe­ren Skla­ven­ko­lo­nie war der Grund­kon­flikt, der Condés Leben zutiefst prägte. Dass die offene Ableh­nung, die ihr in Frank­reich entge­gen­schlug, aus einer „kolo­nia­len Lüge“ hervor­ging, entdeck­te Condé erst mit der Lektü­re der post­ko­lo­nia­len Streit­schrift „Rede über den Kolo­nia­lis­mus“ des Marti­ni­ka­ners Aimé Césaire.

Als sie 1959 allein mit ihrem Sohn und erneut schwan­ger von Frank­reich nach West­afri­ka ging, um ihren Wurzeln nach­zu­spü­ren, dauert es derweil nicht lange, bis sie „das Lächeln verlern­te“. „Auf der nack­ten Erde sitzend, stell­ten Frauen mit abge­ma­ger­ten Gesich­tern ihre Zwil­lin­ge, Dril­lin­ge, Vier­lin­ge zur Schau. Bein­lo­se Krüp­pel rutsch­ten auf dem Hosen­bo­den. Einar­mi­ge streck­ten einem die Stum­mel entge­gen. Alle mögli­chen Versehr­ten und Bett­ler fuch­tel­ten wild mit ihren fordern­den Händen. Im Kontrast dazu sah man blitz­saube­re, gut geklei­de­te Weiße am Steuer ihrer Autos.“, schreibt Condé mit unver­hoh­le­ner Abscheu vor denje­ni­gen, die die Theo­re­ti­ker der Négri­tu­de-Bewe­gung als Brüder und Schwes­tern der afri­ka­ni­schen Welt­ge­mein­schaft verstan­den haben woll­ten. Als selbst­be­wuss­te und gebil­de­te junge Frau von den Antil­len schlug Condé viel­mehr offe­ner Rassis­mus entge­gen. „Die Afri­ka­ner hassen und verach­ten uns Antil­la­ner“, erfährt sie bereits in den ersten Tagen in Guinea, „weil manche hier Kolo­ni­al­be­am­te waren, behan­deln sie uns wie Knech­te, die gerade gut genug sind, für ihre Herren die Drecks­ar­beit zu erle­di­gen.“

Condés Erin­ne­run­gen an ihre Jahre in West­afri­ka, an ein von chro­ni­scher Nieder­ge­schla­gen­heit, mate­ri­el­ler Not, sprung­haf­ten Lieb­schaf­ten und poli­ti­schem Chaos gepräg­tes Leben als Fran­zö­sisch­leh­re­rin und allein­er­zie­hen­de Mutter von mitt­ler­wei­le vier Kindern, fasst sie schlie­ß­lich ernüch­tert in einen Satz: „Ich wusste inzwi­schen, dass mich Afrika nie so anneh­men würde, wie ich war.“ Nicht etwa in Paris, sondern in Cona­kry entwi­ckel­te Condé ihren „Hass auf das Wort Inte­gra­ti­on“, als man ihr im „Zirkel der linken Lang­wei­ler“ nahe­legt, sich den afri­ka­ni­schen Tradi­tio­nen gemäß zu klei­den. Die dras­ti­sche Mangel­wirt­schaft in Guine­as sozia­lis­ti­scher Dikta­tur unter Sékou Touré, der sich vom Fens­ter seiner Luxus-

limou­si­ne aus wie ein Messias beju­beln lässt, während ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung Hunger leidet und Kriti­ker in Folter­la­gern verschwin­den, führt Condé „unglück­lich und einsam“ zu der Grund­fra­ge ihrer Iden­ti­täts­su­che: „Afrika, wo bist du?“ Als „Marxis­tin aus Gefühls­du­se­lei“ lauscht sie später in einem „Ideo­lo­gie-Insti­tut“ in Ghana zwar gebannt den Reden von Malcom X und Che Gueva­ra, erkennt aber bald, dass der afri­ka­ni­sche Sozia­lis­mus die kultu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Tradi­tio­nen Afri­kas nicht weni­ger miss­ach­tet, als es zuvor das euro­päi­sche Kolo­ni­al­sys­tem getan hatte.

In Condés stets persön­lich gehal­te­nen, nie ideo­lo­gisch-poli­tisch vorge­präg­ten Betrach­tun­gen tritt die ganze Ambi­va­lenz des post­ko­lo­nia­len Aufbruchs (wie sie schon der Malier Yambo Ouolo­guem in seinem legen­dä­ren Roman „Das Gebot der Gewalt“ beschrie­ben hat) in aller Konkre­ti­on zu- tage. Anek­do­ten­reich schil­dert Condé, wie sich eine grund­le­gen­de Erkennt­nis in ihr Bahn brach. Frantz Fanons These über „Schwar­ze Haut, weiße Masken“, laut der man erst durch Fremd­zu­schrei­bun­gen zu einem „Schwar­zen“ gemacht werde, entsprach weit­aus mehr der post­ko­lo­nia­len Lebens­rea­li­tät als der schöne Traum der Négri­tu­de-Theo­re­ti­ker von einer afri­ka­nisch-stäm­mi­gen Welt­ge­mein­schaft. Erst später habe sie bemerkt, so notiert Condé wie immer angriffs­lus­tig, dass sie über ihre Erleb­nis­se in Afrika in Europa nicht offen spre­chen konnte. „Bei ihnen erträgt man weder Humor noch Ironie, für mich die einzi­ge Form, in der ich meine zum Teil harten, trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen erzäh­len konnte, ohne in Selbst­mit­leid zu verfal­len.“

„Das unge­schmink­te Leben“ erzählt die Geschich­te einer Auto­rin, die sich nicht durch akade­mi­schen Fleiß und künst­le­ri­schen Ehrgeiz in die vorders­ten Ränge der Lite­ra­tur schrieb – wie es etwa der fast gleich­alt­ri­ge Kenia­ner Ngugi wa Thiong’o in seinen Memoi­ren von sich behaup­tet. „Meine lite­ra­ri­sche Karrie­re begann vor allem deshalb so spät, weil ich derart mit meinem unglück­li­chen Leben beschäf­tigt war“, bekennt Maryse Condé. Als sie 1976 schlie­ß­lich ihren ersten Roman „Here­mak­ho­non“ über die sozia­lis­ti­sche Dikta­tur in Guinea veröf­fent­lich­te, entsprang das vor allem ihrem Wunsch, die zutiefst wider­sprüch­li­chen Erfah­run­gen in Afrika mittels der Lite­ra­tur zu zähmen. „In verwan­del­ter Form zog es in alle Winkel meiner Imagi­na­ti­on ein, auf diese Weise endlich unter­wor­fen.“ Die Unmit­tel­bar­keit ihres Schreib­im­pul­ses macht Maryse Condé zu einer großen Erzäh­le­rin und zu einer außer­ge­wöhn­lich selbst­kri­ti­schen und dadurch umso glaub­wür­di­ge­ren Auto­bio­gra­phin. In jedem ihrer wuch­ti­gen Sätze liest man mit, dass der glück­li­che­re Teil ihres Lebens erst mit der Lite­ra­tur begann.?CORNELIUS WÜLLENKEM­PER