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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 02.08.2015

Frankfurter Rundschau

Eritrea

Heimweh nach Asmara

Von Johannes Dieterich

Eritrea hat den Ruf, die Hölle Afrikas zu sein – ein totalitäres Regime, das seine Bürger versklavt. Wie lebt es sich dort? Unserem Korrespondenten Johannes Dieterich ist es gelungen, ein Visum zu bekommen. Und er ist hingereist.

Sonntagmorgen in Asmara. Die mit Palmen gesäumten Alleen der schönsten Stadt Afrikas füllen sich allmählich mit Leben. Junge Pärchen flanieren an stilvollen, von mangelnder Pflege etwas mitgenommenen Häuserfassaden vorbei. Auf den von italienischen Stadtplanern mit Bedacht entworfenen Straßenzügen überholen Karossen aus den 1960er Jahren Eselskarren, während die Glocken mächtiger Kathedralen mit dem von spitzen Minaretten tönenden Ruf der Muezzine wetteifern. Im Café Zilli, das als Filmset für „Casablanca“ dienen könnte, wird ein liebevoll geschichteter Macchiato gereicht. Und im Cinema Roma, das mit seinem eleganten Art-Deco-Stil von edleren Zeiten zeugt, wischen Putzfrauen das 80 Jahre alte Holzgestühl.

Das soll die Hölle Afrikas sein?

In Eritrea herrsche ein „totalitäres Regime“, dessen „Ausmaß und Umfang nahezu beispiellos“ sei, heißt es in einem von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen jüngst veröffentlichten Bericht. In dem Kleinstaat am Horn von Afrika käme es zu „außergerichtlichen Hinrichtungen, weit verbreiteten Folterungen, sexueller Sklaverei und Zwangsarbeit“ – immer wieder wird Eritrea sogar als „Afrikas Nord-Korea“ bezeichnet.

Zumindest so viel fest steht: Der gut sechs Millionen Einwohner zählende Staat verliert derzeit seine Bevölkerung wie ein schwindsüchtiger Motor sein Öl. Rund 5000 Eritreer verlassen nach UN-Angaben Monat für Monat ihre Heimat. Sie müssen die Grenze illegal passieren, weil keiner einen Pass erhält, der seinen Wehrdienst nicht abgeschlossen hat – und der Dienst ist zeitlich unbegrenzt.

Neben den Syrern sind es vor allem Eritreer, die zu Tausenden in Richtung Europa ziehen und dabei zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken. Von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ wird Eritrea außerdem als das für Journalisten gefährlichste Land der Welt geführt: Demnach werden hier regelmäßig Berichterstatter eingesperrt oder verschwinden spurlos.

Meine ersten Versuche, in den schauerlich schönen Staat zu gelangen, reichen über zehn Jahre zurück: Ein Visum für Eritrea zu ergattern, ist die härteste Nuss für einen Afrika-Korrespondenten. Der Kleinstaat mit dem miserablen Leumund will sich offenbar nicht in die Karten schauen lassen. Seiner Regierung scheint es inzwischen auch ganz egal zu sein, was andere von ihr denken. Mit diplomatischer Unterstützung war es schließlich doch so weit: Eritreas Botschafter in Pretoria, der im strengen südafrikanischen Winter schlotternd in seinem unbeheizten Büro saß, stellte sich als durchaus freundlicher Mensch heraus. Und kurz darauf klebt das Visum in meinem Pass.

Die nächste Herausforderung war logistischer Natur. Vom eigenen Kontinent aus wird der Paria-Staat außer aus Kairo überhaupt nicht angeflogen. Wer aus dem Süden kommt, muss einen Umweg über die Arabischen Emirate in Kauf nehmen, was einen Tag und zwei lange Nächte in Anspruch nimmt. Als die Maschine aus Katar schließlich auf Asmaras Flughafen aufsetzt, springen die Passagiere noch auf dem Rollfeld aus ihren Sitzen auf. Die zu ihrem Sommerbesuch aus aller Welt eintreffenden Exil-Eritreer können es nicht erwarten, endlich wieder auf heimischem Boden zu stehen. Zumindest für sie scheint die Heimat keine Hölle zu sein.

