Beitrag vom 12.06.2011
Die Zeit Online
"Ich dachte, ich könnte helfen"
Horst Köhler im Gespräch mit der ZEIT
VON: Giovanni di Lorenzo | Matthias Naß
(Auszüge) ...
ZEIT: Nächste Woche reisen Sie nach Afrika - Tansania, Uganda, Ruanda und Äthiopien. Warum lässt Sie dieser Kontinent nicht los?
Köhler: Weil ich dort konkrete Anschauung für die Bedeutung des Artikels 1 unserer Verfassung in der heutigen Zeit erfahren habe: Kindersoldaten, die Zerstörung der Gemeinschaft durch Aids, Völkermorde. Ich habe aber auch erlebt: Menschenwürde ist, wenn sich Menschen nicht fallen lassen, wenn sie - vor allem die Frauen - trotz aller Not versuchen, ihren Kindern Hoffnung zu geben.
ZEIT: Sie haben einen Satz immer und immer wiederholt: Am Schicksal Afrikas entscheidet sich die Menschlichkeit der Welt.
Köhler: So sehe ich es. Bis heute.
ZEIT: Nimmt man diesen Satz als Maßstab, wie steht es dann um die Menschlichkeit der Welt?
Köhler: Es gibt Zeichen der Hoffnung.
ZEIT: Welche?
Köhler: Erstens die wirtschaftliche Entwicklung. Unter dem Strich wächst die Wirtschaft Afrikas seit zehn Jahren im Durchschnitt um über fünf Prozent. Es gibt in Afrika eine wachsende Mittelschicht.
ZEIT: Aber auf niedrigem Niveau!
Köhler: Natürlich, die Mittelschicht bemisst man dort zum Beispiel nach einem Pro-Kopf-Einkommen von zwei bis vier Dollar pro Tag. Man darf das nicht mit der Mittelschicht in Deutschland oder in den USA verwechseln. Aber die Afrikaner selber sehen hier einen Fortschritt. Auch politisch sehe ich mehr Positives. Es gibt in Afrika 54 Länder, von denen sich die meisten zu einer Demokratie entwickeln.
ZEIT: Es gibt allerdings regelmäßig furchtbare Rückschläge, zuletzt in der Elfenbeinküste. Findet Afrika wirklich aus dem Kreislauf von Armut, Krieg, Unterdrückung und Elend heraus?
Köhler: Meine Einschätzung ist: Ja, es braucht aber Zeit. Das ging den Europäern in ihrer Demokratiegeschichte nicht anders. Das Wichtigste sehe ich darin, dass die Afrikaner endlich sich wieder selbst entdecken. Bei vielen afrikanischen Gesprächspartnern war die Stimmung früher: Wir wollen Hilfe, weil wir arm sind, weil wir Hunger haben, weil wir Aids haben. In den letzten Jahren hat sich das verändert in den Wunsch, als Partner wahrgenommen zu werden. Manchmal höre ich auch: Das sind keine Hilfen, die wir erbitten müssen, das ist das Mindeste, was ihr geben müsst. Nehmt bitte zur Kenntnis, dass eure Politik als Kolonialmächte bis hin zur Phase des Ost-West-Konflikts einiges dazu beigetragen hat, dass wir jetzt in so einer schwierigen Situation sind.
ZEIT: Ein Appell an den Schuldkomplex des Westens.
Köhler: Es kann als Appell an den Schuldkomplex aufgefasst werden, aber für mich steht das im Zusammenhang mit einer zweiten Beobachtung: Die Afrikaner emanzipieren sich von Belehrungen von außen. Früher hatten alle »Helfer« einen fast moralischen Impetus, ob nun nationale Regierungen, die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds; da hieß es, wir wissen, was für euch gut ist: Freiheit, Marktwirtschaft, Demokratie...
ZEIT: ...Sozialismus!
