Beitrag vom 30.10.2017
Afrika ist unser Problem – muss es aber nicht bleiben
Dr. Reiner Klingholz
Direktor und Vorstand, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Die UN prognostiziert: 2050 leben 9,8 Milliarden Menschen auf der Erde
Besonders in Teilen Afrikas muss die Geburtenrate sinken
Schafft der Kontinent das nicht, werden Hungersnöte und Epidemien wüten
Wir werden mehr. Jeden Tag. Jede Stunde. Vor sechs Jahren, 2011, waren wir noch 7 Milliarden. Heute sind 600 Millionen Menschen mehr zu versorgen. 100 Millionen jedes Jahr. Ein Trend, der vorerst nicht nachlassen wird: Die UN schätzt, dass im Jahr 2050 9,8 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, 2100 könnten es 11,2 Milliarden sein.
Wie viele Menschen können auf unserem Planeten leben? Das hängt extrem von ihren Fähigkeiten und ihrem Entwicklungsstand ab. Niger, ein Binnenstaat in Westafrika beispielsweise, hat derzeit 20 Millionen Einwohner. Sie sind größtenteils Nomaden und Subsistenzbauern. Mit dieser Wirtschaftsweise könnten dort vielleicht 10 Millionen Menschen gut existieren. Wie aber sollen in Niger 60 oder 70 Millionen überleben, wie sie dem Land am Südrand der Sahara für 2050 vorhergesagt werden?
Bildung: bestes Mittel im Kampf gegen hohe Geburtenziffern
Noch vor einigen Jahren schien es, als würden auch in Afrika die Geburtenziffern so weit sinken, dass sich das Bevölkerungswachstum verlangsamt. Selbst die armen Länder schienen auf den Pfad der Entwicklung zu gelangen, und immer mehr Kinder bekamen Zugang zu Bildung. Dies ist die Grundlage für spätere wirtschaftliche Erfolge. Gerade Mädchen und Frauen profitieren davon, weil sie mit besserer Bildung ein eigenes Einkommen erzielen können sowie selbstbestimmter und unabhängiger von Männern werden. Je länger Mädchen zur Schule gehen, desto später bekommen sie später eigene Kinder und umso größer werden die Abstände zwischen den Geburten, was der Gesundheit zuträglich ist.
Doch mittlerweile zeigt sich, dass vielerorts die Anfangserfolge im Bildungssektor nicht ausreichen: Gerade Mädchen brechen die Schule oft schon nach wenigen Jahren ab und werden stattdessen früh verheiratet. Zudem wächst die Zahl der Kinder in vielen Ländern so schnell, dass es an Schulgebäuden, Lehrern und Unterrichtsmaterial mangelt. In manchen Regionen steigt deshalb die absolute Zahl an Kindern, die niemals eine Schule besuchen können.
Neben Bildung gibt es zwei weitere wesentliche Faktoren, um die Geburtenrate nachhaltig senken zu können. Was in diesen Ländern ebenso fehlt, sind gute Gesundheitsdienste und ausreichend Arbeitsplätze. Menschen brauchen Perspektiven, damit sie ihr Leben planen können. Erst dann denken sie auch an eine Familienplanung. Eine bessere medizinische Versorgung bedeutet unter anderem, dass weniger Kinder in jungen Jahren sterben. Gelingt es, die Kindersterblichkeit zu senken, dann bekommen Eltern weniger Nachkommen, weil sie sicher sein können, dass ausreichend viele von ihnen überleben, um sie im Alter zu versorgen. Bis sich jedoch das Vertrauen in die medizinischen Möglichkeiten verfestigt, dauert es etwa eine Generation. Schlussendlich brauchen junge Menschen auch einen Job, der ihnen ein Einkommen sichert. Bildung allein reicht nicht. Vielmehr ist die Mischung aus Bildung und Arbeitslosigkeit höchst brisant. Junge Qualifizierte, die keine Beschäftigung finden, gehen häufig auf die Straße, um ihrer Frustration Luft zu machen. Sie sind häufiger bereit, dabei Gewalt anzuwenden, und sie sind anfällig für radikale Ideologien.
Afrika kann es schaffen – mit unserer Hilfe
Solche Entwicklungsmaßnahmen erfordern finanzielle Hilfen. Die Regierungen vor Ort haben nicht die Mittel, all das von jetzt auf gleich zu errichten. Sie sind auf Unterstützung von außen angewiesen. Vor allem der Bildungsbereich für Grund- und Sekundarschulen ist unterfinanziert. Derzeit fließen nur 2 bis 4 Prozent der Mittel aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in die Basisbildung der armen Länder. Der Rest geht etwa in den Ausbau der Infrastruktur oder in die Verbesserung der Landwirtschaft. Sicher, auch Straßen und die Agrarproduktion sind wichtig. Aber ohne Bildung fehlt das Fundament der Entwicklung, und deshalb müsste der Anteil für die Bildung drastisch erhöht werden – auf mindestens 10 bis 20 Prozent.
Ein Staat, der es durch Hilfen von außen geschafft hat, ist Bangladesch. Der jüngste der asiatischen Tigerstaaten galt lange Zeit als hoffnungsloser Fall – extrem arm und mit sehr starkem Bevölkerungswachstum. Die Prognosen sahen noch schlechter aus als die heutigen für Afrika. Inzwischen liegt die Geburtenziffer bei 2,3 Kindern je Frau. Wie kam es dazu? Seit den 1980er-Jahren haben NGOs, mit ausdrücklicher Duldung durch die Regierung, massiv in Gesundheitsdienste, Bildung und Programme zur Frauenförderung investiert, Lehrer ausgebildet und Mikrokredite vergeben, mit denen meist Frauen eine kleine Existenz gründen konnten. Die Früchte dieser Arbeit sieht man nun 30 Jahre später.
Afrika muss und kann es in 30 Jahren auf ähnliche Weise schaffen. Die Länder müssen ihre wesentlichen Entwicklungsaufgaben erkennen und sich dabei mehr engagieren, aber sie brauchen dafür auch unsere Hilfe. Investieren wir nicht, wird das Bevölkerungswachstum irgendwann auf schreckliche Weise begrenzt, durch sogenannte malthusianische Katastrophen. Was das bedeutet, zeichnet sich schon jetzt im Südsudan, Jemen oder in Nordnigeria ab: Dort herrscht unter anderem wegen des hohen Bevölkerungswachstums Armut, Hungersnöte und Epidemien greifen um sich, Verteilungskonflikte und Bürgerkriege häufen sich. Noch habe ich Hoffnung, dass wir dies verhindern können. Aber eben nur mit ausreichend finanziellen Mitteln für Ausbildung und Arbeitsplätze.
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Nach seiner Promotion im Fachbereich Chemie war Reiner Klingholz (Jg. 1953) zunächst als Wissenschaftsredakteur für „Die Zeit“ tätig. Später schrieb er für „Geo“ und arbeitete als Redaktionsleiter bei „Geo Wissen“. Seit 2003 leitet er als Direktor das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung – seit 2009 zudem als Vorstand. Klingholz hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Sklaven des Wachstums“ und „Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit“.