Beitrag vom 10.08.2015
Finanz und Wirtschaft
Demographie
Afrika produziert wenig Fortschritt und zu viele Kinder
Wolfgang Drechsler, Kapstadt
«Wer glaubt, der enorme Zuwachs an Menschen würde sich mit einem höheren Lebensstandard in Afrika von selbst erledigen, unterliegt einem Trugschluss.»
Viele Länder des Kontinents kollabieren unter der Last zu grossen Kindersegens. Die Jugendlichen haben kaum Aussicht auf Arbeit. Das treibt sie zur Flucht übers Mittelmeer. Ein Kommentar von Wolfgang Drechsler.
Tausende Afrikaner versuchen, ihren als unerträglich empfundenen Lebensumständen daheim zu entrinnen. Mit tausendfach tödlichen Folgen, wie auch das jüngste Schiffsunglück vor der libyschen Küste wieder zeigt. Mehrere Hundert Flüchtlinge sind dort zur Wochenmitte ertrunken. Der Widerspruch zu einer anderen Entwicklung könnte grösser kaum sein: Gleichzeitig zu diesen Fluchtwellen wird auf Investmentkonferenzen und in Medien immer wieder Afrikas Aufstieg gefeiert.
Unter den Flüchtlingen haben vor allem die Jüngeren längst den Glauben an eine Besserung der Verhältnisse zu Hause verloren. Sie sehen in der gefährlichen Flucht über das bereits als «Massengrab» gefürchtete Mittelmeer immer öfter den einzigen Ausweg aus Stillstand und Not.
Dass die Zahl der Flüchtlinge ständig steigt, kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich liegen zwischen den zum Teil beeindruckenden Wachstumsraten und den konkreten Lebensumständen der meisten Afrikaner oft Welten: Während in den meisten Ländern des Kontinents kleine, selbstsüchtige Eliten vom zeitweiligen Aufschwung der Rohstoffpreise profitiert haben, hat sich an der tristen Lage der mehr als eine Milliarde Afrikaner insgesamt wenig verändert: Allein in Nigeria, der gerne zum Hoffnungsträger verklärten grössten Volkswirtschaft Afrikas, leben mehr als 100 Millionen der inzwischen 175 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Tragfähige Strukturen für ein nachhaltiges Wachstum – wie etwa Industrie oder Institutionen – fehlen fast überall. Auch die gerne herbeigeredete Mittelklasse gibt es allenfalls in Ansätzen.
Kulturelle Hindernisse
Die in Europa verbreitete Sorge, die Migration aus dem Süden könne bald völlig aus dem Ruder laufen, ist deshalb verständlich. Gegenwärtig stammen «nur» rund 20% aller Flüchtlinge aus Afrika. Das könnte sich schnell ändern. Die UNO weist in ihrem jüngsten Bericht zur Bevölkerungsentwicklung mahnend darauf hin, dass in Afrika die Zahl der Menschen weiter massiv steigt und sich bis 2100 wohl fast vervierfachen wird – von heute 1,2 auf rund 4,5 Milliarden. Während die Gesellschaften im Westen altern, brechen sie in weiten Teilen Afrikas unter der Last der vielen Kinder allmählich zusammen: In Ländern wie Uganda ist bereits etwa die Hälfte der Bevölkerung unter achtzehn Jahre alt. Doch nur die allerwenigsten Jugendlichen haben Chancen auf einen Arbeitsplatz und eine Entwicklungsperspektive.
Auch können schon jetzt fast alle afrikanischen Länder ihre Menschen nicht ernähren. 35 der 48 Länder in Subsahara-Afrika sind per Saldo Lebensmittelimporteure – Tendenz steigend. Wer also glaubt, der enorme Zuwachs an Menschen würde sich mit einem höheren Lebensstandard in Afrika von selbst erledigen, unterliegt einem Trugschluss, weil das stark patriarchalisch geprägte Afrika nach eigenen kulturellen Regeln tickt: So werden Frauen, die nicht gebären, von den Männern oft verlassen. Wenn eine Frau Verhütungsmittel verwendet, argwöhnen Männer oft, sie wolle fremdgehen. Gleichzeitig werden Kondome als unmännlich empfunden und sind weithin verpönt.
Kein Wunder, dass sich viele Mädchen wegen des hohen gesellschaftlichen Drucks am Ende für eine grosse Familie mit durchschnittlich fast fünf Kindern entscheiden. Um daran etwas zu verändern, müssten die Machtstrukturen zwischen Mann und Frau in Afrika grundsätzlich verändert werden. Doch das braucht Zeit, die Afrika nun nicht mehr hat.
Entwicklungshilfe an Familienpolitik koppeln
Statt endlos über die angeblich zu geringe Entwicklungshilfe zu schwadronieren, müssten die vielen unfähigen Regierungen in Afrika durch eine Kopplung der Hilfsgelder an eine realistische Bevölkerungspolitik dazu gedrängt werden, die hohe Geburtenrate mit weit mehr Nachdruck als bislang anzugehen. Sonst geht jeder kleine Fortschritt verloren.
Im Westen schreckt man jedoch vor Forderungen nach einem kulturellen Wandel in Afrika zurück – aus Angst, des Rassismus bezichtigt zu werden. Daneben hat eine Allianz aus Vatikan, amerikanischen Evangelisten und Muslimen dazu geführt, dass die Familienplanung zu einem Tabu der Entwicklungspolitik geworden ist.
Dabei könnte mit einer intensiven, von Afrika und den westlichen Geberländern gleichermassen forcierten Familienpolitik vieles bewirkt werden. Das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele der UNO – die Armut sollte bis 2015 halbiert werden, ein Ziel, das in Afrika spektakulär verfehlt wurde – wäre in vielen Bereichen wie der Bildung oder Gesundheit weit billiger gewesen, wäre das Bevölkerungswachstum von Beginn an stärker einbezogen worden. Ob sich der Trend noch wenden lässt, hängt davon ab, ob der Westen seine Berührungsängste überwindet und weltweit ein neues Interesse an Fragen der Bevölkerungskontrolle in Afrika erwacht. Die aktuelle Flüchtlingsdebatte könnte dabei vielleicht zumindest in Europa gerade noch rechtzeitig zu einer Art Weckruf werden.