Beitrag vom 21.09.2023
NZZ
Junge an die Macht – warum die schnell aufeinanderfolgenden militärischen Umstürze in Zentralafrika auch eine Chance sein können
Die erfolgreichen Putsche in zentralafrikanischen Staaten erfolgen in einer Frequenz, die Europa in Verwirrung stürzt. Warum wenden sich viele Länder vom Westen ab? Was hat die ehemalige Kolonialmacht Frankreich falsch gemacht? Und: Kann es einen Neuanfang geben?
Johannes B. Kunz
Nach Mali, Guinea, Burkina Faso und Niger hat nun auch in Gabon das Militär die Macht im Staat übernommen. Dies alles geschah innerhalb von zwei Jahren. Präsident Macron spricht bereits von einer Epidemie von Staatsstreichen.
Das Ende der Serie ist nicht absehbar, da weitere west- und zentralafrikanische Staaten verwundbar erscheinen. Wie stark Europa von diesen Ereignissen betroffen sein kann, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Taoudenni im Norden Malis 200 Kilometer weniger weit von Bern entfernt ist als Luhansk in der Ostukraine.
Trotz unterschiedlichen Kontexten weisen diese Ereignisse in ausschliesslich frankofonen Ländern Afrikas gemeinsame Züge auf, wobei allerdings der Putsch in Gabon eine etwas andere DNA hat als die Umstürze im Sahel. In allen Fällen setzen sie jedoch Regierungen ein Ende, die durch formell demokratische Urnengänge an die Macht gelangt waren, wobei wohl nur im Falle von Burkina Faso und Niger von fairen Wahlen in unserem Sinne gesprochen werden konnte.
Generationenkonflikt
In diesen beiden Ländern ging es beim Putsch nicht um die Beseitigung eines Präsidenten, der sein Amt offensichtlich usurpiert hatte. Allenorts indes herrschte eine grosse Unzufriedenheit mit der ungenügenden Leistung und dem überheblichen Verhalten der politischen Eliten. Grossen Teilen der Bevölkerung riss der Geduldsfaden. Dies veranlasste die örtlichen Militärs, welche als Einzige die physischen Mittel besitzen, Änderungen zu bewirken, zu handeln.
Die Regierung in Paris war ausserstande, mit den ehemaligen afrikanischen Kolonien auf Augenhöhe zu verkehren.
Ein wesentlicher Anteil an der Unzufriedenheit liegt in der Tatsache, dass die politische Elite bis heute aus Leuten besteht, die nur schon aufgrund ihres Alters einer Bevölkerungsminderheit angehören. In Ländern, in welchen bis zu 40 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt sind, ist es zusehends problematisch geworden, dass die politische Elite aus Personen in der Altersklasse über sechzig besteht.
Interessant ist diesbezüglich die Entwicklung in Burkina Faso, einem der weltweit jüngsten Länder, wo in einer ersten Phase ein älterer, ranghoher Offizier gegen die demokratisch gewählte Regierung putschte, bevor er dem jungen Hauptmann Ibrahim Traoré weichen musste, der seither mit 35 Jahren als jüngstes Staatsoberhaupt der Welt amtet. Die Putschisten sind tatsächlich überall junge, rangniedrige Offiziere. Die Staatsstreiche – mit Ausnahme von Gabon – sind daher auch oder vielleicht vor allem die Folge eines Generationenkonflikts.
Die «Jungen» verlieren zusehends den von der afrikanischen Tradition geforderten Respekt vor den «Alten», die dank den Fortschritten der Medizin immer weiter an der Macht ausharren. Dadurch werden die «Jungen» zum einen bevormundet, und zum anderen fehlt es ihnen an Mitspracherecht. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Staatsstreiche durchaus ein Akt der Befreiung und werden von den überwiegend jungen Bevölkerungen entsprechend mit echter Begeisterung gefeiert.
Mit der Präpotenz der Eliten hat sich auch die Demokratie, deren Einführung von den westlichen Geldgebern im Austausch gegen Entwicklungshilfe erwirkt wurde, diskreditiert. Sie hat immer nur die privilegierten Schichten begünstigt, da der einfache Bürger nicht die Mittel hatte, sich in und gegenüber den Institutionen Gehör zu verschaffen. Die Militärherrschaft mit der damit einhergehenden Disziplinierung scheint deshalb in urbanen Kreisen an Attraktivität gewonnen zu haben, während in den ländlichen Gegenden des Sahel zusehends die Scharia als Herrschaftsmittel der Jihadisten als valable Alternative zum Konzept der Demokratie erscheint.
An Frankreichs Gängelband
Beides stellt eine klare Abgrenzung gegenüber dem westlichen Einfluss dar und eine klare politische Positionierung für die nationale Souveränität. Dass die gegenwärtige «Putsch-Epidemie» ausschliesslich frühere französische Kolonien betrifft, liegt daran, dass keine andere Kolonialmacht in Afrika das Abhängigkeitsverhältnis mit den ehemaligen Untertanen so dezidiert aufrechterhalten hat wie Frankreich.
Mit Ausnahme von Guinea waren sämtliche betroffenen Staaten Standort französischer Truppenkontingente, was eine Beschneidung der staatlichen Souveränität der Gaststaaten nach sich zog. Ihr Abzug war folgerichtig eine der ersten Forderungen der Putschisten.
