Beitrag vom 06.06.2020
Spiegel
Adieu, Afrika
Der langjährige SPIEGEL-Korrespondent Bartholomäus Grill blickt auf vier turbulente Jahrzehnte in Afrika zurück – und entdeckt das Zukunftspotenzial des angeblich verlorenen Kontinents.
Und jetzt auch noch eine verheerende Pandemie. Nach all den Bürgerkriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen, die Afrika heimgesucht haben. Das Coronavirus verbreitet sich stetig auf einem Kontinent, der schlechter als jeder andere darauf vorbereitet ist.
Welche Verheerungen die Seuche in Afrika anrichten wird, lässt sich nur ahnen, der Höhepunkt wird im Juli erwartet. Experten befürchten den Kollaps der maroden Sozial- und Gesundheitssysteme. Hungerrevolten drohen, weil durch die Ausgangssperren Millionen Arme von ihren Erwerbsquellen abgeschnitten sind.
Covid-19 könnte in vielen afrikanischen Staaten den Aufwärtstrend der jüngsten Zeit zunichtemachen. Ein Schatten liegt über dem Erdteil, den ich vor 40 Jahren zum ersten Mal betreten habe. Ich hatte mir meinen Abschied als Korrespondent ganz anders vorgestellt – und blicke mit gemischten Gefühlen zurück.
Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen, eine Begegnungsstätte für die Massai, ein Volk von Halbnomaden, das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania. Wir, das waren neun junge Leute aus Deutschland, Dritte-Welt-Bewegte, wie man damals, im Jahr 1980, sagte. Wir wollten Afrika retten.
Unter der glühenden Sonne stellten wir Lehmziegel für das geplante Gebäude her, mussten aber bald feststellen, dass kein einziger Einheimischer mithalf. In ihren Augen waren wir naive Weißnasen, die sie mit einem sinnlosen Projekt beglücken wollten.
Dabei stammte die Idee von einem ortsansässigen Massai, von Esto Mollel, der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungspläne für seine arme Heimatregion im Norden Tansanias ausgedacht hatte: Straßen, Kliniken, Staudämme. Das Kulturzentrum sollte der Anfang sein.
Am Ende unseres Einsatzes war nicht ein Haus der Begegnung entstanden, sondern ein Hühnerstall im Garten von Esto Mollel. Er wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu: ein Lehrer, der mir Afrika erklärte. Esto ist im Januar 2000 im Alter von 52 Jahren verstorben. Der Hühnerstall steht noch, gleich neben seinem Grab. Als ich im Dezember das morsche Gemäuer besichtigte, kam es mir vor wie ein Sinnbild für die Entwicklung Afrikas, für einen Kontinent, der nach dem Ende der Kolonialzeit ab den Fünfzigerjahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhängigkeit aufbrach – und sieben Jahrzehnte später eher bescheidene Fortschritte erzielt hat.
Hier, in Longido, erlebte ich erstmals jenes Wechselbad, das mich vier Jahrzehnte lang begleiten sollte. Es war ein ständiges Hin- und Herpendeln zwischen Pessimismus und Hoffnung. Longido war seinerzeit ein gesichtsloses Nest mit 2000 Einwohnern und zwei Buschschenken. Kein Telefon, kein Strom, keine Wasserversorgung. Mittlerweile leben hier siebenmal so viele Menschen, es gibt Trinkwasser, Elektrizität, Tankstellen, eine kleine Klinik. Dazu ein Dutzend Spelunken, viele soziale Konflikte, mehr Wohlstand für wenige, mehr Armut für viele.
In der örtlichen Primary School hat sich seit 1980 die Zahl der Grundschüler auf 1118 nahezu verdoppelt. Die Klassenzimmer sind so ärmlich ausgestattet wie eh und je: primitive Pulte und Holzbänke, eine zersplitterte Schiefertafel, Fenster ohne Scheiben, ein heißes Blechdach.
