Beitrag vom 05.04.2018
Zeit Online DIE ZEIT 15/2018
Ruanda
Ein Kontinent drängt nach vorn
Nie zuvor trafen sich so viele afrikanische Forscher wie jüngst in Ruanda. Sie wollen nicht nur Entwicklungshelfer sein, sondern Teil der Weltspitze.
Von Fritz Habekuß, Kigali
Aus tausend Hügeln soll dieses Land in Ostafrika gemacht sein, das bekommt der Besucher überall erzählt. Schon bevor er auch nur einen Fuß nach Ruanda gesetzt hat, wird er von Plakaten, Reiseführern, Bekannten und dem Immigrationsministerium, das die Visa ausstellt, so begrüßt: "Willkommen im Land der tausend Hügel." Angekommen am Flughafen von Kigali, geht das so weiter, auf Postern, Flyern, Tafeln: welcome, welcome, welcome.
Was man nicht gewohnt ist: dass sie das ernst meinen, das Willkommen. Und dass sie es bei ihrer 1.000-Hügel-Werbung eher unter- als übertreiben. Allein die Hauptstadt Kigali ist auf einem knappen Dutzend von ihnen erbaut. Von einem leuchtet schon von Weitem eine fast durchsichtige Kuppel neonfarben in die afrikanische Nacht.
Dieser Dom gehört zum neuen Konferenzzentrum, das erst vor drei Jahren eingeweiht wurde. Seine Bauweise soll von ostafrikanischer Dorfarchitektur inspiriert sein, erinnert in seiner ätherischen Schönheit aber eher an eine pulsierende Tiefseequalle. An drei Tagen Ende März treffen sich hier kongolesische Mathematiker, ägyptische Onkologinnen, nigrische Netzwerkexpertinnen und äthiopische Kosmologen mit Ministern, Präsidenten, Journalisten, Stiftern und Funktionären vom Kontinent und aus dem Rest der Welt. Ein großes, ehrgeiziges, professionell inszeniertes Schaulaufen soll es werden. "Wir zeigen, dass Afrika wissenschaftliche Exzellenz von Weltformat zu bieten hat", ruft die Moderatorin bei der Begrüßungszeremonie ins Mikrofon, und mehr als 1.600 Gäste applaudieren auf dem größten Treffen afrikanischer Forscher, das es je gab.
Es ist die zweite Auflage des Next Einstein Forum (NEF), das vor zwei Jahren im Senegal Premiere hatte (ZEIT Nr. 13/16). Die Konferenz soll ein Laufsteg sein für afrikanische Spitzenforschung, von Tropenmedizin über Elektrotechnik bis hin zu Informatik und Mathematik.
Die wichtigste Botschaft dabei ist ziemlich simpel: Es gibt auch hier Forschung auf Weltklasse-Niveau. Und die, die sie machen, wollen gesehen werden. Wer hätte denn auch schon jemals von äthiopischen Kosmologen gehört?
Die drei Tage nutzen die Konferenzteilnehmer zu Austausch und Standortbestimmung. Man redet über Frauen in der Wissenschaft, Afrikas sparsame Kreislaufwirtschaft, künstliche Intelligenz im Gesundheitssektor, vernetzte Städte. Schon optisch ist die Konferenz bunter als Wissenschaftlertreffen in Europa oder den USA. Einige Teilnehmer kommen in traditioneller Kleidung, viele tragen Anzug, fast alle sind elegant angezogen. Cordhosen und Holzfällerhemden sind hier verpönt. Der Dresscode ist wichtig. Man nimmt das Treffen ernst.
Als Berichterstatter hört man sich also die Vorträge der Wissenschaftler an, staunt über ihre Forschung an Krebszellen oder versteht nichts von der Geometrie der String-Theorie, nickt weg bei den zehnminütigen Antwortmonologen mancher Politiker, schnorrt sich eine Zigarette bei einem der wenigen Raucher, redet mit anderen bei viel Filterkaffee über das, was gerade zu hören war. Und fragt sich irgendwann: Dieses Selbstbewusstsein, mit dem Afrika hier auftritt – ist das neu, oder hat die europäische Überheblichkeit einen nur daran gehindert, wahrzunehmen, wie vielschichtig und fortschrittlich hier gearbeitet wird?
Das beste Beispiel für den dringend notwendigen Perspektivwechsel ist der Gastgeber, Ruanda. Der Völkermord, bei dem 1994 bis zu eine Million Tutsi abgeschlachtet wurden, ist bis heute ein wichtiges Motiv in der Selbstwahrnehmung des Landes. Von Europa aus gesehen ist es aber praktisch das Einzige, was man über Ruanda weiß. Es passt gut zum Afrikabild der Kriege, Krankheiten und Katastrophen. Dass Kigali sicherer als Wien ist, sauberer als Berlin (und schöner ohnehin) und das Bruttosozialprodukt sich seit Mitte der Neunziger mehr als verzehnfacht hat, kommt in Europa kaum an.
