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Beitrag vom 04.10.2017

FAZ

Nigeria

Afrikas Riese in der Krise

Nigeria, das einwohnerreichste Land Afrikas, leidet unter dem Ölpreis und dem Terror von Boko Haram. Nun versucht es, attraktiver für Investoren zu werden.

Philip Plickert

FRANKFURT, 3. Oktober. Viel zu lange sei die Erzählung über Nigeria von drei Schlagworten beherrscht worden, sagt Yusuf Tuggar. „Ein Mix aus Öl, Korruption und Boko Haram“, klagt der nigerianische Botschafter in Deutschland, der vor kurzem seinen Dienst angetreten ist. Eine verengte Perspektive auf die Probleme, bestärkt durch Stereotypen, habe den Blick für die Chancen verstellt, sagt der Diplomat, als er dieser Tage in Frankfurt das Deutsch-Nigerianische Wirtschaftsforum eröffnet. Allerdings hat Nigeria, der 180-Millionen-Einwohner-Riese in Westafrika, noch einen langen Weg vor sich, um sich aus der Krise herauszuarbeiten, die gerade die Ärmsten hart trifft. „Wir können es uns aber nicht leisten zu scheitern“, sagt Onyeche Tifase, Chefin von Siemens Ltd. Nigeria, die dort nicht nur Gasturbinen verkauft, sondern auch Bildungsprojekte vorantreiben will.

Scheitert Nigeria, droht ganz Afrika zu scheitern, kann man sagen. Das schwarzafrikanische Land steckt derzeit in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Als der Ölpreis vor drei Jahren in den Keller fiel, trocknete die wichtigste Devisenquelle Nigerias aus. Etwa 90 Prozent seiner Devisen bezieht es aus dem Verkauf von Öl und Gas. Auch der Staat finanziert sich zum größten Teil aus Öleinnahmen, jetzt hat er hohe Defizite. War Nigerias Wirtschaft 2015 noch um mehr als 6 Prozent gewachsen, stürzte das Land 2016 in eine Rezession. In diesem Jahr könnte die Wirtschaft wieder wachsen – aber nur um ein mageres Prozent. Das ist viel zu wenig für ein Land, in dem schon heute sechs von zehn jungen Erwachsenen arbeitslos oder unterbeschäftigt sind. „Wir hatten erhebliches Wirtschaftswachstum bis 2014, aber es war ein Wachstum ohne genügend Arbeitsplätze“, sagt Eniola Mafe von der Niger-Delta-Partnership-Stiftung auf dem Wirtschaftsforum, das im Commerzbank-Wolkenkratzer hoch über den Dächern Frankfurts stattfindet.

Eine der großen Herausforderungen Nigerias ist es, die Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas zu reduzieren und die Wirtschaft des zerrissenen Landes zu diversifizieren. Das sei eine „strategische Entscheidung“, unterstreicht Botschafter Tuggar. Im Süden, an der Küste, liegen die reichen Ölregionen, die Mitte und der muslimische Norden, wo die Terrormiliz Boko Haram wütet, sind unterentwickelt. Man will die Abhängigkeit von Öl reduzieren und mehr Industrie aufbauen. Das ist aber schwierig, vor allem auch wegen der instabilen Energieversorgung, wie Siemens-Managerin Tifase erklärt. Immer wieder gibt es, wie in den meisten afrikanischen Staaten, stundenlange Blackouts. „Jeder hat Kerzen vorrätig“, erzählt ein Geschäftsmann. Die Betriebe helfen sich mit Diesel-Notstromaggregaten, doch sind die teuer.

Präsident Mohammadu Buhari, 74 Jahre alt und monatelang wegen Krankheit in Kliniken in England abgetaucht, verspricht, die Korruption in Nigeria hart zu bekämpfen und will mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen Investoren anlocken. Das Land muss sich dringend attraktiver machen. Im „Doing Business“Ranking der Weltbank, das die Standortqualität und bürokratische Hürden für Unternehmen anzeigt, liegt das Land auf einem schlechten Platz, erinnert Marc Lucassen, der die deutsche Außenhandelskammer in Lagos leitet. Es liegt auf Rang 169 von 190 Ländern. Ein großes Problem sind die Devisenbeschränkungen wegen der Devisenknappheit. Ausländische Unternehmen müssen monatelang warten, bis die Zentralbank endlich genehmigt, dass sie Erträge aus dem Land herausnehmen. Im Juni hat die Landeswährung Naira zwar um 40 Prozent abgewertet, doch reicht das wohl noch nicht.

Deutsche Geschäftsleute nennen die Restriktionen der Zentralbank als wichtiges Hindernis in Nigeria, das ihnen das Leben schwermacht. Nur 80 deutsche Unternehmen sind in dem Land aktiv, darunter BASF und Bayer, die agrochemische Produkte vertreiben und vor einigen Jahren Regionalbüros eröffnet haben. Die Commerzbank und die Deutsche Bank betreiben kleine Dependancen. Christian Torben, der das Büro der Commerzbank leitet, berichtet von vier Jahren Wartezeit, bis man endlich einen Vertrag von der Zentralbank unterzeichnet bekommen habe. „Das war noch ganz gut“, findet er. Durch das Publikum des Wirtschaftsforums geht ein Raunen.