»Wir haben gute Lehrprogramme, aber keine Lehrmittel«, sagt Julieth Godfrey. Die 57-jährige Mathematiklehrerin zeigt auf ein Wandbild im Schulhof: ein Laptop mit Zubehör, beschriftet in Kisuaheli: »Skrini«, Bildschirm; »Kibodi«, Tastatur; »Waya«, Kabel. Für die Schüler gibt es Computer nur als Zeichnung. Die Schule besitze ein einziges Gerät, das nutze aber ausschließlich die Verwaltung, sagt Godfrey. »Es heißt, Bildung sei das wichtigste Mittel, um die Armut zu überwinden. Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entfernt.«
An Longido lässt sich ein Paradox studieren, das exemplarisch ist für Afrika: Der Kontinent ist vorangekommen – und gleichzeitig stehen geblieben.
Ich bin in den vergangenen vier Jahrzehnten ungefähr zwei Millionen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren, um aus mehr als 50 Ländern zu berichten. Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt: Hat sich die Lage des Kontinents in dieser Zeitspanne verbessert? Oder geht es, wie häufig zu hören ist, stetig bergab? Meine Antwort lautet: sowohl als auch.
Schon die Frage ist falsch gestellt. Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen, als monolithische Krisenmasse, nicht als vielfältiger Erdteil mit 2000 Sprachen und 54 Nationen, die sich höchst unterschiedlich entwickelt haben. Es gibt »failed states«, durch Bürgerkriege ruinierte Staaten wie Somalia, Länder wie Kenia, die sich irgendwie durchwursteln; politisch stabile Länder wie Namibia oder Ghana. Schließlich Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind: Botswana, Äthiopien, Ruanda, Tansania.
Doch allerorten schlagen sich Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Problemen herum: mit Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit, mit der Unfähigkeit korrupter Eliten, mit Verteilungskämpfen um knappe Ressourcen, die durch ein schnelles Wachstum der Bevölkerung und den Klimawandel verschärft werden. Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte – im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Feldern nach wie vor das Schlusslicht.
Dennoch habe ich Afrika nie als K-Kontinent abgeschrieben, als verlorenen Kontinent der Kriege und Katastrophen. Umgekehrt gehörte ich aber auch nicht zu denen, die die Verhältnisse in diesem Erdteil gern beschönigen, für die Misere stets finstere Außenmächte verantwortlich machen und kleine Erfolgsgeschichten zum großen Aufbruch hochjubeln. Ich habe versucht, zwischen den Untergangspropheten und Romantikern ein »Afro-Realist« zu bleiben. Mein Leitspruch: Die Lage ist ernst, aber keineswegs aussichtslos.
Afrika birgt gewaltige Potenziale: Der rohstoffreiche Kontinent hat fruchtbares, aber großflächig untergenutztes Agrarland. Und es hat eine junge, schnell wachsende Bevölkerung. Schon im Jahr 2050, wenn geschätzte 2,5 Milliarden Menschen in Afrika leben werden, wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbürger beheimaten. Vor allem der Nachbarkontinent Europa wird diese Dynamik nicht mehr ignorieren oder verdrängen können und seine Festungsmentalität durch echte Kooperation überwinden müssen – jenseits der Angst vor der angeblichen »Flut« von Migranten und Flüchtlingen.
Das Zerrbild, das sich die Außenwelt von Afrika macht, speist sich nach wie vor aus den in der Kolonialära geprägten Stereotypen. Sie blenden die enormen Entwicklungssprünge in jüngster Zeit aus. Tansania, das Land meiner »Initiation« als Afrikakorrespondent, liefert dafür ein anschauliches Beispiel.
Die Wirtschaftsmetropole Daressalam, 1980 noch eine verschlafene, provinziell anmutende Stadt, ist nicht wiederzuerkennen. Sie hat sich in eine moderne City mit mehr als fünf Millionen Einwohnern verwandelt, rastlos, laut, erstickend im infernalischen Verkehr, überbordend vor Vitalität. Im Zentrum eine imposante Kulisse von Wolkenkratzern, vor der die Kirchen aus deutschen Kolonialtagen, einst die höchsten Gebäude am Ort, zu historischen Miniaturen verzwergen. Auch die Massai-Männer, die man in traditionellen Gewändern in den Straßenschluchten herumstreifen sieht, wirken wie aus der Zeit gefallen.
Daressalam befindet sich auf dem Weg zu einer afrikanischen Megacity, es ist einer der Schauplätze des atemberaubenden Umbruchs, der seit der Jahrtausendwende viele Länder des Kontinents erfasst hat – und den niemand für möglich gehalten hatte. Das lag vor allem an steigenden Rohstoffpreisen, die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung auslösten; einstige Armenhäuser wie Äthiopien verzeichneten zeitweise die höchsten Wachstumsraten der Welt.
