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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 02.07.2013

Neue Zuercher Zeitung

Widersprüchliche Ziele der Entwicklungszusammenarbeit

Ohne eine radikale Umorientierung auf «Hilfe zur Selbsthilfe» wird die Entwicklungszusammenarbeit nie die gewünschte Breitenwirkung in den Entwicklungsländern haben. Solange die Geberländer «vorsichtshalber» im Fahrersitz sitzen bleiben, ist die angestrebte Verbesserung der Handlungsfähigkeit nicht zu erreichen.

Von Hans-Gert Braun

Die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) leidet seit Anbeginn unter einem Widerspruch, der in der Verfolgung verschiedener Ziele besteht, die eigentlich nicht miteinander vereinbar sind. So sind ihre grundlegenden Ziele einerseits die Durchführung von Entwicklungsmassnahmen, von Projekten und von Programmen mit der Massgabe von Effizienz und Effektivität und andererseits die Verbesserung der Handlungsfähigkeit der lokalen Akteure, der Kooperationspartner im Empfängerland. Das zweite Ziel bedeutet, dass die Kooperation «Hilfe zur Selbsthilfe» zu sein hat.

Wie in der Fahrschule

Es bedeutet, dass lokalen Akteuren (Staat, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmer), die ihre jeweiligen Entwicklungsmassnahmen planen und realisieren, bei deren Umsetzung geholfen wird. Die Hilfe kann in der Zurverfügungstellung von Geld, von Sachmitteln oder von technischer Beratung bestehen. Zusammenarbeit impliziert aber, dass die Entwicklungsmassnahmen primär Projekte der lokalen Akteure bleiben. Ihre Entscheidungen gelten, auch wenn der Kooperationspartner, die externe Beratung, anderer Auffassung ist.

Das bedeutet, dass die lokalen Akteure bei ihren Entscheidungen eventuell Fehler machen, Fehler, die Kosten bedeuten oder eine Gefährdung der Projektziele und somit eine Verringerung von Effizienz und Effektivität. Es bedeutet aber andererseits, dass die lokalen Akteure so (und nur so) die Möglichkeit erhalten, aus den Projekterfolgen Motivation zu schöpfen bzw. aus den eigenen Fehlern zu lernen.

Man kann das oft bemühte Bild nicht ernst genug nehmen: In der Fahrschule sitzt der Fahrlehrer auf dem Beifahrersitz und der Fahrschüler auf dem Fahrersitz. Der Schüler fährt, er trifft die Fahrentscheidungen - selbst auf die Gefahr hin, dass Unfälle passieren. Nur so kann ein Schüler wirklich Auto fahren lernen. Und das stand nie infrage. In der Entwicklungszusammenarbeit ist das nicht anders. Und deshalb wird der Slogan der «Hilfe zur Selbsthilfe» wie eine Monstranz allen Kooperationen vorangetragen.

Aber vieles, was sich hinter der Monstranz bewegt, steht zutiefst im Widerspruch zu diesem Slogan. Da werden Projekte geplant, die zwar dem Entwicklungsland durchaus «guttun»; aber Planung und Realisierung werden im Grunde von ausländischen Institutionen durchgeführt, die sich dann einen lokalen Partner suchen, der nur formell die Trägerrolle ausübt.

Bei allen EZ-Massnahmen kommt es massgeblich darauf an, wer das Sagen hat, wer auf dem Fahrersitz sitzt. Und meist ist das de facto ein Experte aus dem Geberland. Häufig werden Kooperationsprojekte mit Personal aus dem Geberland ausgestattet, obwohl geeignetes, kostengünstigeres Personal auch im Geberland verfügbar wäre. Das ausländische Personal erleichtert jedoch die erfolgreiche Steuerung des Projektes durch die ausländische Projektleitung - und deren vorgesetzte EZ-Durchführungsorganisation. Massnahmen der EZ tangieren oft viele lokale Behörden im Entwicklungsland. Um deren Einfluss zu minimieren, wird von den Gebern zuweilen zu der Konstruktion einer umfassenden eigenen Projektverwaltung gegriffen. Sie sichert die Effizienz und Effektivität des Projektes, minimiert «Negativeinflüsse» seitens der lokalen Behörden und stellt sicher, dass die Projektausstattung (Dienstwagen, technische Geräte usw.) ausschliesslich dem Projekt zur Verfügung steht, nicht aber den lokalen Behörden.

Kurzsichtige Erfolgskontrolle

Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Aber das ist nicht nötig, die Logik, die dahintersteht, wird bereits deutlich. Alle Beteiligten auf der Geberseite sind beseelt von ihrer Leistungsorientierung, von der Verbesserung der Effizienz und der Effektivität der durchzuführenden EZ-Massnahmen. Ein zu grosses Mitspracherecht lokaler Beteiligter könnte die Erreichung dieser Ziele gefährden; und deshalb wird es eingeschränkt - wer zahlt, bestimmt. Das Ziel einer effizienten und effektiven Projektrealisierung wird so vielleicht erreicht, das eigentliche Ziel der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der lokalen Akteure wird aber verfehlt. Die Lächerlichkeit dieser Situation wird besonders plastisch, wenn man noch einmal auf die obengenannte Metapher zurückgreift: Wenn ein Fahrlehrer sich «vorsichtshalber» auf den Fahrersitz setzt, so lernt der Schüler nichts.

Die Gründe dieser Fehlentwicklungen sind bei den Gebern zu suchen. Ihre Durchführungsorganisationen stehen unter dem Druck der Regierungen und Parlamente. Und diese setzen Evaluierungsinstitutionen ein, die eine Erfolgskontrolle der jeweiligen Projekte und Programme durchführen. Der durch dieses System der Erfolgskontrolle verursachte Druck ist die eigentliche Ursache der Fehlentwicklungen. Denn die Erfolgskontrolle überprüft, ob die jeweiligen Projekt- oder Programmziele erreicht wurden. Dabei geht es um die jeweils zwischen Gebern und Nehmern vereinbarten sachlichen Projektziele (Trinkwasserversorgung, Ernährungssicherung, Ausbildungswesen). Sie kontrolliert nicht, ob dabei die Projektsteuerung bei den lokalen Partnern lag. Dieses eigentliche Projektziel wird bei den Evaluierungen ausgeblendet. Es ist dringend erforderlich, dieses eigentliche Projektziel auch formell zum Oberziel in den Kooperationsverträgen zu erklären.

Wenn die Durchführungsinstitutionen der EZ regelmässig ihre Evaluierungsergebnisse publizieren und feststellen, dass zwei Drittel bis drei Viertel «ihrer» Projekte erfolgreich waren, so ist nun klar, wie das zu lesen ist. Es sind Projekte ohne Breitenwirkung. Ohne eine radikale Umorientierung auf «Hilfe zur Selbsthilfe» wird die EZ nie die gewünschte Breitenwirkung in den Entwicklungsländern haben, weil sie die Handlungsfähigkeit der lokalen Akteure nicht verbessert.

Hans-Gert Braun war Chefvolkswirt der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) und hat an der Universität Stuttgart Volkswirtschaftslehre und Entwicklungspolitik gelehrt.