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Beitrag vom 04.05.2012

Neue Zuercher Zeitung

In der Klemme zwischen Separatisten und Islamisten

Prekärer Alltag in der nordmalischen Stadt Gao - Wahhabitische Puristen auf dem Vormarsch
Gao, eine Stadt mit rund 85 000 Einwohnern im Norden Malis, hat unter dem vor einem Monat erfolgten Rebelleneinmarsch schwer gelitten. Die nicht geflüchteten Einwohner kämpfen ums Überleben.

Mohomodou Houssouba

Vor rund einem Monat haben Tuareg-Rebellen Gao im Norden Malis erobert. Die beiden Militärcamps, alle Banken, Apotheken, das Spital und andere öffentlichen Einrichtungen wurden geplündert und beschädigt. Gao, eine Stadt mit rund 85 000 Einwohnern, verfügt seither über keine funktionierende Infrastruktur und keine staatliche Verwaltung mehr. Die in der Stadt ausharrenden Einwohner kämpfen tagtäglich ums Überleben. Mitbürger, die Gao verliessen, haben Hilfstransporte organisiert, um die Stadt zumindest mit Grundnahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen.

Neue religiöse Ordnung

In einem kleinen Bereich des Spitals kümmern sich ein paar Ärzte und Krankenschwestern um Kranke und Verletzte; sie haben sich dabei mit Milizen der Islamistengruppe Ansar ad-Din abgesprochen, welche die Sicherheit garantieren. Die wichtigste Hilfe erfolgt jedoch über Verwandte in Niamey oder Bamako, die ihren Angehörigen Lebensmittel und andere dringend benötigte Güter zukommen lassen. Die lokalen Händler haben allerdings durch die Plünderungen Anfang April schweren Schaden erlitten, und der Warentransport funktioniert nur noch mit Verzögerungen. Die Einwohner sind zudem mit grossen Preissteigerungen konfrontiert.

In Gao sind die beiden Kirchen sowie eine Reihe von Bars und andere Unterhaltungslokale der islamistischen Furie zum Opfer gefallen. Vor diesen Zerstörungen hatten in Gao rund 200 Christen gelebt. Nach den vorliegenden Informationen sind sie alle geflüchtet, zum Teil haben sie in den Dörfern der Umgebung Unterschlupf gefunden. Diese bis anhin unbekannte Gewalt gegenüber Christen steht in scharfem Gegensatz zu den traditionellen Verhaltensweisen der Muslime in Mali. Dies hat sogar der Präsident des Haut conseil islamique du Mali (HCIM), Mahmoud Dicko, selber wahhabitischer Ausrichtung, festgehalten. Er verwies auf das - gelegentlich in ein und derselben Familie vorkommende - friedliche Nebeneinander von Muslimen, Christen und Anhängern animistischer Religionen. Chérif Ousmane Madani Haïdara, der einer sich Ansar ad-Din nennenden muslimischen Bruderschaft vorsteht, warf den wahhabitisch orientierten Islamisten der Gruppe Ansar ad-Din vor, den Namen seiner Bruderschaft usurpiert zu haben.

Haïdara hatte sich schon früher gegen den Versuch der Wahhabiten gewandt, den Islamischen Rat Malis unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese klare Ablehnung, ja Feindschaft gegenüber den Wahhabiten erklärt sich aus der Geschichte des Landes. Der traditionelle Islam ist stark durch die Sufibruderschaften geprägt. Der puritanische Wahhabismus, der den Islam von allen nachkoranischen Elementen reinigen will, erreichte Mali zum ersten Mal in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts, konnte aber erst rund 20 Jahre später Fuss fassen. In der Hauptstadt Bamako fand er bei Geschäftsleuten rasch Verbreitung. Im Mai 1957 wurden diese Händler wahhabitischer Ausrichtung und ihre Geschäfte Ziele von gewalttätigen Übergriffen; dabei vermischten sich religionspolitische Ressentiments mit ökonomischen Motiven.