Nichts zeigt die Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung klarer als die Währungszonen des CFA-Frankens, mittels welcher Paris sich bis heute Einfluss auf die Geldpolitik seiner früheren Kolonien sichert.
Alle von den Staatsstreichen betroffenen Länder ausser Guinea sind Mitglied der west- bzw. zentralafrikanischen Währungsunion. Für diese Staaten bedeutet die Bindung an den Euro grob gesagt zwar eine stabile Währung, die aber die Preise ihrer Exporte auf dem Weltmarkt verteuert und dafür sorgt, dass sie ihre Produkte praktisch in Frankreich und der EU verkaufen müssen, weil ihnen der Zugang zum Weltmarkt wegen der fehlenden Konvertibilität des CFA-Frankens erschwert, wenn nicht gar verwehrt ist.
Angesichts dieser Situation nahmen in den letzten Jahren die Stimmen zu, welche eine neue eigene Währung fordern. Die Staatsstreiche folgen daher der Logik nationaler Emanzipation und der Verwirklichung einer tatsächlichen Unabhängigkeit.
Frankreich hat das wachsende Spannungspotenzial nicht erkennen wollen. Die Regierung in Paris war ausserstande, mit den ehemaligen afrikanischen Kolonien auf Augenhöhe zu verkehren. Offizielle Gestik und offizieller Diskurs waren von Überheblichkeit und Arroganz geprägt. Diese kulminierten 2007 in der Rede von Präsident Sarkozy an der Universität Dakar, in welcher er vom Glück der Afrikaner sprach, von Frankreich kolonisiert worden zu sein.
Zehn Jahre später versuchte Macron, es besser zu machen. Im übervollen Saal der Universität Ouagadougou sprach er in schon fast penetranter Weise von einer Partnerschaft zwischen Gleichberechtigten. Wem Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Beteuerung gekommen waren, sah sich bestätigt, als er in einer scherzhaft gemeinten Bemerkung den anwesenden Präsidenten Roch Kaboré demütigte. Man darf daher in den Staatsstreichen auch das Verlangen nach menschlicher Anerkennung und mehr politischem Respekt erkennen.
Der Faktor Ukraine
In drei der Länder rücken die jihadistischen Terrororganisationen al-Kaida und Islamischer Staat gegenwärtig stetig vor. Wer nun befürchtet, die terroristische Gefahr werde durch den Abzug der französischen Truppen eskalieren, hat zwar nicht Unrecht, vergisst aber, dass sich der Terror in den letzten zehn bis zwölf Jahren trotz oder gar wegen der französischen Präsenz kontinuierlich verstärkt hat. Es ist daher legitim, die souveränitätswidrige Präsenz fremder Truppen zu beenden.
Der Versuch Malis, die französischen Streitkräfte durch marodierende russische Söldner zu ersetzen, war wohl von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ibrahim Traoré will es in Burkina Faso im Sinne seines Vorbilds Thomas Sankara mit einer Rückbesinnung auf eigene Stärken mit einer Bewaffnung der Bevölkerung versuchen. Er geht damit das Risiko ein, Spannungen in der eigenen Gesellschaft zu verstärken und das gleiche Schicksal wie Sankara zu erleiden, der 1987 ermordet wurde.
Bereits vor über zehn Jahren haben die Sahelstaaten den Westen um technische Hilfe bei der Bekämpfung des Terrors gebeten. Die Situation war damals noch nicht so ernst wie heute. Sie bekamen zwar fremde Truppen, aber kaum Ausrüstung und modernes Gerät.
Die Tatsache, dass die Ukraine innerhalb von wenigen Monaten mit Dutzenden von Milliarden Dollar unterstützt wurde, obwohl das Land in Bezug auf die Korruption 2021 fünfzig Ränge schlechter platziert war als beispielsweise Burkina Faso, musste bei den Afrikanern das Gefühl verstärken, für den Westen von weit untergeordneter Bedeutung zu sein. Hinzu kommt, dass die USA und die EU jeden Mangel in der Regierungsführung penibel kritisierten und einzelne Länder mit Wirtschaftssanktionen bestrafen. Europa aber wird es hart treffen, wenn es den Jihadisten gelingen sollte, im Sahel ihr Kalifat zu errichten.
Angesichts der Gefahr, dass vor Europas Haustür ein Afghanistan entsteht, müsste die EU, die schon heute mit der Migrationsfrage heillos überfordert ist, mit den Staatsstreichen in Afrika weniger verkrampft umgehen und zu einer kohärenten Politik finden.
Es ist in keiner Weise einsichtig, wie jemand ernsthaft glauben konnte, dass Niger die letzte Bastion westlicher Demokratie in diesem Teil der Welt dargestellt habe und die Putschisten daher besonders hart sanktioniert werden müssten. Erfolgversprechender wäre es wohl, zusammen mit den jüngeren neuen Machthabern nach Mitteln und Wegen zu suchen, die tatsächliche Bedrohung, den Jihadismus, von der Region abzuwenden. Wenn sich erst einmal ein Kalifat etabliert hat, wird die Region auf Jahrzehnte hin für die Demokratie verloren sein.
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Johannes B. Kunz war Schweizer Botschafter in Côte d’Ivoire, Burkina Faso, Kamerun, Guinea und Niger.