Köhler: Ja. Heute entdecken die Afrikaner mehr und mehr, dass auch die »Helfer« nicht alle Antworten haben, und manchmal sogar die falschen. Unser Rat wird zwar nicht ignoriert, aber zunehmend kritisch hinterfragt. Das finde ich legitim, auch wenn uns dann kritische Fragen ins eigene Kontor schlagen.
ZEIT: Zum Beispiel, wie ernst es dem Westen mit Demokratie und Menschenrechten wirklich ist?
Köhler: Die Afrikanische Union hat einen Menschenrechtskatalog, der dem unseren sehr ähnlich ist. Es gibt universale Werte, das können Sie dort gut nachlesen. Aber es gibt Denker in Afrika, die sagen: Eure Demokratiemodelle sind für uns nicht sakrosankt. Wir wollen selbstbestimmt unsere Vorstellungen entwickeln. Ich habe mir als Bundespräsident mal eine Übersicht machen lassen, was es an eigenen Demokratievorstellungen in Afrika gibt. Eine ausgefallene Idee ist zum Beispiel ein Parlament, das aus drei paritätischen Gruppen besteht: Männern, Frauen, Jugendlichen. Man mag darüber lächeln. Wichtig ist aber, dass die Demokratie in Afrika aus der eigenen Anschauung und gesellschaftlichen Überzeugung erwächst.
ZEIT: Das Bemühen, Afrika helfen zu wollen, ist nicht neu. Die Not vielerorts ist geblieben. Kann es sein, dass unsere Hilfe nichts bewirkt?
Köhler: Ich bin nicht der Ansicht, dass die Hilfe nichts bewirkt hat. Aber sicherlich hat sie nicht das gebracht, was wir wollten und was man sich dort erhofft hatte. Denn mit dieser Unterstützung wurde eine neue Abhängigkeit geschaffen. Ein afrikanischer Gesprächspartner hat mir einmal gesagt: Wir müssen auch eigene Fehler machen können, um zu uns selber zu finden. Wir wollen mit euch zusammenarbeiten, aber ihr müsst begreifen, dass wir von euch Respekt für unsere eigenen Vorstellungen verlangen. Immer mehr afrikanische Präsidenten, zum Beispiel Paul Kagame in Ruanda, sind stark im Strukturieren und lassen sich von uns nicht mehr widerspruchslos belehren.
ZEIT: Kagame ist auch stark im Unterdrücken.
Köhler: Er regiert nach unseren Begriffen autoritär. Da kann und muss manches kritisiert werden. Ich würde Kagame aber nicht gleichsetzen mit Präsidenten in Afrika, mit denen der Westen lange gut zusammengearbeitet hat, obwohl man wusste, dass sie Diktatoren waren und/oder sich die eigenen Taschen durch Korruption gefüllt haben. Und Kagame fragt: Wer hat uns während des Genozids geholfen? Wenn Ruanda Öl gehabt hätte...
ZEIT: ...wäre der Westen da gewesen.
Köhler: So! Andere Beispiele: An der Überfischung afrikanischer Küstengewässer sind nicht nur Asiaten, sondern auch Europäer beteiligt. Oder: Korruption grassiert in Afrika noch immer mit maßgeblicher Beteiligung ausländischer Investoren. Oder: Die Agrarsubventionen der Industrieländer machen es den Afrikanern immer noch schwer, eine eigene Ernährungswirtschaft aufzubauen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Hauptverantwortung für Fortschritt auf dem afrikanischen Kontinent tragen die afrikanischen Regierungen. Die Liste der politischen und wirtschaftlichen Doppelstandards im Umgang mit Afrika ist aber lang. Ich sehe einen Fortschritt darin, dass immer mehr Intellektuelle und politische Führer in Afrika solche Doppelstandards nicht mehr hinnehmen wollen. Glaubwürdigkeit ist auch in der internationalen Politik eine unverzichtbare Ressource, um Vertrauen aufzubauen. Ein besonders guter Ruf Europas im Hinblick auf Glaubwürdigkeit ist mir in Afrika bisher nicht aufgefallen.
