Beitrag vom 07.10.2018
Berliner Zeitung
Interview ULRIKE RUPPEL mit dem Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin Günter Nooke:
„Der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit“
Günter Nooke (59, CDU) ist Afrika-Beauftragter der Regierung. Mit B.Z. sprach er unter anderem über Migration, Entwicklungshilfe und Rohstoffe.
Das Thema Zuwanderung hat Afrika in den Fokus gerückt. B.Z. befragte den Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin, Günter Nooke (59, CDU), nach den Zuständen auf dem Kontinent, den er seit seinem Amtsantritt 2010 oft bereist hat.
Sitzen in Afrika Hunderttausende auf gepackten Koffern?
Das wissen wir nicht. Aber viele tragen sich mit dem Gedanken auszuwandern. Fast immer ist das Traumziel Europa. Die wenigsten Migranten aus Afrika sind Flüchtlinge. Die meisten suchen ein besseres Leben.
Hat die ganze Entwicklungszusammenarbeit so wenig gebracht?
Lange Zeit haben wir zu wenig auf wirtschaftliche Entwicklung gesetzt und zu
viel im Hilfsmodus gedacht. Im Kampf gegen den Hunger haben wir einiges
erreicht. Aber wegen des Bevölkerungswachstums fällt Afrika jetzt wieder
zurück. Die Herausforderungen sind riesig. Wir müssen uns bewusst machen:
Afrika ist anders. Die Lösungen Europas können nicht die Lösungen Afrikas
sein.
Wo ist Afrika anders?
Die Gesellschaften dort funktionieren anders. Das hat mit Clan-Strukturen zu
tun, der Rolle von Stammesführern, der Vielzahl an Ethnien und tradierten
Verhaltensweisen. In Niger bekommen die Frauen im Schnitt 7,3 Kinder, die
Männer hätten gern elf! Natürlich hat es auch mit dem Klima zu tun. Bei 35
Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit ist die Arbeitsproduktivität auf dem Bau
eine andere als hier. Es wird auch ganz wenig in Afrika selbst produziert. Das
meiste wird importiert. Deshalb machen wir uns etwas vor, wenn wir sagen:
Der Handel ist wichtig. Zuerst muss es etwas zum Handeln geben. Und da
haben wir in Afrika außer ein paar landwirtschaftlichen Produkten und
Rohstoffen noch nicht viel.
Rohstoffe sind doch gefragt!
Aber man kann mit dem Export von Rohstoffen nicht viel Geld verdienen.
Deshalb braucht es Industrialisierung. Nigeria fördert seit 50 Jahren Öl, hat
aber keine einzige funktionierende Raffinerie. Rohöl raffinieren oder
Plastikstühle herstellen könnte man auch vor Ort. Stahlwerke,
Aluminiumwerke – könnte es alles geben. Aber es fehlt an ausgebildeten
Arbeitern und Infrastruktur. Einen Container in einen afrikanischen Hafen zu
bringen ist billiger als ein paar hundert Kilometer in Afrika über Land zu
transportieren. Der innerafrikanische Handel ist gehemmt. Zölle müssten
fallen, wie in Ostafrika geschehen. Kenia, Tansania, Uganda: Da ist eine
Handelsregion entstanden. Aber Schmiergelder braucht es trotzdem. Ein
Grund, warum europäische Firmen in Afrika sehr zurückhaltend investieren.
Inwieweit sind diese Missstände eine Folge der Kolonialzeit?
Es gibt schon Nachwirkungen. Schlimm waren die Sklaventransporte nach
Nordamerika. Auf der anderen Seite hat die Kolonialzeit dazu beigetragen,
den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen. Experten, auch Afrikaner,
sagen: Der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit.
Warum?
Nach der Unabhängigkeit ab 1960 haben sich Ost wie West je ihre eigenen
Diktatoren gehalten. Demokratie wurde nicht erlernt, eine freie Entwicklung
nicht zugelassen. In dieser Zeit sind mehr korrupte Eliten entstanden als in der
Kolonialzeit. Nach 1990 hätte man da einiges abarbeiten können. Aber das ist
nicht geschehen.
Was tun?
Die Regierungen dürfen sich nicht damit zufriedengeben, dass ihre Bürger das
Land verlassen und Geld aus dem Ausland schicken. Sie müssen sich um das
Wohl der Bevölkerung kümmern und mit ihr gemeinsam das Land aufbauen.