Zugleich öffnete die digitale Revolution neue Horizonte. Vor 40 Jahren suchte ich oft vergebens nach einem Festnetzanschluss. Heute nutzen nahezu eine Milliarde Afrikaner Handys und Smartphones. In den IT-Hubs afrikanischer Metropolen wurde ein Service wie M-Pesa entwickelt, ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobiltelefon, das mittlerweile weltweit Anwendung findet. Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien beflügelt demokratische Bewegungen in allen Ländern. Ohne diese Kommunikationsmittel wäre der Sturz der Diktatur im Sudan voriges Jahr nicht möglich gewesen.
Aus der Mitte Daressalams erhebt sich ein protziges Kongresszentrum, es wurde gestiftet und gebaut von den Chinesen. Die riesige Halle wirkt wie ein Fanal für den neuen Wettlauf um Afrikas Reichtümer, den die neue Wirtschaftsweltmacht China anführt. Das Reich der Mitte hat die traditionellen Handelspartner aus Europa und Amerika längst abgehängt, es beutet die Bodenschätze Afrikas im großen Stil aus und überschwemmt seine Märkte mit Billigwaren. Tansania, seit Maos Zeiten mit China verbündet, zählt zu den Schlüsselländern der Wirtschaftsoffensive.
In den Augen von Zitto Kabwe, 43, ist die Kongresshalle ein Danaergeschenk – eine Gabe, die Unheil bringt. »Mittlerweile kontrollieren die Chinesen den gesamten Bausektor unseres Landes«, sagt der Oppositionspolitiker. Er warnt vor der »imperialistischen Strategie« Pekings, sie erinnere ihn an die Eroberung und Ausbeutung des Kontinents durch die europäischen Kolonialmächte.
Doch die Chinesen nehmen nicht nur, sie geben auch: Krankenhäuser und Schulen, Straßen, Bahntrassen, Flughäfen und Staudämme. Wie auch immer man Chinas rücksichtslose Expansion bewerten mag, eines lässt sich schwerlich bestreiten: Es hat mit seinen Mammutprojekten in den letzten 20 Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in 60 Jahren.
Das chinesische Modell einer Entwicklungsdiktatur wird attraktiver als der Westen, weil die Demokratie in vielen Ländern das Versprechen von mehr Wohlstand nicht einlösen konnte. Ein Politiker aus Burundi brachte das Dilemma vor Jahren auf den Punkt: »Brauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Tag?«
»Unser Präsident denkt genauso. Er hält die Demokratie für ein Entwicklungshindernis«, sagt Kabwe. John Magufuli heißt der Präsident von Tansania, das Volk nennt ihn »Bulldozer«, denn er feuert unfähige Spitzenbeamte, verfolgt Steuerhinterzieher, bekämpft die Korruption.
An Magufuli zeigt sich die vielleicht einschneidendste politische Veränderung in jüngster Zeit: Er verkörpert einen neuen Typus des afrikanischen Herrschers, den gütigen Diktator. Er will, dass die Wirtschaft aufblüht, demokratische Prinzipien scheren ihn nicht. Er beschneidet die Bürgerrechte, manipuliert Wahlen, duldet keine Kritik.
Zitto Kabwe bekommt Magufulis Allmachtswahn am eigenen Leib zu spüren.
Er sei wegen Volksaufwiegelung monatelang eingesperrt und allein in den vergangenen vier Jahren achtmal festgenommen worden, sagt er. Im Januar 2017 entging er mit viel Glück einem Attentat. Ich bin Kabwe zum ersten Mal begegnet, als er noch Volkswirtschaft studierte. 2005 zog er mit 29 Jahren als jüngster Abgeordneter ins Parlament ein und zählt seither zu den unbeugsamsten Regimekritikern.
