Beitrag vom 26.06.2013
NZZ
Volk ohne Sprache
Die Fischer der Elmolo im Norden Kenyas sehen einer prekären Zukunft entgegen
Die Elmolo, ein kleiner Stamm von Fischern am Turkanasee, haben vor ein paar Jahren schon ihre Sprache verloren. Nun bedrohen Umweltgesetze, Entwicklungsprojekte und Bevölkerungsdruck ihre Existenzgrundlage.
Markus M. Haefliger, Loiyangalani
Lokok Lenapir sitzt auf einem Schemel und sucht im Gedächtnis. «Kerid», sagt er, «so heisst der milde Südwind, der jetzt gerade weht.» Der Blick des alten Mannes ist auf den Turkanasee gerichtet, der in Komote, einem von nur zwei Dörfern der Elmolo, bis an die Hütten der etwa sechzig Haushalte heranreicht. Die Elmolo sind die einzigen Bewohner der Gegend im Norden Kenyas, die seit je in dem in einer kargen Landschaft von Wüste und Vulkangestein gelegenen See fischen. Entsprechend vielgestaltig sind ihre Kenntnisse über das Wasser, den Wind, die Fische und ihre Laichzeiten.
Sechs Namen für den Wind
Lenapir kommen fünf weitere Bezeichnungen für Wind in der Elmolo-Sprache in den Sinn. «Parkan» heisst der Sturm, der während Dürrezeiten aufkommt, «Yeen» der nächtliche Ostwind, und «Kayeur» ist der Wind, der den Regen bringt. Michelita Lenapir, Lokoks Grossnichte, die als Sozialarbeiterin in der Hauptstadt Nairobi arbeitet, schreibt die Bezeichnungen in ein Notizbuch. Die 30-Jährige sagt, bei Besuchen in ihrem Geburtsdorf sitze sie oft stundenlang beim Onkel und schreibe die Lieder der Elmolo nieder. «Ein Volk ohne Sprache ist kein Volk», sagt sie.
Der Onkel kennt sein Alter nicht; auf eine entsprechende Frage antwortet er, er habe drei Kinder gehabt, als Kenya die Unabhängigkeit erlangt habe. Das war 1963. Eine Kindheitserinnerung handelt von einer Strafaktion der Briten auf South Island, einer südlich vor Komote gelegenen Insel. Ein Kolonialbeamter sei von Inselbewohnern umgebracht worden, darauf habe ein Flugzeug eine Bombe über dem Inseldorf abgeworfen, erzählt Lenapir.
Offiziell gilt die Sprache der Elmolo bereits seit zwei Jahrzehnten als ausgestorben. Laut dem Atlas über gefährdete Sprachen der Uno-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) ist sie eine von weltweit 230 Sprachen, die seit 1950 verschwunden sind. Lenapir sagt, seine letzte Unterhaltung in der Muttersprache habe er mit der Mutter geführt, kurz bevor sie vor 23 Jahren gestorben sei. Laut eigener Aussage verstehen ausser ihm noch zwei andere Alte im Dorf die Sprache; «aber sie kennen nicht so viele Wörter wie ich». Trotz der Hitze von über 35 Grad trägt der ehemalige Fischer eine rote Zipfelmütze und am langgezogenen rechten Ohrläppchen einen Anhänger aus elfenbeinweissem Knochen. Er stammt vom Nilpferd, das Lenapir als junger Mann mit einem Speer erlegt hatte. Nach der Sitte der Elmolo ist das Töten eines Nilpferds die Voraussetzung dafür, dass Männer heiraten dürfen, aber der Brauch ist ihnen seit einigen Jahren untersagt.
Die Männer von Komote können mit dem behördlichen Jagdverbot leben, aber seine unbeabsichtigte und unvermeidliche Folge ist der Wegfall der gemeinsamen Gelage im Dorf, wenn ein erlegtes Nilpferd verzehrt wurde. Heute ernähren sich die Elmolo fast nur noch von Fisch. Dies und das stark fluoridhaltige Trinkwasser aus dem See haben ihnen gesundheitliche Schäden eingebracht; fast alle Einwohner Komotes haben rötlich gefärbte Haare und Zähne, viele gehen auf spindeldürren Beinen. Wenigstens das Trinkwasserproblem wurde teilweise behoben, seit vor drei Jahren mit einem von der EU finanzierten Hilfsprojekt eine Wasserleitung vom Fuss des zwanzig Kilometer entfernten Mount Kulal hierher gelegt wurde und das Dorf zwei Wassertanks erhielt.
