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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 02.03.2014

Die Zeit

Gerd Müller

Dienstreise zu den Geretteten

Der neue Entwicklungshilfeminister Gerd Müller zeigt Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und riskant große Ambitionen.

von Christiane Grefe

Drei zugige, leer stehende Räume. Aber der syrische Bauer mit seiner Frau und den zehn Kindern hat es vergleichsweise gut getroffen. Vor einem Jahr musste die Familie vor dem Bürgerkrieg ins benachbarte Jordanien fliehen. Zwei Teppiche, Vorhänge statt Türen, ein kleiner Herd: Das ist die Einrichtung ihrer Bleibe.

An diesem Montag drängelt sich darin eine ganze Regierungsdelegation.

Gerd Müller, der neue deutsche Entwicklungsminister, besucht das Land, das 600.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Hier, in der Nähe der Stadt Mafrak, hat ein alter Lehrer den "bitterarmen Leuten", wie er sagt, seinen kleinen Laden überlassen. Als Müller das hört, geht er auf den Mann zu und gibt ihm die Hand: "Zum Zeichen des Respekts für Ihre selbstlose Hilfe." So etwas kann peinlich wirken, aufgesetzt und steril. Doch der CSU-Mann findet einen überzeugenden Ton.

Die gleiche Mischung aus Mitgefühl und Geradlinigkeit zeigt Müller auch bei den anderen Stationen seiner ersten von Journalisten begleiteten Reise. Zum Beispiel im weltweit drittgrößten Flüchtlingslager Saatari: Dort erklärt ihm der Lagermanager des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen UNHCR, wie er Notunterkünfte für 100.000 Menschen in eine Kleinstadt mit Bezirken und Selbstverwaltung verwandelt habe. In einer Schule läuft ein Video, auf dem ein 16-Jähriger aus Damaskus in einem Gedicht seiner inneren Verzweiflung über den Verlust seiner Heimat Ausdruck verleiht. Und dann sind da noch die Klempnerinnen, die sich um dichte Installationen im dramatisch wasserarmen Jordanien kümmern. Überall geht Müller auf die Menschen zu. Er stellt viele Fragen, will lernen.

Ist dieser Minister vielleicht doch eher ein Überzeugungstäter als ein Parteikarrierist? Und nicht eine "Notlösung", wie viele im Berliner Politikbetrieb nach seiner Ernennung mutmaßten?

Müller ... wer? Das fragten sich viele Bürger und auch Experten, als im Dezember die Entscheidung für den Neuen im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefallen war. Kaum jemand kannte den CSU-Mann. Acht Jahre lang hatte er zuletzt als Parlamentarischer Staatssekretär im Landwirtschafts- und Verbraucherministerium gedient.

In dieser Rolle hatte er sich als Handlungsreisender zugunsten der Agrarindustrie einen zwiespältigen Ruf erarbeitet. Auf internationalen Messen half er, die Exportmengen deutscher Milch- und Fleischprodukte zu steigern - aus entwicklungspolitischer Sicht eher zum Schaden der ärmeren Länder.

Die Skepsis gegenüber Müller war groß, und sie wurde dadurch verstärkt, dass der hochgewachsene 58-Jährige auf den ersten Blick etwas beamtenhaft wirkt. Etwas linkisch faltet er oft die Hände vor dem Jackett und entwickelt mit tiefer Stimme in gutturalem Schwäbisch mit langen Pausen seine Gedanken. Ein Provinzler vom Bauernhof aus Krumbach im Allgäu, dem "grünen Herzen Deutschlands" - dieses Klischee war schnell im Umlauf. Und dieser Mann sollte jetzt weltweit die Armut bekämpfen?

Aber dieser Gerd Müller war auch mal Europaparlamentarier und Außenpolitiker in seiner Fraktion. Und nicht nur mit seiner Jordanienreise demonstriert er, dass er seine neue Rolle als Minister offensiv ausfüllen will und kann.