Kabwe vergewissert sich, ob wir von Geheimdienstleuten observiert werden, als wir uns in Daressalam treffen. Er trägt einen anthrazitfarbenen Anzug, wie ihn einst der legendäre erste Präsident Julius Nyerere trug, dessen Experiment eines afrikanischen Sozialismus kolossal scheiterte. Nach seinem Rücktritt wurden Demokratie und Marktwirtschaft eingeführt, und es ging bergauf. »Wir waren schon mal weiter«, sagt Zitto. »Magufuli hat unser Land 40 Jahre zurückgeworfen, in die Zeit des Einparteienregimes.«
Zitto Kabwe repräsentiert eine neue Generation von Politikern, die Wohlstand für alle anstreben und die Demokratie verteidigen. Man trifft sie in vielen Ländern Afrikas, sie sind gut ausgebildet, weltgewandt und voller Reformideen. Sie stoßen auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Eliten, der alten, korrupten Big Men, die ihre Staaten plündern und dabei jede Menge Geschäftspartner auf der Nordhalbkugel haben: Rohstoffdealer, Waffenhändler, Steuertrickser oder Banker, die ihre gestohlenen Milliarden waschen.
Machtmissbrauch, schlechte Regierungsführung und endemische Korruption sind die Hauptursachen für die Probleme Afrikas, daran hat sich in meiner Korrespondentenzeit wenig geändert. Die vielleicht größte Enttäuschung ist, dass auch meine Wahlheimat Südafrika von einer kriminellen Clique in den Abgrund gewirtschaftet wird – ausgerechnet das mit Abstand reichste Land des Kontinents, das unter Nelson Mandela so zuversichtlich in die Zukunft aufgebrochen und ein leuchtendes Vorbild für Afrika war. Die Befreier haben nichts aus den postkolonialen Fehlentwicklungen gelernt, es ist, als würde sich die Geschichte wiederholen. In den Gründerjahren war der Kontinent noch von den Nachwehen der Unabhängigkeit geprägt, in vielen jungen Staaten herrschten üble Militärdiktaturen, die sich von ihren ideologischen Verbündeten in Moskau, Washington oder Paris alimentieren ließen.
Als ich 1993 nach Südafrika übersiedelte, schien eine neue Epoche heraufzudämmern. In Berlin war die Mauer gefallen, der Kalte Krieg war Geschichte. Das weiße Rassistenregime der Apartheid musste kapitulieren, überall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit. Doch schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene Demokratie nur als Fassade, hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten.
»Wir brauchen eine zweite Befreiung, diesmal aber von unseren autokratischen Herrschern«, sagt Kabwe und hebt wie ein Boxer seine Fäuste. Er will bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen Magufuli antreten – wenn ihn das Regime antreten lässt. »Ich bin durch die Hölle gegangen, mich kann nichts mehr abschrecken«, bekennt Kabwe später, als wir auf der Terrasse seines Hauses sitzen. Seine Frau, die jüngste Tochter auf dem Arm, sagt: »Ich bin jeden Abend froh, wenn er lebend heimkommt.«
Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme: Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrieben. Mit der Agenda 2063 will sie eine kontinentale Freihandelszone schaffen, einen Erdteil ohne Grenzen, der dann der geografisch größte integrierte Wirtschaftsraum der Welt wäre. Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt, wird sich zeigen. Die Erblasten sind enorm. Der Kontinent leidet immer noch unter den Spätfolgen des Kolonialismus; er ist nach wie vor marginalisiert, hat auf der geopolitischen Bühne wenig zu melden und wird massiv benachteiligt von einem ungerechten Weltwirtschaftssystem: Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarprodukte, die Wertschöpfung findet anderswo statt. Zudem wird seine fragile Landwirtschaft durch hochsubventionierte Billigimporte aus der EU schwer geschädigt.
Hinzu kommen neue, beunruhigende Herausforderungen: der islamistische Terrorismus, der sich vor allem in den Armutszonen des Sahel ausbreitet; der Klimawandel, unter dessen Folgen die Afrikaner mit am meisten leiden, obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen. Schließlich die Überbevölkerung in einigen Regionen.
Andererseits: Das schnelle Bevölkerungswachstum könnte vom Fluch zum Segen werden, wie das Beispiel der asiatischen Tigerstaaten lehrt: Dort hat die hohe Zahl von arbeitsfähigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten in Kombination mit einer zielgerichteten Industriepolitik einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub ausgelöst, der wiederum zu einem Rückgang der Geburtenraten führte. Die demografische Dividende setzt allerdings eine bessere Bildungspolitik und Bevölkerungsplanung voraus. Von dieser Einsicht sind viele afrikanische Regierungen noch weit entfernt, Tansanias Präsident Magufuli verkündet genau das Gegenteil: Er fordert die Frauen seines Landes dazu auf, »ihre Eierstöcke zu öffnen«.