In Gao tauchte der Wahhabismus erst Anfang der siebziger Jahre auf. Massgebend dafür war wohl in erster Linie die Rückkehr von jungen Maliern, die an saudiarabischen Religionsschulen studiert hatten. Teilweise liessen sich diese Rückkehrer in Dörfern ausserhalb von Gao nieder, wo sie streng abgetrennt von anderen Dorfbewohnern lebten. 1973, während einer langen Dürreperiode, kam es zu einem gewalttätigen Konflikt, weil traditionalistische Muslime die aggressive Ausbreitung des «neuen Glaubens» nicht mehr tolerierten. Das Militärregime reagierte darauf mit der Verhaftung der religiösen Führer und deren Inhaftierung während eines Jahres. Daraufhin wandten sich viele Familien vom wahhabitischen Islam ab. Dennoch verblieben in verschiedenen Dörfern kleine Gemeinschaften von Wahhabiten.

Das Zentrum des Wahhabismus verlagerte sich aber in die Städte, wo der Handel mit dem Mittleren Osten einer ansehnlichen Zahl von Geschäftsleuten und Händlern zu Reichtum verholfen hatte. Diese gründeten religiöse Schulen und eigene Medien. Sie machten sich auch auf politischer Ebene stärker bemerkbar. So organisierte 2009 der Imam Mahmoud Dicko den Widerstand gegen die Reform des Familien- und Personenstandsrechts mit einem Protestmarsch, an dem sich rund 50 000 Personen beteiligten. Auch in Gao fanden solche Märsche statt. Sie wurden jeweils von Frauen angeführt, die in schwarze Ganzkörperschleier gehüllt waren. Der heftige Widerstand zwang Präsident Touré, die Stärkung der Frauenrechte von der Reform auszunehmen.

Hüter von Ruinen

In Gao wetteifern zurzeit das Mouvement national de libération de l'Azawad (MNLA) und die Wahhabiten um die Gruppe Ansar ad-Din um lokalen Einfluss. Dabei verfolgt jede Bewegung ein eigenes Ziel. Das MNLA strebt einen Staat auf ethnischer Grundlage an. Die Ansar ad-Din (Partisanen des Glaubens) wollen einen islamischen Gottesstaat. Ende April organisierte das MNLA eine Zusammenkunft mit lokalen Notabeln in Gao, um über das «Wohlergehen» der lokalen Bevölkerung zu diskutieren. Die Tuareg-Rebellen scheinen sich bewusst zu sein, dass ihr Image unter den Plünderungen, Entführungen und Vergewaltigungen, die ihren Mitgliedern zugeschrieben werden, gelitten hat. Zum Imageverlust dürfte auch die immer stärker werdende öffentliche Präsenz ihrer islamistischen Bündnispartner beigetragen haben. Dies widerspricht dem nach aussen vertretenen Bekenntnis des MNLA zu einer säkularen Ausrichtung des Staats. Die Ansar ad-Din stützen sich in Gao auf örtliche wahhabitische Vertrauensleute ab, um der Bevölkerung klarzumachen, dass man sich um sie kümmern will.

Um diese Haltung zu dokumentieren, übergaben die Ansar ad-Din 160 festgenommene Soldaten an den HCIM, und die entführte Schweizer Missionarin wurde freigelassen. Schon in der ersten Woche nach der Eroberung von Gao hatten die Ansar ad-Din eine Art von Notrufnummern eingerichtet. Die Einwohner können sich an die islamistische Bewegung wenden, wenn ihre Wohnungen oder Geschäfte geplündert werden. Auf der Suche nach Legitimation nach den angerichteten Zerstörungen versucht jedes Lager, sich als der bessere Hüter von Ruinen zu profilieren.

Der malische Schriftsteller Mohomodou Houssouba lebt in Basel. Übersetzung: Beat Stauffer.