Dass die Sprache der Elmolo ausstarb, wurde in Kenya kaum beachtet. Der Norden des Landes ist dünn besiedelt; insgesamt leben nur 10 Prozent von 42 Millionen Kenyanern in den acht nördlichsten Landkreisen (Counties), die zusammen 49 Prozent der Staatsfläche ausmachen. Die Steppen- und Wüstenlandschaften, die sich zum äthiopischen Hochland und in die sudanesische Nilebene hin fortsetzen, wurden von nomadischen Hirten bevölkert, die untereinander ein vielfältiges Netz von Beziehungen knüpften. Von den Elmolo, einer Minderheit aus den Völkern der ostkuschitischen Sprachenfamilie, nimmt man an, dass sie mit anderen Gruppen das südliche äthiopische Hochland verlassen hatten und sich am Turkanasee niederliessen. Sie passten sich mächtigeren Nachbarn an, den Turkana und Samburu, zwei nilotischen Stämmen von Viehzüchtern, die von der Kamel- und Rinderhaltung leben. Heute sprechen die Elmolo untereinander Maa, die Sprache der Samburu.
Zu den Völkern des Nordens gehören neben den genannten Ethnien die stammesmässig verwandten Rendille und Somali, ferner die Dassanach sowie die Gabra und Borana, die von den äthiopischen Oromo abstammen. Ihre politischen Vertreter beklagen sich, von aufeinanderfolgenden Regierungen auf die Seite gedrängt worden zu sein. Die vier nördlichsten Landkreise Kenyas, Turkana, Marsabit, Mandera und Wajir, verzeichnen mit Abstand die landesweit höchsten Armutsziffern. Laut dem nationalen Statistikbüro leben zwischen 84 und 94 Prozent der Bewohner unterhalb der offiziellen Armutsgrenze (im Vergleich zu 22 Prozent in Nairobi).
Bis vor einigen Jahren brachten wenigstens ausländische Touristen Geld. Aber in der Folge von Stammeskämpfen und Banditentum verebbten die Besucherströme. Vor 25 Jahren habe sein Unternehmen jährlich 2500 Touristen nach Loiyangalani gebracht, ein Marktstädtchen der Gegend, sagt Frank Glettenberg, der Direktor eines ausländischen Reiseunternehmens. «Jetzt sind es höchstens fünfzig Kunden.» Einheimische Initianten, unter ihnen Michelita Lenapir, versuchen unter Mithilfe von Geberorganisationen in Nairobi, den Tourismus mit einem jährlichen Festival der nomadischen Kulturen wiederzubeleben. Am Turkanasee hätten sich nilotische und kuschitische Völker gekreuzt und eine attraktive Mischung von Lebensformen und Kulturen begründet, sagte Kenyas Kulturminister Hassan Wario kürzlich bei der Eröffnung des diesjährigen Treffens.
Gefahr für den See
Der Tourismus böte den Elmolo vielleicht alternative Erwerbsmöglichkeiten, aber die Krise ihrer Wirtschafts- und Lebensform könnte er nicht abwenden. Seit den 1980er Jahren fischen ausser ihnen auch Luo, die vom Viktoriasee zugewandert sind, und Turkana, die aus Gegenden westlich des Turkanasees stammen, im See. Die Luo hätten den Turkana, einem nomadischen Volk, das den Verzehr von Fisch zuvor tabuisiert hatte, das Fischen beigebracht, sagt Michael Basili, ein ehemaliger Lehrer in Loiyangalani, der die Legenden der Elmolo sammelt und aufschreibt. Während die Fischernetze der Elmolo grobmaschig aus Fasern von Palmwedeln geflochten werden, verwenden die Zuwanderer, die sich in Loiyangalani niedergelassen haben, Nylonnetze. Laut Basili stören sie ausserdem häufig die Laichgründe.
Unterdessen haben auch die Elmolo Fangmethoden übernommen, die zur Überfischung beitragen. Dazu kommt, dass ihr Stamm zwar klein ist, dass ihre Zahl und damit die Zahl der Fischer aber zunimmt. Den Fischbeständen schadet auch die Versalzung des Turkanasees, der über keinen Abfluss verfügt. Der Seespiegel sinkt seit den 1970er Jahren, aber es ist unklar, ob es sich dabei um Fluktuationen von bis zu drei Metern über mehrere Jahre hinweg handelt, wie sie schon früher verzeichnet worden waren, oder ob Klimaveränderungen ein langfristiges Absinken des Seespiegels verursachen. In dem Zusammenhang warnen Umweltschützer vor den Auswirkungen des äthiopischen Staudammprojekts Gibe III am Omo-Fluss, der 80 Prozent des Zuflusses des Sees ausmacht (siehe Zusatz).
Unterhalb von Lenapirs Hütte liegen einige traditionelle Flosse am Ufer. Wenn die Elmolo damit auf den See hinausfahren, kauern sie bis auf vorsichtige Bewegungen mit einem Paddel fast reglos auf dem schmalen Gerät aus zusammengebundenen Palmstämmen. Als junger Mann sei er bis zu zwei Wochen lang weit nach Norden ausgefahren, sagt Lenapir. Er übernachtete am Ufer, Wind und Sterne waren seine Orientierungshilfen. Sei man mit einem Stapel an getrockneten Fischen heimgekehrt, sei man gefeiert worden. Heute wagten sich die Burschen nur noch in grossen Booten weit in den See vor. Aber was Lenapir als Wandel wahrnimmt, ist nur ein kleiner Ausschnitt der Umwälzungen, die auf die Region im hohen Norden Kenyas zukommen.