"Eine der größten humanitären Krisen seit 20 Jahren" dürfe nicht aus den Schlagzeilen geraten, so begründet er seine Reise in die Hauptstadt Amman. Dort sagt er dem jordanischen Planungsminister Ibrahim Saif nicht nur 25 Millionen Euro Hilfe für Schul- und Wasserprojekte zu. Müller fordert auch mehr öffentlichen Druck auf den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, damit der sein Land endlich für "humanitäre Hilfskorridore" öffne. Für eine entsprechende UN-Resolution will er sich engagieren. In Brüssel plant der Minister ein europäisches Koordinationstreffen der Geberländer. Er drängt darauf, dass alle europäischen Länder mehr Flüchtlinge aufnehmen. Und auch hierzulande, sagt er, müsse überprüft werden, warum eigentlich die versprochene Aufnahme von 10.000 Syrern bisher kaum erfüllt worden sei.

Das alles ist nicht gerade bequem, zumal Müller mit solchen Vorstößen die Grenze zwischen Entwicklungs- und Außenministerium leicht überschreiten kann. Auch sonst hat sich wohl kaum ein anderer Minister derart schnell und mutig mit weitreichenden Positionen nach vorn gewagt.

Kaum im Amt, distanzierte sich Müller von seinem Vorgänger Dirk Niebel. Der hatte die Entwicklungspolitik mit seinem plumpen FDP-Filz noch weiter an den Rand gedrängt. Die letzten Militärkappen seines Vorgängers seien entsorgt, frotzelte der Neue - und wurde noch deutlicher: "Hier sitzt Müller, nicht Niebel." Während der FDP-Mann im Amt keine Gelegenheit ausließ, lautstark über die rot-grüne Gutmenschenpolitik herzuziehen, setzt Müller geschickt überparteiliche Signale. So erinnert er an die "große Tradition der Nord-Süd-Kommission". Dieses internationale Gremium hatte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt Ende der siebziger Jahre geleitet.

Mit dem Titel des damaligen Abschlussberichtes, Das Überleben sichern, könnte man auch Müllers ungewöhnliche Antrittsrede im Bundestag überschreiben. Darin überraschte der Minister mit seiner Forderung, den Märkten mit sozialen und ökologischen Standards beim Welthandel Grenzen zu setzen. Angesichts der ökologischen Krisen stellte er die derzeitige Form des Wirtschaftswachstums und den konsumfixierten Lebensstil im eigenen Land infrage: "Wir müssen unseren Wohlstand nicht abbauen, sondern umbauen." Auch das sei Entwicklungspolitik, sagte der Minister, sie sei "Zukunftspolitik, Friedenspolitik und Innenpolitik".

Wem das alles zu kühn klingt, dem erklärt Müller, in welcher Rolle er das BMZ gerade in dieser Legislaturperiode sieht. 2015 übernimmt die Bundesregierung die G-8-Präsidentschaft. Im selben Jahr sollen die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen mit Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit des Wirtschaftens verbunden werden, und gegen Ende geht es auf eine Weltklimakonferenz in Paris zu. Da könne ein geschickter Entwicklungspolitiker mit der Kompetenz seiner Mitarbeiter viel dazu beitragen, dass die Bundesregierung ihre globale Verantwortung wahrnehme, gibt sich Müller selbstbewusst. Im Bundestag kündigte er an, gemeinsam mit Organisationen der Zivilgesellschaft eine "Zukunfts-Charta" erarbeiten und diese beim Kanzleramt in die Vorbereitung auf die G-8-Präsidentschaft einspeisen zu wollen.

"Beifall im ganzen Hause", verzeichnete das Protokoll immer wieder bei dieser Rede. Anschließend fragte sich so mancher Abgeordnete von CDU und CSU allerdings, ob da nicht ein Fraktionskollege mit allzu grünen Ansichten an den Interessen der Wirtschaft vorbei geprescht sei. Die Grünen selbst waren irritiert. Spielt Müller jetzt eine neue Rolle als "Merkels Nachhaltigkeitsalibi"?, fragte man sich auf der Oppositionsbank. Oder ist sein neues Thema für ihn tatsächlich eine "Berufung", wie der Minister selber sagt, ein Job, den er mit "intrinsischer Motivation" ausfüllen werde? So nennen studierte Wirtschaftspädagogen wie er jene Antriebe, die ganz von innen kommen.

