Beitrag vom 13.11.2012
Neue Zürcher Zeitung
Mangelhafte afrikanische Gesundheitsdienste
Afrikanische Gesundheitsmärkte sind wenig ausgebildet. Anbieter und Nachfrager basismedizinischer Versorgungsleistungen wie der Malaria-Therapie finden oft nicht zueinander. Gefragt sind innovative Eingriffe bei Organisation und Marketing.
Markus M. Haefliger, Ifakara
Die Therapie weitverbreiteter und scheinbar einfach zu behandelnder Krankheiten in Afrika kann deutlich verbessert werden, wenn einkommensschwachen Haushaltungen mit gezielten Schritten der Zugang zu Gesundheitsdiensten erleichtert wird. Das zeigt ein Pilotprojekt der Basler Novartis-Stiftung für nachhaltige Entwicklung im südlichen Tansania. Das 2003 begonnene Vorhaben mit der Bezeichnung «Access» ergab unter anderem, dass die Kindersterblichkeit als Folge von Malariainfektionen ohne medizinischen Mehraufwand, aber durch ein effizienteres Ineinandergreifen von Angebot und Nachfrage von Gesundheitsleistungen um 20% gesenkt werden konnte.
Gratis genügt nicht
In ländlichen Gebieten Afrikas greift das medizinische Grundangebot oft nicht, weil Spitäler und Krankenstationen mangelhaft ausgerüstet sind oder das Personal schlecht arbeitet. Umgekehrt kennen betroffene Familien ihre Bezugsrechte nicht oder wissen nicht, wie sie sich im Bedarfsfall verhalten sollen. Die Mängel treten entgegen einer verbreiteten Ansicht unabhängig davon auf, ob Medikamente unentgeltlich abgegeben werden. Malaria, eine der häufigsten Krankheiten auf dem Kontinent, wird oft falsch behandelt, obwohl wirksame Therapien dank Geldern des globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GF), einer internationalen Initiative öffentlicher und privater Geber, in Entwicklungsländern gratis abgegeben werden.
Das «Access»-Programm wurde in Kilombero und Ulanga, zwei Distrikten in der Umgebung der tansanischen Stadt Ifakara mit insgesamt einer halben Million Einwohnern, in Angriff genommen. Es sollte untersucht werden, welche Verbesserungen in den Austauschbeziehungen mit der Bevölkerung die Wirksamkeit der Gesundheitsdienste erhöhen. Beteiligt waren Forscher des Schweizerischen Tropeninstituts in Basel, des Ifakara Health Institute (IHI) sowie lokale Gesundheitsbehörden. Auf der Nachfrageseite wurden Formen von sozialem Marketing unter Einsatz von Schülern und Frauen-Sparvereinen geprüft. Ein weiteres Element bildete der Ausbau eines einfachen Versicherungsschutzes.
Frauen-Spargruppen fristen vielerorts in Afrika ein Mauerblümchendasein, weil es an Anfangskapital fehlt. Im Rahmen des «Access»-Projekts erhielten 2008 zehn Sparklubs Darlehen von umgerechnet je rund 1500 Fr. Drei Jahre später hatten alle einen Gewinn erwirtschaftet. Eine Gruppe mit 40 Mitgliedern im Dorf Namwawala, eine Fahrstunde westlich von Ifakara, erhöhte ihr Kapital dank Rückzahlungen und neuen Einlagen von 3,8 Mio. tansanischen Shilling (tSh.) auf 7 Mio. tSh. (4150 Fr.). Gertrude Rashid, ein Mitglied des Klubs, baute mit einem Kredit erfolgreich eine Schweinezucht auf. Die 37-jährige Bäuerin bezeichnet «Access» denn auch als Organisation, «die Frauen aus der Armut hilft». Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit.
Mobilisierte Mütter
Um unterstützt zu werden, verpflichten sich die Frauen zu konkreten Schritten der Gesundheitsvorsorge, wie etwa Einsatz von Moskitonetzen, medizinische Überwachung von Schwangerschaften oder Teilnahme an Aufklärungskampagnen. Ausserdem werden sie sanft gedrängt, einem örtlichen Versicherungsfonds (Community Health Fund) beizutreten, einer freiwilligen Krankenversicherung für ländliche Gebiete.
