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Pour une autre politique de développement!

Beitrag vom 20.03.2019

Die Welt

„Dann kommen sie nicht mehr mit Booten, sondern mit Schiffen“

Von Florian Gehm, Olaf Gersemann

Samih Sawiris ist Spross der wichtigsten ägyptischen Unternehmerfamilie. Er ist skeptisch, was die Demokratisierung seines Landes angeht. Er entzaubert sowohl die teure Entwicklungshilfe als auch Illusionen des Westens in der Flüchtlingspolitik.

Natürlich findet das Interview in Berlin statt, Samih Sawiris kommt oft in die Stadt. Der Unternehmer hat hier an der TU zwischen 1976 und 1980 studiert. Es waren „die schönsten Jahre meines Lebens“, sagt er. Sein Vater, Onsi Sawiris, hielt damals eine Apanage in BAföG-Höhe für angemessen, doch heimlich nutzte Sohn Samih das ölkrisenbedingt erwachte Interesse an der arabischen Welt, um mit Übersetzungsarbeiten gutes Geld zu verdienen.

„Ich wusste doch, dass ich nach dem Studium wieder zurückkehren würde nach Ägypten, da wollte ich das Leben in Deutschland richtig auskosten“, erzählt er fröhlich. Darben muss Samih Sawiris auch heute nicht. Finanziell hat er es nicht ganz so weit gebracht wie seine Brüder Nassef und Naguib, die laut „Forbes“-Milliardärsliste die beiden reichsten Ägypter sind. Aber er ist nach eigenen Angaben größter privater Landbesitzer in Ägypten – „wenn auch viel davon Wüste ist“.

WELT: Es ist fast 30 Jahre her, dass der Sowjetkommunismus zusammengebrochen ist und auch das Apartheid-Regime in Südafrika. Zieht man Bilanz, muss man sagen: Die damaligen Afro-Pessimisten haben recht behalten und nicht die Afro-Optimisten.

Samih Sawiris: (schmunzelt) Ich wusste gar nicht, dass es so etwas wie Afro-Optimisten gab.

WELT: Wieso?

Sawiris: Intellektuelle in Afrika und auch in der arabischen Welt haben früh erkannt, dass der Westen in seinen früheren Kolonien Regime akzeptierte, die die Region nicht voranbringen würden.

WELT: Sie reden von den 1950er-, 1960er-Jahren. 1990 aber gab es diese Hoffnung, dass endlich alles besser würde – dass eine Demokratisierungs-und-Liberalisierungs-Welle durch die Region schwappen würde, weil sich Machthaber nicht mehr in die Arme Moskaus würden flüchten können. Doch heute werden nur zehn afrikanische Länder von der amerikanischen NGO Freedom House in ihrem einschlägigen Ranking als „politisch frei“ eingestuft. Trotz rapiden Bevölkerungswachstums ist der Anteil der Region an der weltweiten Kaufkraft nicht etwa gestiegen, stattdessen verharrt er auf niedrigem Niveau.

Sawiris: Das stimmt und war leider abzusehen. Europa fehlte das Verständnis für die gesamte Region, und so kam es zu Fehleinschätzungen. Wenn man verschiedene Wüsten- oder Urwaldstämme kurzerhand in ein gemeinsames Land unter dem Label „Demokratie“ drängt, dann wird das nichts.

WELT: Eine Zeit lang schienen sich die Hoffnungen aber zu bestätigen. Es haben sich einige Länder demokratisiert.

Sawiris: Geben Sie mir ein Beispiel.

WELT: Ägypten, wenn auch mit Verzögerung.

Sawiris: Ich habe mal auf der Münchner Sicherheitskonferenz einen Vortrag gehalten; das war, nachdem den Muslimbrüdern die Macht in Kairo entzogen worden war. Ich habe gefragt, wer Pharao Ramses kennt. Natürlich kannte den jeder im Publikum. Und dann habe ich gesagt: Das war ein General. Und König Cheops, nach dem die Große Pyramide in Gizeh benannt ist, das war auch ein General. Pharao Mena, der Ägypten erstmals geeint hat: auch ein General. Selbst Hatschepsut, die Pharaonin, war eine Generalin.

WELT: Na und?