Fragt man Müller nach solchen Beweggründen, dann erzählt er von Erfahrungen in der katholischen Jugendarbeit mit alten oder behinderten Menschen: "Der Starke hilft dem Schwachen." Verantwortungsgefühl und Maßstäbe habe er von seinem Vater gelernt, besonders aus Geschichten über dessen Kriegsgefangenschaft. "Er konnte nur überleben, weil ihm die russische Zivilbevölkerung Karotten und Brot unter dem Zaun hindurchgeschoben hat", sagt Müller. Dieses Bild stehe ihm wieder vor Augen, wenn er heute die Situation in Syrien sehe: "Auch dort muss jenseits von Freund oder Feind geholfen werden."

In den achtziger Jahren engagierte sich Gerd Müller mit Parteifreunden aus der Jungen Union erstmals mit kleinen Hilfsprojekten für die Dritte Welt. In dieser Zeit trat er öffentlich auch als Lebensschützer im Umfeld der Memminger Abtreibungsprozesse in Erscheinung. Das dahinterstehende, wertkonservative Engagement für Leben und Schöpfung trieb ihn aber auch dazu, mit dem späteren Entwicklungspolitiker Christian Ruck und dem Verteidigungspolitiker Christian Schmidt Kongresse zu den Gefahren des Klimawandels und zum Sterben der tropischen Regenwälder zu organisieren. Damals war das noch keineswegs im Mainstream, am allerwenigsten in seiner Partei.

Die drei CSU-Politiker sind bis heute miteinander befreundet. Den Gefährten Schmidt holte Müller als Staatssekretär ins BMZ. Das Zusammensein währte freilich nicht lange, nach Hans-Peter Friedrichs Rücktritt übernimmt Schmidt jetzt das Agrarministerium. Müller sagt, das freue ihn, denn jetzt könnten BMZ und BMEL auch bei der weltweiten Ernährungssicherheit noch enger zusammenarbeiten. Die ländliche Entwicklung ist ein Schwerpunkt seiner Politik, im BMZ will er zusammen mit der Agrarwirtschaft Kleinbauern in Asien und in Afrika unterstützen und die lokalen Wertschöpfungsketten stärken. Dafür gibt es auch deutlich mehr Geld.

Müller hat sich innerhalb seines Ministeriums schnell Sympathien erobert. Dort berief er vor allem "Hausgewächse" zu Abteilungsleitern. Viele Mitarbeiter fühlen sich mit ihrer Expertise nach der jahrelangen hermetischen FDP-Führung wieder wertgeschätzt. Aber auch außerhalb seines Hauses sucht der Neue Rat und Austausch. Erst wenige Tage im Amt, lud er Bärbel Dieckmann von der Welthungerhilfe und Bernd Bornhorst, den Vorsitzenden des Verbands Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen Venro, zu Vieraugengesprächen ein.

Bornhorst empfand Müller als "positiv, offen, zugewandt. Er durchdringt die Themen auf eine Weise, die uns nahe ist". Vom Engagement des Ministers für mehr Nachhaltigkeit und von seiner Wachstumskritik ist auch die sogenannte entwicklungspolitische Szene ziemlich angetan. Es klingt alles fast zu harmonisch.

Vielleicht ändert sich das, wenn Müller in dieser Woche gemeinsam mit Ursula von der Leyen und Frank-Walter Steinmeier ein koordiniertes neues Afrika-Konzept vorlegt. Die entscheidende Frage ist: Kann der neue Weltretter seine hochtrabenden Pläne am Ende auch gegen Widerstände im Kabinett durchsetzen? Parteifreunde beschreiben ihn als vorsichtig. Aber er sei auch bereit zu Konflikten - und manchmal bis zur Naivität unbekümmert. Die Fallhöhe jedenfalls hat Gerd Müller gesetzt.