Bei den drei Kindern von Gertrude Rashid kommt es nach ihren Angaben pro Jahr insgesamt zu zwei bis drei Malariaerkrankungen. Für ärztliche Konsultationen habe früher das Geld gefehlt, deshalb habe sie meist zugewartet, bis die Fieberanfälle von alleine zurückgegangen seien. Seit sie der Versicherung beigetreten sei, trage diese die Behandlungskosten, sagt Rashid.
Wie die Ökonomin Flora Kessy vom IHI erklärt, zeigt sich an den ländlichen Versicherungsfonds die Kluft, die in Tansania häufig zwischen einer guten Politik und ihrer schlechten Umsetzung besteht. Die Fonds waren schon 2001 vom Parlament beschlossen worden; die Gesundheitsbehörden in Distrikten hätten die Aufgabe, sie zu verwalten. Einzahlungen der Mitglieder (umgerechnet 6 Fr. pro Jahr für bis zu fünf Familienmitglieder) werden durch die staatliche Krankenversicherung subventioniert. «Alles ist da», sagt Kessy, «die Einrichtungen, das Geld - aber es geschieht nichts.» Das Gleiche gelte auch für die Frauen-Sparklubs, die von Gesetzes wegen gefördert und von den Distriktverwaltungen betreut werden sollten.
Dank dem «Access»-Programm können die Mitglieder Leistungen der Gesundheitsfonds verlangen, statt dass diese von oben angeordnet werden. Das klappt besser. Im Versuchsgebiet verdreifachten sich die Einzahlungen in die Fonds seit 2008 von 34 Mio. auf 105 Mio. tSh. Im gleichen Zeitraum stiegen im Distrikt Ulanga die Mitgliedschaften von 5% der Zielbevölkerung auf 22%. Im benachbarten Kilombero stagnieren die Zahlen dagegen, weil die Kassenmitglieder schlechte Erfahrungen mit nicht ausbezahlten Geldern und fehlenden Medikamenten gemacht haben. Das Problem seien Schlendrian und mangelndes Führungsverhalten der Verantwortlichen, sagt Kessy. Die Wirksamkeit der Versicherungsfonds ist hoch. Laut den Untersuchungen ist die Chance, dass Malaria-Patienten innerhalb der empfohlenen 24 Stunden therapiert werden, bei Fondsmitgliedern doppelt so hoch wie bei Nichtversicherten.
Summe von Korrekturen
Das Projekt, das von der Novartis-Stiftung über acht Jahre mit insgesamt über 4,5 Mio. Fr. finanziert wurde, untersuchte anhand der Malaria-Therapie, welche Schranken einer wirksamen Behandlung entgegenstehen. Die Erkenntnisse lassen sich laut den beteiligten Fachleuten zumindest teilweise auch auf andere Epidemien übertragen. Unspektakuläre Eingriffe im ländlichen Gesundheitssektor erzielen in der Summe grosse Wirkung. Das schwächste Glied bestimme den Ablauf von der Früherkennung einer Krankheit über die Diagnose bis zur Verfügbarkeit von Personal und Medikamenten, sagt Klaus Leisinger von der Novartis-Stiftung. Auch was Patienten glauben, ist wichtig. Suchen sie professionellen Rat, oder vertrauen sie Naturheilern und Scharlatanen? Wie «Access»-Studien belegen, lassen sich entsprechende Verhaltensweisen durchaus beeinflussen.
Der Epidemiologe Christian Lengeler vom Schweizerischen Tropeninstitut unterscheidet Interventionen danach, ob sie unabhängig von einem Gesundheitssystem erfolgen, wie Impfkampagnen und die Abgabe von Moskitonetzen, oder ob sie auf der Kooperation von Betroffenen, Behörden und Gesundheitspersonal fussen. Im letzteren Fall brächten nur wohlüberlegte Eingriffe im System Erfolg, sagt Lengeler.
