Beitrag vom 07.04.2012
Neue Zuercher Zeitung
Mali am Rande der Anarchie
Die Tuareg-Rebellen im Norden und die Putschisten in der Hauptstadt haben sich übernommen
Die Aufständischen der Tuareg haben den Norden Malis zum unabhängigen Staat erklärt. Die Verkündigung ist so inhaltsleer wie die meisten Behauptungen in der malischen Krise.
Markus M. Haefliger, Nairobi
Die Tuareg-Rebellen in Mali haben am Freitag einen unabhängigen Staat «Azawad» im Norden des Landes ausgerufen. Das Ziel des Aufstands sei erreicht, die Kampfhandlungen gegen die malische Armee würden eingestellt und die Grenzen der Nachbarstaaten, in denen ebenfalls Tuareg-Minderheiten leben, respektiert. Die Proklamation erfolgte bezeichnenderweise im virtuellen Raum der Website des Mouvement national pour la libération de l'Azawad (MNLA) sowie über einen Sprecher der Bewegung in den Pariser Fernsehstudios des Auslandsenders France 24.
Flucht aus Timbuktu
Über die tatsächliche Lage gibt eine Episode Aufschluss, die sich Anfang der Woche in Timbuktu ereignete. Die Rebellen hatten die Stadt am Sonntag eingenommen. Am Donnerstag berichtete ein britisches Ehepaar am Auslandradio BBC über seine spektakuläre Flucht aus Timbuktu. Das MNLA hatte über diplomatische Kanäle erfahren, dass sich noch zwei Europäer in der historischen Stadt aufhielten, und schickte einige Bewaffnete, um die Touristen vor Islamisten zu beschützen. Die Briten mussten ihren Geländewagen zurücklassen, um nicht aufzufallen, und wurden vom MNLA nach Mauretanien evakuiert.
Die Begebenheit zeigt, wie brüchig die Herrschaft der Aufständischen über das Gebiet ist, das sie ihren Staat nennen. Im weiter östlich gelegenen Gao verlief eine ähnliche Schutzaktion weniger glücklich. Islamisten durchbrachen einen Kordon von Wächtern des MNLA und entführten den algerischen Konsul und sechs seiner Mitarbeiter. Die Regierung in Alger bestätigte am Freitag den Vorfall gegenüber der französischen Agentur AFP. Wer die Urheber der Geiselnahme waren, ist unbekannt.
Falls sie nicht trunken sind von den militärischen Erfolgen der letzten Wochen, dürften die Aufständischen des MNLA, einer säkularen Bewegung, mitunter Zweifel an ihren Verlautbarungen überkommen. Die Freiheitsbewegung rekrutiert ihre Anhänger unter Jugendlichen in Kidal und Gao, zwei Städten mit je mehreren zehntausend Einwohnern, in geringerem Masse auch in Timbuktu. Dazu kommen Intellektuelle aus den Migrantenmilieus in Frankreich und anderswo und - als entscheidende militärische Verstärkung - aus Libyen zurückgekehrte ehemalige Söldner.
Damit ist das Reservoir bald ausgeschöpft. Je weiter die Wüstenmiliz aus den Rückzugsgebieten im Adagh-Gebirge nach Süden vordrang, desto geringer wurde ihr Rückhalt in der Bevölkerung. In den Steppen des Azawad, wo Rinderzucht möglich ist, leben neben Tuareg auch Peulh und Songhay. Auch in Gao und Timbuktu bilden die Tuareg eine Minderheit, und die meisten von ihnen halten nichts von einem unabhängigen Staat. Sie mögen über die Vernachlässigung des Nordens oder die Abzweigung von Hilfsgütern durch Politiker in der Hauptstadt Bamako klagen, aber sie fühlen sich als Malier.
Risiko einer Intervention
Die Macht des MNLA ist somit ähnlich schwach wie diejenige der Armeeoffiziere, die vor zwei Wochen in Bamako die Macht an sich rissen. Die Putschisten sagten am Donnerstag einen von ihnen einberufenen Nationalkonvent ab, nachdem alle Parteien und Bürgerorganisationen den fast verzweifelten Versuch einer vorübergehenden Legitimierung der Junta abgelehnt hatten. Beobachter geben den Machthabern nur noch wenige Tage. Das Land wird von den Sanktionen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Cédéao) eingeschnürt; Bargeld, Treibstoff und Strom werden knapp.
Die Cédéao droht darüber hinaus mit einer Militärintervention. Wie die Armeechefs des Staatenbunds am Freitag verkündeten, soll eine bis zu 3000 Mann starke Einsatztruppe beauftragt werden, die Krise zu lösen und notfalls auch die territoriale Einheit Malis wiederherzustellen. Die Bereitschaftstruppe besteht allerdings vorläufig nur auf dem Papier; ihre Zusammenstellung und Finanzierung dürfte Wochen dauern. Abgesehen davon wäre ein Einsatz gegen die gut ausgerüsteten und im Wüstenkrieg erprobten Tuareg-Rebellen äusserst risikoreich.
Über die Stärke der unterschiedlichen Fraktionen von Aufständischen herrscht grosse Unklarheit. Neben dem MNLA beteiligten sich die islamistische Miliz Ansar ad-Din und Teile der Qaïda au Maghreb islamique (Aqmi) an der Rebellion. Ansar ad-Din soll in Timbuktu bereits die Scharia eingeführt haben; ausserdem sollen drei Anführer der Aqmi in der Stadt gesehen worden sein. Doch das sind Gerüchte. Die Meldungen über den Norden Malis werden in Bamako und Paris verfasst und tendieren dazu, die islamistische Gefahr zu betonen. Telefonisch befragte Einwohner Timbuktus kennen niemanden, der die Aqmi-Anführer gesehen hätte, und ausser dem Aufruf an Frauen, sich auf der Strasse «anständig» zu kleiden, gebe es keine Anzeichen der Scharia. Die Einwohner halten es für möglich, dass das MNLA den Islamisten aus taktischen Gründen erlaubt, in Timbuktu vorläufig den Ton anzugeben. Derweil konzentrieren sich die militärisch überlegenen Tuareg-Nationalisten darauf, den Flughafen und den Schiffshafen am Niger-Strom, der zwölf Kilometer südlich der Stadt liegt, zu kontrollieren.
Ungeliebte Islamisten
Die Sekte Ansar ad-Din ist ausserhalb ihrer Stammlande noch weniger populär als das MNLA. Ihr Anführer Iyad Ag Ghali ist mit Abdelkrim Targui verwandt, einem Tuareg und dem einzigen Malier in der (algerischen) Führungsriege von Aqmi. Die Terrorgruppe macht die Gegend allerdings nicht erst seit dem jüngsten Tuareg-Aufstand unsicher. Das MNLA behauptet gar, es werde die Maghreb-Terroristen wirksamer bekämpfen als die Sicherheitskräfte Malis und Algeriens, die am Kokainschmuggel und Geiselhandel der Aqmi mitverdienen. Ob das Versprechen einlösbar ist, steht in den Sternen geschrieben.