Das Informationsministerium hatte auf einem detaillierten Besuchsprogramm bestanden. Als das nicht geliefert wird, ist es aber auch nicht so schlimm. Der Aufpasser, der im wirklichen Nordkorea sein Opfer nicht aus den Augen lassen würde, meint es auch nicht so ernst: Schon am ersten Tag werden Reporter und Fotograf alleine gelassen und können in Asmara ungestört Maria Teklehaimanot kennenlernen. Die Eritreerin heißt in Wahrheit nicht so, auch andere Einzelheiten ihrer Person sind leicht verfremdet. Denn die Regierung in Asmara würde Marias Offenheit nicht zu schätzen wissen. Sie saß bereits einmal kurz im Gefängnis, als sie beim Grundwehrdienst eine Lippe riskierte.

Maria ist knapp 30 Jahre alt, hat lange geglättete Haare und ist so schön, wie nur Eritreerinnen schön sein können. Sie geht drei Berufen gleichzeitig nach, wovon sie einen mit fast allen ihren Landsleuten teilt: Maria ist Wehrpflichtige und hat in dieser Eigenschaft Kinder zu unterrichten. Dafür erhält sie 145 Nakfa im Monat, wofür man auf dem Schwarzmarkt nicht einmal drei US-Dollar kriegt. Weil sie allein für die Miete 2000 Nakfa berappen muss, malocht Maria auch abends und an den Wochenenden. Auch das unterscheidet sie nicht von ihren Landsleuten.

Zum Wehrdienst sind in Eritrea Männer wie Frauen verpflichtet. Er beginnt bereits mit der letzten Schulklasse, die in Sawa, einem Ausbildungszentrum der Armee, zu absolvieren ist. Dort wird ein halbes Jahr aufs Abitur gebüffelt und ein halbes Jahr Kriechen und Schießen geübt. Wer mit guten Noten abschließt, darf zunächst studieren, und wird erst danach zum Militärdienst eingezogen. Alle anderen gehen gleich zur Armee. Der Dienst kann an der Waffe, aber auch im Unterrichten, im Bauen von Dämmen oder in qualifizierter Tätigkeit im Ministerium bestehen, bezahlt wird er grundsätzlich mit den umgerechnet drei Dollar im Monat. Wann die Dienstzeit zu Ende ist, entscheidet der Vorgesetzte. Das kann zumindest theoretisch bis zur Pensionierung dauern.

Zweifellos ist es vor allem der endlose Militärdienst, der die Eritreer ins Ausland treibt. Eine von Marias Freundinnen wurde kürzlich zum zweiten Mal beim Fluchtversuch in den Sudan erwischt; sie musste für sechs Monate ins Gefängnis. Ein Freund, der über Äthiopien das Weite suchen wollte, ist spurlos verschwunden – Maria kämmte erfolglos die Gefängnisse der Stadt und der Region ab. Von den fast 80 Jugendlichen, die einst mit ihr zu Schule gingen, sind nur noch 15 im Land. Doch Maria selbst denkt nicht ans Gehen. „Dafür mag ich Asmara viel zu sehr“, sagt sie und lacht.

Informationsminister Yemane Ghebremeskel, der die Besucher in seinem auf einem Hügel über der Stadt thronenden Amtssitz empfängt, scheint der Aderlass nicht weiter zu beunruhigen. Migration sei heute normal, sagt der Minister – das Land profitiere sogar davon. Die fast eine Million Exil-Eritreer senden jährlich mehr als eine Milliarde Dollar nach Hause zurück. Dass die Emigrationszahlen so hoch seien, müsse vor allem dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) vorgeworfen werden, sagt der Minister: Denn dieses empfehle, eritreischen Flüchtlingen praktisch automatisch ein Recht auf Asyl zuzuerkennen. Dadurch würden viele ermutigt, ihre Heimat zu verlassen – während sich aus dem gleichen Grund zahlreiche Äthiopier als Eritreer ausgäben und die Statistik auf diese Weise noch weiter verzerrten. „Nur ein Beispiel“, sagt der Minister, „welche verheerenden Auswirkungen falsche Interventionen der internationalen Gemeinschaft haben“.