Bei Aufklärungskampagnen erwies sich der Einsatz von Schülern als besonders sinnvoll. In 160 Primarschulen erhielten die Kinder interaktive Unterrichtseinheiten über Malaria vermittelt. In der Rumemo School in Ifakara erzählt ein Mädchen von der Erkrankung seiner kleinen Schwester. Die 14-Jährige sagt, sie habe der Mutter widersprochen und auf Malaria-Symptome hingewiesen. Daraufhin habe die Mutter eine Klinik aufgesucht, statt dem Baby Kopfwehtabletten zu verabreichen.
Eine andere Schülerin alarmierte in einem ähnlichen Fall die Gesundheitsdienste selber. Laut dem Mädchen waren die Eltern weit vor der Stadt mit der Reisernte beschäftigt. Die Umstände sind typisch für die Gegend. Bei Ifakara treffen Flüsse, die aus den nahe gelegenen Udzungwa-Bergen abfliessen, aufeinander; das Gebiet ist sumpfig. Zur Erntezeit machen sich die Bauern auf die Wanderschaft, schneiden Reis und übernachten in Behelfsunterkünften auf den Feldern und riskieren so, von Anophelesmücken gestochen zu werden, welche die Malaria übertragen.
Qualitätskontrolle
Tansania bietet seiner Bevölkerung Gesundheitsdienste an, die für Afrika grundsätzlich vorbildlich sind. Jeder Distrikt verfügt über mindestens ein Spital, mehrere Gesundheitszentren, Dutzende von dezentralen Stationen für die ambulante Behandlung und Apotheken. Das Personal besteht aus «Clinical Officers», die medizinisch geschult sind und mit «Doktor» angesprochen werden, aber keinen akademischen Titel haben. So wird der Abwanderung von Fachpersonal ins Ausland vorgebeugt.
Auf sich allein gestellt, versagt das System jedoch häufig. Eine 2009 in der Küstenmetropole Dar es Salaam durchgeführte Studie belegt dies beispielhaft. Danach diagnostizierten die Labordienste bei 70% der Patienten Malaria, obwohl nur 7% infiziert waren - eine Fehlerquote von 90%. Auf die irrtümlichen Diagnosen folgen unnötige oder falsche Behandlungen. Dazu kommt eine ineffiziente Medikamentenverteilung. Malaria-Tabletten der ACT-Klasse (Artemisinin Combination Therapy), heute als wirksamstes Heilmittel gegen akute Anfälle empfohlen, werden gratis abgegeben und durch die Geberorganisationen des GF geliefert. Aber den Gesundheitsdiensten auf dem Land gehen trotzdem häufig die Bestände aus.
Um die Mängel zu beseitigen, entwickelte das «Access»-Programm eine systematische Qualitätskontrolle, bisher ein Fremdwort im tansanischen Gesundheitswesen. Mitarbeiter der lokalen Gesundheitsbehörden, die zu Supervisoren weitergebildet wurden, inspizieren Spitäler und Gesundheitsstationen, um die Qualität der Infrastruktur, von Sprechstunden oder der Betriebsführung zu protokollieren. Mängel und Fehler werden diskutiert und Verbesserungen vorgeschlagen. Die Kontrollen führten innert zweier Jahre zu messbaren Fortschritten bei den Kenntnissen und Fertigkeiten des Personals.
Alleingelassenes Personal
Die Motivation des Gesundheitspersonals bleibt jedoch erschreckend tief und bremst die Erfolge. Der Enthusiasmus von Berufseinsteigern wird durch bürokratische Hürden, das mangelnde Interesse von Gesundheitsbehörden, fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten sowie die Erfahrung geknickt, dass Mitarbeiter vom System im Stich gelassen werden. Man kann sich die Frustration eines Clinical Officer ausmalen, der einer Mutter eröffnen muss, dass ihr Tagesmarsch mit einem kranken Kind auf dem Rücken und dem Versicherungsausweis in der Handtasche umsonst war, weil das nötige Medikament nicht nachgeliefert wurde.