Die Menschen Afrikas sollten nach Wohlstand streben
Überhaupt – Entwicklung. Es gibt viele, die die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (UN) für eine große Errungenschaft der Menschheit halten. Und es gibt die ghanaische Ingenieurin und Unternehmerin Lucy Quist, die ungemütlich wird, wenn man sie nach ihrem Auftritt auf dem Forum fragt, was denn daran zu kritisieren sei, Zustände wie Armut und Hunger eliminieren zu wollen. "Wenn ich bei einem 100-Meter-Lauf antrete, laufe ich dann vor der Startlinie weg? Oder will ich ins Ziel kommen? Im ersten Fall habe ich schon etwas erreicht, wenn ich nur einen Schritt gemacht habe, im zweiten Fall bin ich erst fertig, wenn ich die Ziellinie überquert habe", sagt sie.
Quist wurde in Ghana geboren, lebte in England und in Nigeria, von wo ihre Familie zurück nach Ghana ausgewiesen wurde. Als sie dort ankam, war Nahrung knapp, und Quist lernte das Gefühl kennen, ums Überleben kämpfen zu müssen. Dieser Geist ist ihr geblieben, auch wenn es ihr heute um mehr als das Nötigste geht: "Bewegen wir uns weg von Armut oder hin zu Wohlstand? Es sollte unser Ziel sein, dass Menschen sich selbst verwirklichen können." Quist, die heute eine Telekommunikationsfirma managt, spricht schnell, sie ist es gewohnt, dass man ihr zuhört.
Kigali liegt auf über 1.000 Metern, und gerade hat die Regenzeit begonnen. Sobald die Wolken aufreißen, scheint die Sonne mit brutaler Intensität auf den Platz vor dem Konferenzzentrum. Lucy Quist aber, obwohl auch ihr schon Schweißperlen auf der Stirn stehen, ist noch nicht fertig. "Die meisten schauen auf Afrika und denken, dass die Leute dort doch zufrieden sein sollen, solange sie nicht arm sind. Nein! Die Menschen auf diesem Kontinent sollten nach Wohlstand streben!"
Dass Wissenschaft ein Schlüssel dafür ist, haben auch die Politiker erkannt, die auf das NEF gekommen sind. Ruandas Staatsoberhaupt Paul Kagame, der sein Land zwar mit Repressionen führt, aber erstaunliche Erfolge für Ruanda erreicht hat, oder Senegals Präsident Macky Sall, sie alle wiederholen gern und oft, für wie wichtig sie Wissenschaft halten. Dass es ihnen dabei meist um unmittelbaren Nutzen für das eigene Wirtschaftswachstum geht, zeigt allerdings, dass der Weg zu einer wirklich freien und offenen Forschung noch weit ist.
Welchen Anspruch die Organisatoren des Next Einstein Forum haben, lässt sich schon am Namen ablesen: Der nächste Einstein, er oder sie, soll aus Afrika kommen. Wer sich die NEF-Stipendiaten anschaut, die viele verschiedene Disziplinen und Länder abdecken, erkennt aber, dass der afrikanische Einstein wahrscheinlich bislang zumindest noch in Nordamerika oder Europa arbeitet.
Denn Beispiele wie Mouhamed Moustapha Fall gibt es nicht viele. Fall hat eine tiefe Stimme, in der Nacht vor dem zweiten Konferenztag hat er schlecht geschlafen. Erst will er das Interview verschieben, dann beginnt er bei einer Zigarette doch zu erzählen. Fall wurde in einem kleinen Dorf zweieinhalb Stunden entfernt von der senegalesischen Hauptstadt Dakar geboren. Dort studierte er als Erster in seiner Familie, bekam als Jahrgangsbester ein Stipendium in Italien, promovierte in geometrischer Analyse, ging nach Belgien, nach Deutschland, noch einmal nach Italien – und kehrte vor einigen Jahren wieder zurück nach Dakar.
Heute leitet er dort das Forschungszentrum AIMS (African Institute for Mathematical Sciences), das mathematische Spitzenforschung betreibt und die Konferenz zusammen mit der Robert-Bosch-Stiftung organisiert. "Ich hatte eigentlich nicht daran gedacht zurückzugehen. Als das Angebot kam, sorgte ich mich, dass ich dort wissenschaftlich verkümmern würde. Ich hatte viele schlaflose Nächte."
Fall erhielt eine Stiftungsprofessur der Alexander-von-Humboldt-Stiftung – dabei hätte er auch in Europa Karriere machen können. So wie es aussieht, hat ihm seine Entscheidung nicht geschadet. Wenn im August Fachleute zum weltweit wichtigsten Mathematiker-Kongress in Rio de Janeiro zusammenkommen, ist auch Mouhamed Fall dabei. Er ist als Redner eingeladen – als erster in Afrika arbeitender Forscher überhaupt. Mehr Ehre geht kaum.