Sawiris: Seit 6000 Jahren wird Ägypten von Generälen regiert, ob sie sich nun Pharao nennen oder nicht. Sie kommen als Generäle an die Macht, weil sie das Land von den Libyern befreiten oder von den Nubiern und es dann einten. Danach folgten die Generationen, die nichts mehr mit dem Militär zu tun hatten, das Land fiel wieder ins Chaos und auseinander, Ausländer eroberten es – und schließlich kam der nächste General, der die nächste Dynastie errichtete. So geht das seit 6000 Jahren. Man kann nicht 6000 Jahre in sechs Monaten wegradieren.

WELT: Was soll so schwierig daran sein?

Sawiris: Demokratie lässt sich nicht über Nacht einführen. Frankreich, das es gerade einmal seit 1200 Jahren gibt, brauchte nach der Revolution 1789 praktisch ein Jahrhundert, um eine Demokratie zu werden. Ich bin überzeugt, dass man den Mächtigen die Macht langsam wegnehmen muss, so wie es in England geschah, wo der König über Jahrhunderte Zug um Zug Befugnisse an das Volk übergeben hat, deshalb ist das dort auch so sauber über die Bühne gegangen.

WELT: Die deutsche Geschichte hat aber wiederholt gezeigt, dass sich Demokratie durchaus von jetzt auf gleich implementieren lässt.

Sawiris: Deutschland hatte andere Voraussetzungen, weil es nie diese zentralistische Struktur hatte wie England, Frankreich oder eben Ägypten. Es gab keinen Alleinherrscher, stattdessen mussten Fürsten miteinander klarkommen, der Bayer musste auf den Sachsen Rücksicht nehmen und so weiter. So etwas prägt ein Land.

WELT: Und Afrika – ist noch nicht soweit?

Sawiris: Viele Länder sind dort meines Erachtens noch nicht reif für die Demokratie. Mit der Peitsche geht das nicht. Nehmen Sie Ägypten. Dort hatten wir nach der Revolution 2011 binnen eines Monats 180 Parteien – weil jeder der neue Pharao werden wolle. Und dann kamen Wahlen, und wer hat die im ersten Anlauf gewonnen? Die Partei meines Bruders. Warum hat sie gewonnen? Weil mein Bruder extrem viel Geld investiert hat. Das ist doch auch keine Demokratie.

WELT: Und heute ist es schlimmer als zu Mubaraks Zeiten?

Sawiris: Wir waren schon ziemlich weit gekommen gegen Ende der Mubarak-Ära. Wir durften alles sagen, wir durften Mubarak kritisieren und hatten sehr viele Freiheiten. Wir waren auf einem guten Weg. Aber stattdessen sind wir ins Chaos zurückgefallen. Unter den Muslimbrüdern gab es bald keinen Strom, kein Benzin, kein Trinkwasser mehr. Und auch so gut wie keine Polizei. Dafür immer mehr Überfälle und Entführungen, so etwas kannten wir in Ägypten vorher gar nicht. Am Ende hatte das Militär, das die Muslimbrüder geholt hatte, ein Einsehen, weil die Menschen auf der Straße Druck ausgeübt hatten – deutlich mehr als gegen Mubarak. Und so bekamen wir einen neuen Präsidenten ...

WELT:… Abdel Fattah al-Sisi, der 2013 durch einen Militärputsch an die Macht kam ...

Sawiris: ... und der dann erst einmal die Ordnung wieder hergestellt hat, die das ganze Volk wollte.

WELT: Der Arabische Frühling war also tatsächlich nur eine Episode?

Sawiris: Es war höchstens ein Herbst, und jetzt kommt erst einmal Winter und dann irgendwann der Frühling.

WELT: Alle Hoffnung auf Demokratisierung fahren zu lassen wäre aber zynisch.

Sawiris: Das meine ich ja nicht. Es gibt ja nicht nur diese beiden Extreme: Demokratie oder tyrannische Diktatur. Es ist wichtig, dass autoritäre Regime Rechenschaft ablegen müssen. Das wäre ein möglicher Königsweg für den Westen gewesen: dass er die Herrscher so unter Druck setzt, dass sie nicht einfach mit ihren Völkern umgehen können, wie sie das bisher gemacht haben.

WELT: Der Druck des Westens reicht also nicht?

Sawiris: An den richtigen Stellen gibt es aus meiner Sicht keinen Druck. Der Westen hat mit seinen Interventionen eher neue Probleme verursacht.

WELT: Und wie soll der Druck konkret aussehen?