Stefan Liebig, Vorsitzender des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft, spricht davon, dass die Investitionen der hiesigen Unternehmen in Nigeria sich in den vergangenen Jahren verdoppelt haben. Allerdings sind es nach Zahlen der Bundesbank bislang erst knapp 100 Millionen Dollar Direktinvestitionen – nur 0,01 Prozent aller deutschen Auslandsinvestitionen. Unter den Deutschen in Nigeria sind einige Mittelständler, etwa der Packmaschinenspezialist Haver & Boecker des ehemaligen VDMA-Präsidenten Reinhold Festge. Er macht gute Geschäfte mit Aliko Dangote, dem reichsten Mann Nigerias und ganz Afrikas, der mit Zementfabriken und Konsumgütern ein Imperium geschmiedet hat. Sein Vermögen wird auf 15 Milliarden Dollar geschätzt. Das Durchschnittseinkommen in Nigeria liegt bei umgerechnet etwa 200 Dollar im Monat. Jetzt plant Festge Ausbildungswerkstätten in Nigeria nach deutschem Muster, doch das Projekt verzögert sich.

Wenn etwas schnell wächst in Nigeria, dann ist es die Bevölkerung – jährlich um 2,5 Prozent. Nigerianische Frauen bekommen durchschnittlich 5,6 Kinder – nicht der afrikanische Spitzenwert, aber nahe daran und mehr als doppelt so viel wie der Welt-Durchschnitt. Die Bevölkerung ist zudem extrem jung, etwa die Hälfte aller Nigerianer sind unter 18 Jahre alt. Demographen sprechen hier von einem „Youth Bulge“, einem Jugendüberschuss, der potentiell ein Instabilitätsfaktor ist, wenn die Jugend keine Arbeitsplätze und Perspektive hat.

In den kommenden Jahrzehnten wird es ein weiteres extremes Bevölkerungswachstum geben. Laut mittlerer UN-Prognose könnte Nigerias Bevölkerung 2050 auf 400 Millionen Menschen angeschwollen sein. Es wird dann das drittgrößte Land der Erde – hinter Indien und China – sein. Bis 2100 könnten laut mittlerer UN-Prognose sogar die gigantische Zahl von 750 Millionen Nigerianern erreicht werden – doch wie sollen all diese Menschen ernährt werden? Schon jetzt ist das schwierig, es gibt immer wieder Hungerkrisen. Mit 750 Millionen wäre Nigeria dreimal so dicht besiedelt wie Deutschland – und noch mehr Konflikte sind absehbar zwischen den 300 verschiedenen Stämmen mit 300 verschiedenen Sprachen.

„Der Wanderungsdruck nach Europa wird auf jeden Fall drastisch steigen“, sagt ein deutscher Unternehmer, der viel in Afrika herumkommt. Gerhard Heilig, langjähriger Leiter der UN-Bevölkerungsabteilung, spricht von einem „Migrationsdruck noch nie gesehenen Ausmaßes“. Viele Millionen würden sich auf den Weg machen. Schon jetzt stellen Nigerianer die größte Gruppe derer, die über Libyen als illegale Migranten übers Mittelmeer kommen. Der weitaus größte Teil der Migration bewegt sich aber innerhalb des Landes.

Viele zieht es nach Lagos, die größte Metropole des Landes. Zur Zeit der Unabhängigkeit Nigerias 1960 war Lagos eine Stadt von etwas mehr als einer halben Million, von Fischern, Händlern und Regierungsbeamten. Seitdem explodiert die Bevölkerung regelrecht. Vor ein paar Jahren hat Lagos die zehn-Millionen-Marke überschritten, jetzt sind es mehr als 20 Millionen. Bis 2050 prognostizieren Demographen eine weitere Verdoppelung auf 40 Millionen, auch weil weiter Menschen aus dem Norden zuziehen. Wie soll so eine Mega-City noch regierbar sein? Weiten Teilen fehlen heute Strom- und Wasseranschlüsse, die Verkehrsinfrastruktur ist nahe dem Kollaps. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in Wellblechhütten, Millionen in Slums in Überschwemmungsgebieten an der Lagune.

Aber es gibt auch schicke Bürotürme im Stadtteil Victoria Island und eine wachsende Mittelschicht. Auf diese setzen viele ihre Hoffnung. AHK-Vertreter Lucassen nennt die Mittelschicht den Treiber des Wandels. Sie wollen eine Politik ohne Korruption, und sie haben Geld genug, um sich Wohnungen einzurichten und Autos zu kaufen. Weshalb Volkswagen nach längerer Abwesenheit wieder ein kleines Werk eröffnet hat. Noch hat aber nur eine kleine Minderheit ein eigenes Auto, jährlich werden etwa 100000 Neuwagen verkauft. Laut einer PWC-Studie könnte es aber in den kommenden Jahrzehnten zu einem Millionen-Markt werden. Weit entwickelt ist die Mobilfunkbranche. Neun von zehn Nigerianern haben ein Mobiltelefon, jeder zweite Internet. In Lagos gibt es eine Start-up-Szene, die Digital-Ideen entwickelt.

Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind allerdings weiter in der Landwirtschaft tätig. Den Kleinbauern eine Perspektive zu bieten, ihnen besseres Saatgut, Dünger und Maschinen zu geben – das halten viele Entwicklungsfachleute für entscheidend, um die Landflucht zu bremsen. Dringend nötig wäre auch eine bessere Schulbildung, denn noch immer sind etwa 40 Prozent der Nigerianer Analphabeten. Millionen Kinder, vor allem im Norden, besuchen keine Schule. Allerdings habe sich die Bildungssituation schon deutlich verbessert, beteuert Eniola Mafe von der Niger-Delta-Partnership-Stiftung. Sie selbst hat – wie so viele aus nigerianischen Familien, die es sich leisten können – an Universitäten in England und Amerika studiert. Nigeria sei kein einfaches Land, kein „Afrika light“, sagt sie. Ihren Landsleuten schreibt sie aber zwei hilfreiche Charaktereigenschaften zu: Zähigkeit und Optimismus.