Falsch behandelt fühlen sich die Eritreer schon seit ewigen Zeiten. Erst wurden sie von den Ottomanen, seit 1890 von der italienischen Kolonialmacht beherrscht. Als diese 1941 von den Alliierten aus Afrika vertrieben wurde, rissen sich die Engländer Eritrea unter den Nagel. Selbst bei der Entkolonialisierung Anfang der 1960er Jahre wollten die UN dem kleinen Staat nicht die ersehnte Unabhängigkeit zukommen lassen – sie unterstellten ihn dem äthiopischen Nachbarn als Protektorat.

Kurze Zeit später eignete sich Kaiser Heile Selassi das Territorium ganz an. Und als sich 1974 in Addis Abeba die berüchtigte Militärjunta der Dergs an die Macht putschte, breitete sich deren „roter Terror“ auch über Eritrea aus.

Schon damals verließen viele Eritreer ihre Heimat oder gingen in den Untergrund. Die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) nahm gemeinsam mit äthiopischen Rebellen den Kampf gegen den Derg-Führer Mengistu Haile Mariam auf. Als sie den Diktator 1991 tatsächlich besiegten, wurde den Eritreern zum Dank für die Waffenbrüderschaft ein Volksentscheid über ihre Abspaltung von Äthiopien gewährt. Mit 99,83 Prozent plädierten sie für ihre Unabhängigkeit und feierten 1993 die Einsetzung der ersten Regierung in ihrer Geschichte, die sie die ihre nennen konnten.

Fünf Jahre lang blühte der Staat auf – dann kam die Katastrophe. Nach der Unabhängigkeit hatten sich die Beziehungen zum äthiopischen Nachbarn schnell verschlechtert: Der große Bruder zeigte sich erbost darüber, wie ernst es die Eritreer mit ihrer Eigenständigkeit nahmen und dass sie sogar eine eigene Währung einführten. Streitereien über den Verlauf der Grenze führten zu ersten militärischen Zusammenstößen, die im Mai 1998 schließlich zu einem Krieg eskalierten. In dem dreijährigen Waffengang kamen mehr als 70 000 Menschen ums Leben. Erreicht wurde nichts – außer, dass zwei der ärmsten Länder der Welt noch um viele Millionen Dollar ärmer waren.

Der Zustand seit dem Ende des Krieges wird in Eritrea als „no peace and no war“ bezeichnet. Entlang der über 900 Kilometer langen Grenze stehen sich die Armeen der beiden Bruderstaaten gegenüber – ständig zum Zuschlagen bereit. Trotz eines internationalen Schiedsspruchs weigert sich Äthiopien, aus einem besetzten Wüstenstreifen abzuziehen. Im Inneren Eritreas verhärtet sich unterdessen die Lage: Eine in den 90er Jahren ausgearbeitete Verfassung wurde niemals verabschiedet, noch immer gibt es weder Oppositionsparteien noch Wahlen. Der seit der Unabhängigkeit regierende Befreiungsführer Isaias Afewerki herrscht per Dekret, fühlt sich von der Welt betrogen und igelt sich ein. Westliche Diplomaten bekommen den 69-Jährigen höchstens einmal in ihrer Amtszeit – bei der Akkreditierung – zu sehen.

„Das ist keine Paranoia, sondern eine historische Tatsache“, nimmt Yemane Gebreab, Kopf der regierenden Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit, seinen Präsidenten in Schutz. Fast zwei Stunden lang erklärt der zweitmächtigste Mann des Landes dem Besucher das seiner Heimat widerfahrene Unrecht: „Erst wurde uns die Unabhängigkeit verwehrt, dann haben sowohl amerikanische wie russische Flugzeuge Bomben auf uns geworfen, und jetzt werden wir wie Aussätzige behandelt.“ Die USA hätten sich Äthiopien – mit 90 Millionen Einwohner der zweitgrößte Staat Afrikas – als einen ihrer „Ankerstaaten“ auf dem Kontinent ausgesucht, fährt Gebreab fort. Seitdem könne sich das Land alles erlauben, während Eritrea als Sündenbock herhalten müsse und mit Sanktionen überzogen werde. „Da ist was Wahres dran“, bestätigt ein westlicher Diplomat.