Sawiris: Er sollte bis hin zur Enteignung der Macht reichen. Saddam Hussein zum Beispiel hätte man schon viel früher zur Rechenschaft für das, was er seinem Volk antat, ziehen sollen. Er fühlte sich ja niemandem mehr zur Rechenschaft verpflichtet, nicht einmal Gott. Ich war daher auch für die amerikanische Intervention im Irak. Jede große Aktion der Weltgemeinschaft gegen eine Diktatur hat zudem immer eine gewisse Strahlkraft und bringt auch andere Alleinherrscher dazu, überlegter mit der eigenen Bevölkerung umzugehen.

WELT: Die Iraker haben die Beseitigung Saddams teuer bezahlt.

Sawiris: Die Amerikaner haben es ja auch nicht gerade klug gemacht. Bei der sofortigen Abschaffung von Militär und Polizei über Nacht war leider keine Verbesserung zu erwarten – ich denke, das wäre in keinem Land anders gewesen.

WELT: Was kann der Westen denn überhaupt tun, außer den von Ihnen angemahnten Druck zur Einhaltung der Menschenrechte auszuüben?

Sawiris: Wirtschaftlich helfen.

WELT: Tun wir doch. Mit unserer Entwicklungshilfe. Seit Jahrzehnten.

Sawiris: Das ist vielleicht gut gemeint, aber in der Regel eher getarnte Exportförderung. Vielfach wird ja Geld gegeben in der Erwartung, dass die empfangenen Regierungen damit Waren aus den Geberländern kaufen.

WELT: Was brächte denn was?

Sawiris: Wer ernsthaft helfen will, der muss dafür sorgen, dass die Leute in ihrer Entwicklung weiterkommen. Dafür braucht man Bildung, aber auch Gesundheit und soziale Sicherheit. Als ägyptischer Mann vom Dorfe kalkuliere ich heute so: Ich brauche acht Kinder, denn von denen sind vier Mädchen, die für die Hochzeit wegziehen; zwei der Jungen sterben durch Unfall oder Krankheit, wofür ich mir keine medizinische Hilfe leisten kann; und von den übrigen zwei ist einer ein Nichtsnutz. Also muss ich acht Kinder zeugen, um einigermaßen sicher zu sein, dass es einen einzigen männlichen Nachkommen gibt, der im Alter für mich sorgt. Im Ergebnis haben wir 2,5 Millionen mehr Ägypter jedes Jahr. Wie sollen wir das verkraften? Auch europäische Länder könnten das nicht.

WELT: Was genau hätte denn mit den Entwicklungshilfemilliarden passieren sollen?

Sawiris: Man hätte zum Beispiel viele deutsche Schulen bauen können, solche, wie ich sie selbst besucht habe. Dann hätte man Nachwuchs ausgebildet, der im Land bleibt und es weiter voranbringt. Ich selbst bin Deutschland ewig dankbar für meine Zeit auf der deutschen Schule in Kairo und an der TU in Berlin, ohne die wäre ich heute nicht hier. Aber nur Material hinüberschicken, wie früher die Loks von Henschel oder heute die Stromaggregate von Siemens oder die Waffen der Amerikaner, das ist keine wirkliche Unterstützung. Ich fürchte, die eigenen Landesinteressen stehen manchmal deutlich über dem Wunsch, ernsthaft zu helfen.

WELT: Ein schwerer Vorwurf. Wie kommen Sie dazu?

Sawiris: Europa schirmt seine eigenen Märkte ab, verlangt aber von den anderen offene Märkte. Wenn die Ägypter Ware in die EU exportieren wollen, gibt es eine Unmenge an Bestimmungen und Zöllen, während die europäischen Landwirte hoch subventioniert werden – das ist keine gerechte Marktsituation. Oder nehmen Sie die Warnungen vor Reisen nach Taba, dem Badeort auf der Sinaihalbinsel. Ich habe dort rund 3000 Hotelzimmer, die ich von morgen an füllen könnte, wenn die Lage vor Ort vom Auswärtigen Amt nur endlich neu und der Realität entsprechend bewertet würde. Damit könnte man viele Tausend Arbeitsplätze von jungen Leuten retten, die alle über viel Potenzial verfügen und durch ihre Arbeit Fremdsprachen gelernt haben. Wer wirklich Fluchtursachen bekämpfen will, sollte sich gut überlegen, was er in solchen Fällen anrichtet.

WELT: Heißt das, Sie glauben nicht, dass wir die Flüchtlingskrise hinter uns haben?