Viele Prognosen bedienen das ewige Klischee, dass Afrika ein Weltsozialfall bleiben werde. Sollte indes die nächste Führungsgeneration fundamentale Reformen verwirklichen, könnte sich Afrika in einen Kontinent der Zukunft verwandeln. Davon sind die afrikanischen Vordenker des Postkolonialismus überzeugt. In seinem Buch »Afrotopia« fordert etwa der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf, ihren Minderwertigkeitskomplex zu überwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Sarr denkt in der Rückbesinnung auf traditionelle, umweltschonende Produktionsformen auch über Alternativen zur westlichen Wachstumsreligion und zum zerstörerischen Raubkapitalismus nach. Er postuliert sogar eine »zivilisatorische Wende« zur Rettung unseres Planeten, die in Afrika ihren Ausgang nehmen könnte.
In diesen Tagen aber liegt mit dem Virus eine unberechenbare Gefahr über dem Kontinent. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Pandemie die globale Kluft zwischen armen und reichen Staaten vertiefen wird.
Was bleibt nach 40 Jahren auf einem wundervollen, widersprüchlichen Kontinent? Tausend Bilder, Erinnerungen, Begegnungen, beglückende Erlebnisse, niederschmetternde Erfahrungen. Ich habe über Bürgerkriege, Umstürze, Dürren, Hungersnöte und Epidemien wie Aids und Ebola berichtet und über das ganz normale friedliche Alltagsleben. Ich sprach mit Staatspräsidenten und Chiefs, mit Unternehmern, Religionsführern und zahllosen einfachen Männern und Frauen, die auf bewundernswerte Weise ihr schwieriges Dasein meistern. Auch erzböse Menschen kreuzten meine Wege, Militärs, Warlords, Massenmörder. Wenn ich in elenden Flüchtlingslagern die Opfer der Gewaltexzesse befragte, kam mir der Beruf des Journalisten oft unanständig vor.
Ich durfte auch Freudenfeste erleben, wenn Diktatoren wie Mobutu (ehedem Zaire) oder Robert Mugabe (Simbabwe) gestürzt wurden oder ein Tyrann wie Sani Abacha (Nigeria) das Zeitliche segnete. Im Südsudan empfand ich tiefe Verachtung für die Kriegslüsternheit und Habgier der Machtcliquen, die drauf und dran sind, den jüngsten Staat der Welt zu ruinieren.
Unvergesslich werden zwei Ereignisse in den Neunzigerjahren bleiben. Es war das Jahrzehnt, in dem der schönste Traum und der furchtbarste Albtraum in der postkolonialen Geschichte Afrikas wahr wurden: der Untergang der Apartheid und der Völkermord in Ruanda.
Im Frühjahr 1994, während wir am Kap den ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela feierten, wurden im Herzen des Kontinents 800 000 Menschen abgeschlachtet und die Völkergemeinschaft sah tatenlos zu. Die meisten von uns Korrespondenten hatten dieses Menschheitsverbrechen nicht kommen sehen, das werfe ich mir bis heute vor.
Man braucht positive Erfahrungen und starke Gegenbilder, um solche Tiefpunkte zu überwinden. Es gibt Kollegen, die in Afrika den Glauben an die Menschlichkeit verloren haben – ich habe ihn auf diesem Kontinent gefunden: in der Willkommenskultur der Afrikaner und Afrikanerinnen, in ihrer Hilfsbereitschaft und Offenherzigkeit. Und in ihrer Resilienz, also der Fähigkeit, den widrigsten Umständen zu trotzen. Die Urwucht der Musik, die Naturgötter und Schöpfungsmythen, das Amor fati – es ist nur eine kleine Auswahl von Geschenken, die mir Afrika gemacht hat.
Und wenn ich in verstaubten afrikanischen Universitätsbüros altehrwürdigen Professoren mit zerknitterten Krawatten gegenübersaß und sie von der jahrtausendealten Geschichte und den Traditionen ihres Kontinents erzählen hörte, fragte ich mich oft, selbst nach Jahrzehnten als Korrespondent: Was wissen wir schon über Afrika?
Bartholomäus Grill