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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.05.2017

FAZ

Demographie

Die meisten Herrscher Afrikas jubeln über die Bevölkerungsexplosion

Afrika hat extrem hohe Geburtenraten. Das gefährdet die Entwicklung und führt zu steigendem Migrationsdruck. Doch viele afrikanische Herrscher wollen das Problem kaum sehen.

Von Philip Plickert

Zunächst die gute Nachricht: Die Armut in Afrika sinkt. Nun die schlechte: Die Zahl der Armen wächst. Beides stimmt. Der Anteil der extrem Armen in der Bevölkerung Afrikas ist von 56 Prozent in den frühen neunziger Jahren auf jetzt wohl knapp über 40 Prozent gefallen, so die Schätzung der Weltbank. Besonders nach der Jahrtausendwende verzeichnete der Kontinent ein starkes Wirtschaftswachstum. Die Zahl der extrem Armen, die mit weniger als 1,90 Dollar am Tag auskommen müssen, hat dennoch zugenommen in Afrika: um mehr als 60 Millionen auf 330 Millionen Menschen. Andere Schätzungen der Weltbank sprechen von fast 390 Millionen extrem Armen südlich der Sahara.

Die Bevölkerungszahl wächst schneller als die Armutsquote zurückgeht. Jahr für Jahr drängen mehr junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, als die schwach entwickelte Wirtschaft oder die Agrarbetriebe aufnehmen kann. Nirgendwo auf der Welt ist die Jugendarbeitslosigkeit so hoch wie in Afrika und im Nahen Orient. Was es an wirtschaftlichen Fortschritten gibt, wird vom Bevölkerungswachstum wieder aufgefressen und zunichtegemacht.

In vielen Ländern Afrikas bekommen die Frauen durchschnittlich fünf bis sechs Kinder, in einigen sogar sieben. Das ist doppelt so viel wie der Weltdurchschnitt von 2,5 Kindern je Frau. Die hohe Geburtenrate in den jungen afrikanischen Gesellschaften treibt ein rasantes Bevölkerungswachstum an. Laut Weltbank-Schätzung liegt es bei 2,7 Prozent im Jahr. Die Zahl der Menschen in Subsahara-Afrika nimmt damit jedes Jahr um rund 30 Millionen zu. Etwa alle zwei Wochen wächst die Bevölkerung um eine Million auf dem Schwarzen Kontinent. Was Afrika erlebt, kann man kaum anders als Bevölkerungsexplosion bezeichnen.

Zur Jahrtausendwende waren es gut 800 Millionen, heute schon 1,2 Milliarden Menschen in Afrika. 2050 werden es rund 2,5 Milliarden sein, so das mittlere Szenario der Bevölkerungswissenschaftler der Vereinten Nationen. 2100 wird es laut der UN-Prognose sogar 4,4 Milliarden Afrikaner geben. Allein Nigeria könnte von heute 190 auf 750 Millionen Menschen anwachsen. Im extremen oberen Szenario seien sogar schwindelerregende 6 Milliarden denkbar, heißt es in einer revidierten Schätzung. Dann würden Afrikaner mehr als Hälfte der Erdbevölkerung stellen.

„Die demographische Entwicklung Afrikas ist außergewöhnlich“, sagt Robert Engelman, ein amerikanischer Bevölkerungs- und Entwicklungsspezialist vom Worldwatch Institute in Washington, das sich für eine nachhaltige Entwicklung der Welt einsetzt. In Europa sind die Geburtenraten seit dem späten 19. Jahrhundert stark gefallen, als die Industrialisierung voll in Fahrt war und der Wohlstand stieg. Mit zunehmender Entwicklung der asiatischen Schwellenländer seit den 1960er Jahren sind sie auch dort deutlich gefallen, etwa in Südkorea von sieben auf heute nur zwei Kinder je Frau. Anders in Afrika, besonders Afrika südlich der Sahara. Dort gab es, wenn überhaupt in Ostafrika, nur leichte Rückgänge. Insgesamt bleibt die Geburtenrate sehr hoch – bei durchschnittlich 5 Kindern je Frau.