ZEIT: Der Westen engagiert sich jetzt in Libyen, obwohl er mit der Ölversorgung unter Gadhafi überhaupt keine Probleme hatte.
Köhler: Jeder Umsturz in Nordafrika hat seine Besonderheiten. Gemeinsam ist allen eigentlich nur ein Punkt: die Unzufriedenheit der jungen Leute wegen Perspektivlosigkeit. Man muss dabei wissen, dass in Afrika insgesamt rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung unter 30 Jahre alt sind. Die jungen Menschen auf der Suche nach Bildung, Arbeit und Einkommen sind nicht nur in Nordafrika ein revolutionäres Potenzial. 2007 war ich zu einem Staatsbesuch in Algerien. Die Studenten in Algier haben mir gesagt: Europa verschließt vor uns die Türen. Was soll aus uns werden? Wir haben keine Arbeit und keine Freiheit.
ZEIT: Als Folge des Arabischen Frühlings machen sich mehr Flüchtlinge auf den Weg als je zuvor. Wie empfinden Sie die Nachrichten von den vielen Toten, die auf dem Meeresgrund liegen?
Köhler: Jeder Mensch, der in einer solchen Nussschale über das Wasser will und ertrinkt, macht mich traurig. Aber genauso macht es mich wütend. Denn diese Meldungen gibt es ja nicht erst seit der arabischen Rebellion. Nur hat das bis dahin nicht viele in Europa besonders bewegt. Ja, man hat die Flucht nach Europa durch alle Arten von Zäunen erschwert, nicht zuletzt mithilfe von Oberst Gadhafi. Jeder Mensch, der aus purer Not solche Risiken eingehen muss und dann stirbt, ist für mich ein Verstoß gegen die Humanität. Europa, das sich rühmt, Humanität und Menschenwürde in die Welt gebracht zu haben, ist so kleinmütig.
ZEIT: Wären wir stark genug, mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
Köhler: Eine nachhaltige Lösung des Flüchtlingsproblems kann nur darin bestehen, dass die Menschen Arbeit und Einkommen in ihren Heimatländern bekommen. Aber natürlich wären wir auch stark genug, in der unmittelbaren Notsituation mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
ZEIT: Ohne dass populistische Bewegungen in Europa weiter anwachsen?
Köhler: Es wäre kein Selbstgänger. Aber wir können eindeutig mehr verkraften. Und wir können in Anbetracht unserer demografischen Entwicklung dabei sogar an uns selbst denken.
ZEIT: Warum ist Europa so kleinmütig?
Köhler: Europa ist in der Gefahr, sich selbst zu verraten. Die jetzige Situation zeigt, dass wir vor unseren eigenen Werten versagen und vielleicht auch zu wenig unsere langfristigen Interessen sehen.
Die Rebellion in Nordafrika ist die letzte Warnung, dass es uns mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Afrika wirklich ernst sein muss. Wir müssen begreifen, dass es in unserem ureigenen Interesse liegt, dass Afrika auf die eigenen Beine kommt. Hilfe ist eine Investition in unsere eigene Zukunft. Europa braucht Afrika für seine Rohstoffversorgung und künftige Wachstumsmärkte. Im Jahr 2050 wird es mehr als zwei Milliarden Afrikaner geben - vier mal so viele wie Europäer. Die Chinesen haben die neue Bedeutung dieses Kontinents längst erkannt.
ZEIT: Und Afrika reichlich ausgebeutet!
Köhler: Sie sind wacker dabei, ihren Nutzen zu ziehen. Die Afrikaner werden die Phase, dass sie vorzugsweise mit China zusammenarbeiten und Europa scheinbar nicht mehr brauchen, wieder überdenken. Wir sollten die bessere Partnerschaft anbieten.
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