Die Ärmsten kommen ja gar nicht weg. Diejenigen, die das Geld für die
Schlepper haben, sind die besser Ausgebildeten, die das Land eigentlich
voranbringen könnten. Deshalb ist es auch moralisch fragwürdig, wenn wir alle
aufnehmen wollen. Auch wenn wir sie ausbilden – die meisten gehen ja nicht
zurück. Entwicklung und mehr Produktivität gibt es aber nur mit Fachkräften.
Da müssen wir umdenken.
In wie fern?
Klar ist: Wir müssen alle Migranten aus dem Mittelmeer retten. Aber je mehr
wir nach Europa bringen, desto mehr Boote stechen in See. Deshalb müssen
wir sie zurückbringen an Orte, wo wir sie beschützt sind, Ausbildung und
Arbeit finden. Lager sind da nur Notlösungen. Besser wäre es, Städte zu
gründen – auf neuem Gelände, mit klaren Regeln und Strukturen.
Wo und wie soll das gehen?
Vielleicht ist der eine oder andere afrikanische Regierungschef bereit, gegen
eine Pacht ein Stück territoriale Hoheit abzugeben und dort für 50 Jahre eine
freie Entwicklung zuzulassen. Dort könnten in Wirtschaftssonderzonen
Migranten angesiedelt werden, unterstützt von der Weltbank oder der EU oder
einzelnen Staaten. Der Grundgedanke ist, dass daraus Wachstum und
Wohlstand entsteht.
Wo soll der herkommen?
Investoren könnten Werke bauen und vor Ort produzieren. In
Infrastrukturprojekten würden Afrikaner angestellt. Ganz wichtig sind ein
Rechtsrahmen und sichere Verhältnisse. Ein Investor baut ein Kraftwerk ja
nur, wenn die Stadtregierung durchsetzt, dass die Verbraucher den Strom
auch bezahlen.
Ist das nicht selbstverständlich?
Leider nein. An fehlenden Gesetzen liegt es selten. Aber die internationalen
Investoren müssen sich darauf verlassen können, dass es der Staat
sanktioniert, wenn Masten umgelegt werden oder die Leute illegal Strom
zapfen.
Wie realistisch sind solche beschützten Städte?
Wir diskutieren an mehreren Stellen darüber. Noch ist es unrealistisch. Aber
das kann sich in wenigen Jahren ändern. Dann sollten wir bereit sein, eine
Antwort zu geben.
Die Chinesen investieren eifrig in Afrika. Wie sehen Sie dieses
Engagement?
Die Chinesen investieren viel in den Abbau von Rohstoffen, kaum in die
Verarbeitung. Das kann man kritisch sehen. Aber zumindest passiert etwas,
auch so entstehen Arbeitsplätze. Es macht für eine Stadt einen Riesen-
Unterschied, ob 3000 Einheimische in einer Kupfermine arbeiten und Steuern
zahlen oder nicht. Die ganzen Straßenhändler und landwirtschaftlichen
Familienbetriebe zahlen ja keine Steuern. Das ist in Afrika das Normale, der
informelle Sektor beträgt 80 bis 90 Prozent. Aber man muss Chinas Aktivitäten
natürlich beobachten, weil durch die Verschuldung der Afrikaner
Abhängigkeiten entstehen.
Wie kann man deutsche Investoren gewinnen?
Es ist nicht so, dass sie Afrika meiden. Aber zurzeit können sie in anderen
Teilen der Welt mehr verdienen, zumal es kaum noch große deutsche
Rohstofffirmen gibt. Afrika macht gerade mal zwei Prozent des deutschen
Auslandsgeschäftes aus. Wenn man Industrie da hinbringen will, braucht es
Anreize und Absicherungen durch die Bundesregierung oder die EU.
Sehen Sie eine besondere Verantwortung der Industriestaaten wegen
des Klimawandels?
Am Leerfischen von den afrikanischen Küsten tragen EU-Staaten eine große
Mitschuld. Beim Klima gibt es eine Mitverantwortung. Aber auch Afrika hat
seinen Teil dazu beigetragen. Große Teile des Regenwaldes sind
verschwunden und wurden für Feuerholz genutzt. Das geht bis heute so weiter
ohne ausreichende Aufforstung. Ein Problem ist auch, dass große Landstriche
nicht mehr bewirtschaftet werden. Es werden keine Zisternen mehr gebaut,
keine Terrassen mehr angelegt. Dadurch geht viel Wasser verloren. Die
Bevölkerung in vielen Tälern hat sich vervielfältigt, die Böden wurde übernutzt,
und die Menschen mussten wegziehen, weil die ganze Gegend verödete.