Fall, der bislang vor allem Grundlagenforschung betrieben hat, will seine Wissenschaft zusammen mit Partnern aus Bremen oder Frankfurt in die Anwendung bringen. Senegalesische Fischer sollen mithilfe seiner Daten besser planen können, wann und wohin sie aufs Meer fahren, in einem anderen Projekt soll seine Forschung helfen, Nahrungsmittelknappheit zu verhindern.
Der afrikanische Markt wächst pro Jahr mit zehn Prozent
Auch wenn es afrikanische Forscherkarrieren wie die von Mouhamed Fall gibt, sprechen die Zahlen noch immer eine eindeutige Sprache: Nur 1,1 Prozent aller Forschungsarbeiten weltweit kommen aus Afrika – gemessen an seiner Einwohnerzahl ist der Kontinent krass unterrepräsentiert. "Aber es tut sich etwas", sagt Ron Mobed, der einflussreiche CEO des Wissenschafts-Schwergewichts Elsevier. Die Firma gehört zu den größten Verlegern wissenschaftlicher Fachzeitschriften, verdient aber mittlerweile viel Geld mit dem Managen und Verarbeiten von Forschungs- und Gesundheitsdaten. Mobed kennt sich aus mit den verborgenen Strukturen, die für eine funktionierende Forschungslandschaft nötig sind. "Der afrikanische Markt wächst pro Jahr mit zehn Prozent, der Kontinent holt auf. Vor zwanzig Jahren waren wir in China unterwegs und haben den Forschern dort erzählt, wie man ein wissenschaftliches Paper schreibt", sagt Mobed. "Heute veröffentlichen die Chinesen mehr Aufsätze als alle anderen – und wir sind jetzt in Afrika und schulen afrikanische Wissenschaftler." Elsevier wird das NEF dabei unterstützen, eine neue Fachzeitschrift herauszugeben. Scientific African soll Forscher aus verschiedenen Teilen des Kontinents und unterschiedlichsten Disziplinen zusammenbringen.
Noch unveröffentlichte Analysen aus Kanada zeigen, dass Kooperationen zwischen zwei oder mehreren afrikanischen Forschern im Mittel bessere Resultate erzielen, als wenn Wissenschaftler aus Industrieländern mit afrikanischen oder lateinamerikanischen Kollegen zusammenarbeiten. Einen Bedarf an panafrikanischen Fachzeitschriften gibt es also.
Damit Kooperationen entstehen, müssen die einzelnen Länder aber mehr investieren, um ihre klugen Köpfe zurückzuholen. Viele Afrikaner gehen zum Studium ins Ausland, und zu wenige kehren danach zurück: In Nordamerika etwa gibt es mehr nigerianische Onkologen als in Nigeria.
Gegen solche Missstände kämpft Happiness Uwase von der Organisation Bridge 2 Rwanda. Sie bereitet talentierte Schulabsolventen auf die Bewerbung um ein Auslandsstipendium vor. Die Bedingung: Jeden Sommer kommen die Schützlinge für Praktika zurück ins Land. Sie studierten in Singapur, Harvard oder Schottland, und fast alle seien bislang heimgekehrt, erzählt Uwase – sie selbst hat ihren Abschluss im walisischen Cardiff gemacht. "Wenn wir nicht zurückkommen und das Land aufbauen, wer soll es sonst tun?" Man findet diesen weltoffenen Patriotismus häufig unter den Teilnehmern des NEF.
Die Aufbruchstimmung und das Selbstbewusstsein des Kontinents kann man auch außerhalb des Konferenzzentrums spüren. In den Clubs, in denen afrikanische Musik läuft, wird wilder und ausgelassener getanzt als anderswo. Sitzt man als Besucher im Restaurant zwischen gut angezogenen ruandischen Familien, fühlt man sich schnell underdressed. Fährt man aufs Land und redet mit Bauern, die einen mit einer selbstverständlichen Herzlichkeit einladen, ist man beinahe unangenehm berührt – wie viel Zeit und Mühe würden wir selbst in einen fremden Besucher investieren, der einfach nur mal so vorbeikommt?
Nach drei Tagen Next Einstein Forum wird verständlich, warum die Unternehmerin Lucy Quist keine Lust auf Entwicklungshilfe-Almosen hat, sondern ihre Mitbürger antreibt, sich selbst zu verwirklichen. Warum Mouhamed Fall ein Risiko einging und nach Dakar zog. Warum der Elsevier-CEO seine Leute auf den Kontinent schickt, um Forscher zu schulen: Auch in Afrika kann Großes gelingen.