Offenbar meint man im Ausland, mit Eritrea nach eigenem Gutdünken umgehen zu können. Eine dänische Kommission kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, in Eritrea herrsche keinerlei Angst, Rückkehrern drohe keine Verfolgung, und die Entwicklung des Landes verlaufe durchaus positiv – ein Befund, der sich spätestens dann als falsch herausstellt, wenn man im Beisein eines Eritreers mit einem Einheimischen über heikle Themen sprechen will. Die Kommissionsmitglieder gehörten der dänischen Immigrationsbehörde an – offensichtlich suchten sie mit ihrem Bericht die geplante Rückführung eritreischer Asylanten zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu wollen die von der UN-Menschenrechtskommission beauftragten Rapporteure von „systematischen schweren Verletzungen der Menschenrechte“, von „Sklaverei ähnlichen Praktiken“ und von bis zu zehntausend ohne Verfahren festgehaltenen Gefangenen wissen. Der Kontrast könnte nicht größer sein.

Perinne Louart sitzt seit zwei Jahren als Repräsentantin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Asmara und fragt sich, wo solche Zahlen herkommen. Zwar kann das IKRK seit 2009 keine Gefängnisse mehr besuchen, weil die vom Ausland enttäuschte Regierung ihre Zusammenarbeit mit allen Nichtregierungsorganisationen eingestellt hat. Doch Beweise für die angeblich 6000 heimlichen Gefängnisse (von denen manche sogar unterirdisch sein sollen) oder für die zehntausend ohne Haftbefehl Eingesperrten habe bislang keiner vorgelegt, sagt Louart. Da die Autoren des UN-Berichtes gar nicht ins Land gelassen wurden, beruhen ihre Anschuldigungen ausschließlich auf Gesprächen mit Exil-Eritreern.

Diese haben jedoch ein Interesse daran, das Land so schlecht wie möglich darzustellen: Hängt doch der Erfolg ihrer Asylanträge vom schlechten Image ihrer Heimat ab. Als nächstes will die UN sogar untersuchen, ob Eritreas Regierung nicht wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gezogen werden könne. „Es wird immer verrückter“, sagt die Schweizer IKRK-Mitarbeiterin Marianne Kropf.

Geschäftsmann Tesfa Berhane (auch sein Name musste geändert werden) nennt es einen „tragischen Teufelskreis“. Je mehr die Regierung diffamiert werde, desto tiefer verkrieche sie sich in ihrem Bunker – dabei sei doch genau das Gegenteil nötig. Auch wenn es sich bei Präsident Afewerki womöglich um einen paranoiden Kontrollfreak handele, der außer dem Buschkrieg nicht viel erlebt habe: Die Mehrheit der Regierenden wisse sehr genau, dass sich Eritrea öffnen müsse. Immerhin dürfe sich das Land mit Qualitäten brüsten, von denen andere afrikanische Staaten nur träumen können. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Eritrea auffallend gering, die Korruption hält sich in Grenzen, so sicher wie in Asmara lebt es sich in keiner anderen Hauptstadt des Kontinents.

„Wenn wenigstens der unbegrenzte Wehrdienst aufgehoben würde“, sagt Maria Teklehaimanot: „Wir würden unser Land auch ohne ihn verteidigen.“ Parteisekretär Gebreab versichert, dass die Regierung die Dienstzeit wieder auf 18 Monate begrenzen werde, sobald für die Wehrpflichtigen alternative Arbeitsmöglichkeiten gefunden worden seien – ein Hinweis darauf, dass sich der Staat an die billigen Arbeitskräfte, seine „Sklaven“, bereits gewöhnt hat. Nach Auffassung des Geschäftsmanns Berhane hat die staatliche Leibeigenschaft nicht nur Hunderttausende von Eritreern in die Flucht geschlagen, sondern auch die Privatwirtschaft des Landes ruiniert. Wenn es tatsächlich dazu komme, dass der unbefristete Wehrdienst wieder aufgehoben werde, sei Eritrea „auf dem richtigen Weg.“ Noch können sich die in alle Welt verstreuten heimwehkranken Landeskinder allerdings keine Hoffnung machen. Sobald sie zurückkehrten, sagt Informationsminister Ghebremeskel, würden sie als Deserteure eingesperrt.