Unterentwicklung und Bevölkerungsexplosion stehen dabei in einer unheilvollen Wechselwirkung. „Afrika ist der am wenigsten entwickelte Kontinent mit der schlechtesten Gesundheitsvorsorge und den höchsten Geburtenraten“, sagt Engelman. Viele Fachleute sehen in extrem starkem Bevölkerungswachstum einen destabilisierenden Faktor, der Entwicklungshoffnungen zerstören kann. Bei Ländern mit sehr hohem Anteil an jungen Leuten in der Bevölkerung sprechen Demographen von einem „Youth Bulge“. In Afrika sind mehr als 40 Prozent der Menschen Jugendliche unter 15 Jahren. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist weniger als 25 Jahre alt. Wenn die Jugend keine berufliche Perspektive hat, arbeitslos und arm bleibt, staut sich großes Frustpotential auf. Länder mit zu großem Jugendüberhang sind instabil. Unruhen, Rebellionen oder gar Bürgerkriege können die Folge sein. Es war kein Zufall, dass die „Arabellion“ in nordafrikanischen und arabischen Ländern ausbrach, als der Jugendüberschuss dort besonders groß war. Auch in anderen stark wachsenden Ländern ist die Situation fragil.

Nigeria, das unter dem Terror der islamistischen Boko-Haram-Miliz leidet, wird sich mit dem prognostizierten Anwachsen sehr schwer tun. Für die Demokratische Republik Kongo mit heute etwa 80 Millionen Einwohnern wird bis 2050 fast eine Verdreifachung und bis 2100 ein Anstieg auf 390 Millionen vorhergesagt. „Eine solche Bevölkerungszunahme kann nicht gutgehen“, sagt Rainer Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Denn es fehlten für diese Masse an neuen Menschen die Arbeitsplätze. Die Folge sei zunehmende Frustration. „Wenn die Jobs fehlen, sind die jungen Leute unzufrieden, dann werden sie in Nigeria anfällig für ,Arbeitgeber‘ wie Boko Haram, die bieten Beschäftigung und Ideologie, also Sinnstiftung.“

Ein anderes Problem ist, wie die Menschenmassen versorgt werden sollen, sowohl auf dem unterentwickelten Land als auch in den rasch wachsenden Städten. Die Einwohnerzahl von Lagos in Nigeria werde von 11 auf 40 Millionen im Jahr 2050 anwachsen, schätzen die Demographen Jean-Pierre Guengant und John May. Kinshasa, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, hat heute 8 Millionen Einwohner. Bis 2050 könnten es mehr als 30 Millionen sein. Der Ausbau der Infrastruktur in den Metropolen wird zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung. Es werden Megaslums entstehen, wo es schon jetzt große Elendsviertel gibt. Zwei Drittel der Afrikaner – etwa 600 Millionen – haben in ihren Behausungen keine Elektrizität, vielen fehlt Zugang zu frischem Wasser.

Der Schlüssel zu einer Reduzierung der Geburtenrate läge in einer besseren Schulbildung vor allem für die jungen Frauen. „Bildung ist das beste Verhütungsmittel“, sagte Klingholz vom Berlin-Institut. Wenn die Mädchen länger in die Schule gehen, „sind sie ein paar Jahre länger weg vom Heiratsmarkt und bekommen eine andere Perspektive auf das Leben und für den Beruf“. Sie werden selbstbewusster, lernen Familienplanung. Mädchen dagegen, die kaum zur Schule gingen, bekommen noch als Teenager oft schon mehrere Kinder. Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung unterstützt in vier ostafrikanischen Ländern Projekte in Jugendclubs, erzählt Ute Stallmeister von der Stiftung. Mitarbeiter gehen in die Clubs, informieren über Verhütungsmethoden und machen Rollenspiele mit Jungs und Mädchen. Die Rolle der Frau soll gestärkt werden. „Das sind aber Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Stallmeister. Die beruflichen Perspektiven für junge Frauen sind immer noch sehr schwach.