In einer nächsten Phase, die soeben angelaufen ist, wird die Qualitätskontrolle weiter ausgebaut und elektronisch gestützt. Statt auf Papierbogen geben die Supervisoren die Antworten in einen Tabletcomputer ein. Die Daten werden über das Mobiltelefonnetz auf einen Zentralrechner hochgeladen und sind umgehend verfügbar. Laut Alexander Schulze von der Novartis-Stiftung erleichtert die Automatisierung den lokalen und nationalen Gesundheitsbehörden die Budgetplanung, weil sie erstmals einen Überblick über quantitative und qualitative Lücken erhalten.
Die Supervisoren selber haben sich gut mit dem neuen Instrument vertraut gemacht. Im Gesundheitszentrum Kibaoni in Ifakara sagt die Inspektorin Dorothy Maganga, welche die Sprechstunde eines Clinical Officer bewertet, schwierig sei nur derjenige Posten des elektronischen Fragebogens, nach dem sie beurteilen müsse, ob der Mitarbeiter die Körpersprache der Mutter eines kranken Kindes richtig deute. Weitere Interventionen betreffen die Unterstützung von kommerziellen Apotheken, die zunehmend die Lücken im staatlichen Versorgungssystem füllen sollen. Ihre Leistungen werden zukünftig ebenfalls durch die ländlichen Versicherungsfonds entschädigt.
Der Erfolg der gebündelten Massnahmen kann an der wachsenden Zahl korrekter Behandlungen gemessen werden. Zu Beginn einer Studie 2004 hatten fast 100% der Patienten mit Fieber ein Medikament bekommen. Aber je genauer die Forscher hinsahen, desto schlechter fiel die Quote der angewandten und anerkannten Therapien aus. So nahm nur ein Drittel das richtige Medikament innert 24 Stunden ein.
400 Menschenleben
Vier Jahre später lagen die Werte um 30 Prozentpunkte höher. Seither gab es weitere Verbesserungen (wobei die Einführung der ACT-Medikamente, die sich erst allmählich durchsetzen, die Statistik verfälschen). Laut Lengeler senkte die Summe der Verbesserungen die Kindersterblichkeit wegen Malaria von 25 auf 20 pro 1000 und Jahr. Auf die Distrikte des Pilotprojekts mit 500 000 Einwohnern umgerechnet, bedeutet dies jährlich 400 Todesfälle weniger.
Lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen Basel und Ifakara
mhf. â‹… Ifakara, ein ländliches Städtchen mit 50 000 Einwohnern 325 km südwestlich von Dar es Salaam, ist ein weltweit anerkanntes Zentrum der tropenmedizinischen Forschung und Lehre. Das Ifakara Health Institute (IHI) geht auf die Initiative des Basler Industriellen und Mäzens Rudolf Geigy zurück, der die Anstalt 1957 als Feldlabor des Schweizerischen Tropeninstituts in Basel gründete. Heute hat das IHI Filialen in mehreren Regionen Tansanias. In den 1970er Jahren kam ein Ausbildungszentrum dazu, das heutige Tanzanian Training Centre for International Health, das bei der praxisorientierten Ausbildung von medizinischem Personal Pionierarbeit leistet. Die Anstalten werden seit der Gründung durch öffentliche und private Gelder aus der Schweiz unterstützt, finanzieren sich heute aber weitgehend selber. Das Pilotprojekt «Access» ist ein Gemeinschaftsvorhaben des IHI und der Novartis-Stiftung.
Bei der Gründung des IHI vor sechs Jahrzehnten fiel die Ortswahl auf Ifakara, weil Malaria in der Gegend endemisch war. In den letzten zwei Jahrzehnten fiel die Inzidenz von Malaria (gemessen am Anteil der innerhalb eines Jahres mindestens einmal infizierten Bevölkerung) in Tansania von 90% auf 6%. Zu verdanken war der markante Erfolg hauptsächlich der Verteilung von Moskitonetzen, die mit Insektiziden imprägniert sind. Teilweise unabhängig davon ist die Mortalität bei Malariaerkrankungen allerdings weiterhin hoch, im Besonderen bei Kindern. Hier setzt das «Access»-Programm ein. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind, mit Einschränkungen, auf ähnliche Epidemien und auf Gesellschaften mit ähnlichen Defiziten bei der Gesundheitsversorgung übertragbar.