Sawiris: Ich befürchte, es könnte noch schlimmer werden. In Ägypten zum Beispiel wird Präsident Sisi die Pforten öffnen, sobald er vor dem ersten großen Problem steht und Druck von der Jugend bekommt, die frustriert ist, weil sie keine Arbeit hat und kein Einkommen und keine Zukunft. Dann kommen sie nicht mehr mit Booten, sondern mit Schiffen.

WELT: Hat Deutschland 2015 das falsche Signal für Wirtschaftsflüchtlinge gesetzt? Hätten wir die Grenzen schließen sollen?

Sawiris: Wenn die Leute bereits an der Grenze stehen, ist es zu spät. Die Welle kam aber mit Ankündigung, und es hätte Alternativen gegeben, um sie aufzuhalten. Ich spreche nicht von Gewalt oder Mauern: Ich habe zum Beispiel der deutschen Bundesregierung einmal vorgeschlagen, in Syrien an der Grenze zur Türkei eine Stadt zu bauen – nach dem Konzept meiner bereits bestehenden und funktionierenden Sozialstadt für 60.000 Menschen bei Kairo, Haram City. Hätte die Bundesregierung als vorausschauendes Investment mit Entwicklungshilfen für zehn oder 15 Jahre die Mieten garantiert bezahlt, hätte ich mir das Geld zur Umsetzung des Projekts bei einer Bank leihen können. Und bestimmt hätten sich genügend arabische Geschäftsleute gefunden, die so etwas nachahmen wollen, und dann hätte man heute ein paar Dutzend Städte, in denen sich die Menschen ein neues Leben aufbauen könnten.

WELT: Und dann, glauben Sie, wären die Menschen dort geblieben, statt weiter zu fliehen?

Sawiris: Natürlich. Denn sie hätten dort alles gehabt. Was will der Durchschnittsmensch denn? Ein Haus mit Dach für seine Familie und wissen, dass die Kinder mit Ärzten und Schulen versorgt sind und es genug zu essen gibt ...

WELT:... und Arbeit.

Sawiris: Gar nicht unbedingt. In Ägypten zum Beispiel sind die Menschen keine Calvinisten. Sie arbeiten nur, wenn sie es zum Leben brauchen. Der Nil, der die Ägypter sei seither versorgt, hat die Mentalität der Menschen stark geprägt. Man musste nicht planen, man musste nicht haushalten, um nicht zu hungern.

WELT: Woran ist Ihre Idee, Flüchtlinge in Retortenstädten unterzubringen, gescheitert? An den Kosten?

Sawiris: Meine Lösung hätte gerade einmal 200, 300 Euro im Monat pro Familie gekostet. Die Politik, also die Bundesregierung zum Beispiel, kann ja solche Städte verständlicherweise nicht selbst bauen. Aber mit privaten Geschäftsleuten zusammenarbeiten will man auch nicht. Also schickt man Zelte nach Syrien oder Jordanien, wobei klar ist, dass sie keine Dauerlösung sein können, und wartet ab.

WELT: Müsste die Entwicklungshilfe grundsätzlich mehr auf Zusammenarbeit mit dem Privatsektor setzten?

Sawiris: Ja, auf jeden Fall. Es gibt zwar ein paar Projekte mit dem privaten Sektor, aber die sind meines Erachtens nach lange nicht ausreichend. Dass die Masse der Entwicklungshilfe ineffektiv eingesetzt und damit verschwendet wird, weil sie nur über den öffentlichen Sektor läuft, ist auch ein Grund, warum in Afrika und im Nahen Osten nichts vorangeht.

WELT: Dass Afrika wirtschaftlich hinterherhinkt, hat aber auch hausgemachte Gründe. Warum zum Beispiel haben Ägypten und andere Länder keine Unternehmerpersönlichkeiten hervorgebracht wie Ratan Tata in Indien oder Samsung-Legende Lee Kun-hee? Die ganze Region würde dann womöglich sehr viel besser dastehen.

Sawiris: Ja, aber die Regime tolerieren das oft nicht. Meine Brüder und ich zum Beispiel hatten das große Glück, dass unsere Eltern uns zum Studieren ins Ausland schickten, dadurch hatten wir Kontakte hier im Westen und einen geschärften Blick auf unsere Heimat, sodass wir mit diesem Knowhow unsere Geschäfte aufbauen konnten.