Demographen betonen, dass ein besseres Gesundheitswesen nötig wäre. „Die Länder Afrikas haben die am schlechtesten ausgebauten Systeme für die reproduktive Gesundheit“, sagt Engelman. Gemeint sind Kliniken oder Gesundheitsstationen, in denen Frauen über Familienplanung, Verhütungsmittel und Gesundheitsvorsorge aufgeklärt werden. Auch das Angebot von Abtreibungen zählt er zur „reproduktiven Gesundheit“, besser wäre aber eine vorausschauende Familienplanung. „Viele Frauen haben aber keinen Zugang zu Verhütungsmitteln“, betont Engelman. Geschätzt wird, dass nur etwa ein Fünftel der Afrikanerinnen Verhütungsmittel nehmen kann. Laut Umfragen ist ungefähr jede dritte Schwangerschaft eigentlich ungewollt. Allerdings selbst da, wo es mehr Wissen über und Angebote von Verhütungsmitteln gibt, zieht die Nachfrage nicht immer mit.

Afrika sei eben ein sehr kinderfreundlicher Kontinent, sagt Engelman. Besonders die Männer mögen große Familien und sind stolz auf eine große Nachkommenschaft. Viele Kinder gelten auch als Absicherung der Eltern im Alter. Es wird erwartet, dass sie diese später versorgen. „Die Hoffnung ist, dass die Kinder vielleicht in der Stadt Arbeit finden oder dass sie auswandern, nach Europa, und dann Geld zurückschicken“, sagt Engelman.

Niger ist in demographischer Hinsicht ein Extremland. Mit 7,6 Kindern je Frau ist es das Land mit der höchsten Fertilität weltweit, gleichzeitig ist es eines der ärmsten. Das durchschnittliche Einkommen je Kopf liegt deutlich unter 400 Dollar, es gibt immer wieder Hungersnöte. Als das Land 1960 unabhängig wurde, lebten knapp 3,5 Millionen in dem Wüstenstaat. Heute sind es 20 Millionen, bis 2050 werden es laut UN-Prognose 72 Millionen sein. Der langjährige Präsident Mamadou Tanja, der 2010 weggeputscht wurde, pflegte seine Arme ganz weit auszustrecken: So groß das Land (gut dreimal die Fläche der Bundesrepublik Deutschland). Er fand: Da passten noch viele Menschen rein. Doch schon jetzt hungern viele, periodisch gibt es Dürren, die Böden geben wenig her in der Sahara-Region. Bislang ist Niger vor allem ein Transitland für die Trecks der Flüchtlinge und Migranten aus dem Süden, die nach Europa wollen. In Zukunft könnte auch aus Niger die Auswanderung zunehmen.

Die Behörden in Niger verteilen an Ehemänner ein Stammbuch, in das die Nachkommen eintragen werden. Es hat 20 Seiten. „Manchmal reicht dieses Heft nicht, um alle Kinder einzutragen“, erzählt ein Entwicklungsfachmann über Niger, wo Polygamie nach islamischer Sitte üblich ist, also Männer mehrere Ehefrauen haben können. „Viele Kinder zu haben gilt als erstrebenswert, das steigert das Prestige des Mannes“, sagt Rainer Klingholz vom Berlin-Institut. Je weniger Frauen als gleichberechtigt gelten und je geringer ihr sozialer Status, desto größer tendenziell die Kinderzahl. Sie werden in die Rolle der Vielgebärerin gedrängt.

„Das sogenannte generative Verhalten in Afrika ist gekennzeichnet durch eine frühe sexuelle Reife, frühe Heirat, eine oft untergeordnete Stellung der Frau und soziale und religiöse Traditionen, besonders im Islam, die hohe Fertilität zur Folge haben“, erklärt Gerhard Heilig, der mehrere Jahre Chefdemograph in der New Yorker Zentrale der Vereinten Nationen war. Heilig wirft den afrikanischen Führern und Eliten ein sträfliches Versagen vor, keine geeignete Politik zur Eindämmung des rasanten Bevölkerungswachstums entwickelt zu haben.

Sehen die afrikanischen Herrscher die Bevölkerungsentwicklung immer noch nicht als Problem? Überwiegend nicht, sagt Worldwatch-Direktor Engelman. „In den 54 afrikanischen Ländern gibt es wohl eine Mehrheit, vor allem in Zentral- und Westafrika, deren Herrscher nicht beunruhigt sind wegen des Bevölkerungswachstums, sondern die es sogar begrüßen“, sagt er. „Diese Regierungschefs sehen eine Vielzahl von Menschen als Machtfaktor. Sie sagen: Wir brauchen mehr Leute, Afrika ist ein leerer, dünn besiedelter Kontinent. Je mehr Menschen, desto besser.“ Manche verweisen auf China mit etwa 1,3 Milliarden Menschen – das sei eine mächtige Nation, die respektiert werde. Vor Jahren verfolgte Engelman in der UN-Vollversammlung eine Debatte über Migration. Als ein Redner die Bevölkerungsentwicklung Nigerias erwähnte, das nach extremen Prognosen sogar bis auf eine Milliarde Menschen wachsen könnte, stand ein nigerianischer Delegierter stolz lachend auf und reckte die Faust: „Wir werden mächtig sein“, rief er.

Auch Ugandas Präsident Yoweri Museweni vertrat bis vor kurzem die Ansicht, mehr Menschen seien auf jeden Fall gut für sein Land. Inzwischen hat er aber umgedacht. Jetzt unterstützt er Familienplanung. Eine niedrigere Geburtenrate soll zu einer nachhaltigeren Entwicklung beitragen. Uganda gilt als Reformvorzeigeland in Afrika, es macht sich für Investoren attraktiv. Einige wenige afrikanische Länder haben schon vor längerer Zeit eine Senkung der Geburtenrate als Ziel ausgerufen. Tunesien hat damit in den späten fünfziger Jahren angefangen: Der damalige Präsident Habib Bourguiba verbot die Polygamie, stärkte die rechtliche Stellung der Frauen. Die durchschnittliche Zahl der Kinder je Frau in Tunesien ist seit 1960 von sieben auf zwei gefallen. In den neunziger Jahren sind auch in anderen nordafrikanischen Ländern die Geburtenraten deutlich gesunken – doch weil die Bevölkerung so jung ist, es also viele potentielle Eltern gibt, bleibt die demographische Dynamik hoch.

Überraschend ist die Entwicklung im autoritär regierten Äthiopien, einer Art Entwicklungsdiktatur nach chinesischem Muster. Mehrere Jahre glänzte es mit starken Wirtschaftswachstumsraten und zog Investoren für Textilindustrie und in der Agrarwirtschaft an. Die Entwicklung zeigt sich auch in sinkenden Geburtenraten. Die Regierung schickt Mitarbeiter, vor allem Frauen, einer „Gesundheits-Entwicklungsarmee“, so wird sie offiziell genannt, in Dörfer und Städte, die über Verhütung und Familienplanung aufklären. In Addis Abeba, der Hauptstadt des 100-Millionen-Landes, ist die Geburtenrate vor kurzem sogar unter das Reproduktionsniveau von 2 Kinder je Frau gefallen, so wie in Europa – eine erstaunliche Entwicklung, sagen Demographen.

Dies sind aber Ausnahme-Entwicklungen. Insgesamt bleibt Afrika der Kontinent mit dem höchsten demographischen Druck und damit auch großer politischer und sozialer Instabilität. Engelman vom Worldwatch-Institut versucht, optimistisch zu bleiben: „Ich glaube nicht an die Extremszenarien von 6 Milliarden Menschen in Afrika, die Geburtenraten werden vorher deutlich sinken. Aber vielleicht wird es zu wenig und zu spät sein.“ Die Ernährungslage sei schon jetzt prekär, der Klimawandel könnte alle Probleme noch verschärfen. Und der Migrationsdruck werde in jedem Fall steigen. Der frühere UN-Chefdemograph Gerhard Heilig findet: „Es ist höchste Zeit, dass Afrika ernsthaft befriedet und entwickelt wird.“ Wenn das nicht gelinge, „wird Europa bald von Millionen verzweifelten und perspektivlosen jungen Afrikanern überrannt werden“, warnt er.