Beitrag vom 14.08.2024
NZZ
In Tunesien droht ein Rückfall in die Zeit von Ben Ali
Präsident Kais Saied lässt seine Gegner von den Wahlen ausschliessen
Sarah Mersch, Tunis
Schon bevor Tunesiens Wahlbehörde die Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Oktober bekanntgegeben hatte, hagelte es Kritik aus der Opposition und der Zivilgesellschaft. Ihr Vorwurf: Die demokratischen Prinzipien seien nicht respektiert worden. Den Kandidierenden würden Steine in den Weg gelegt, der autoritäre Präsident Kais Saied nutze die Mittel seines Amtes, um seine Kandidatur voranzutreiben. Dass ausser Saied nur zwei weitere Politiker überhaupt zugelassen worden sind, bestätigte diese Ansicht.
Ursprünglich hatten mehr als hundert Personen die Anträge der Wahlbehörde abgerufen. Immerhin 17 reichten fristgemäss ihre Unterlagen ein. Doch die allermeisten seien nicht vollständig gewesen, sagte Farouk Bouasker, Vorsitzender der Wahlbehörde. Neben dem erforderlichen polizeilichen Führungszeugnis habe es oft an den notwendigen 10 000 Unterschriften von Unterstützern gefehlt.
Diese Bedingungen seien angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas kaum zu erfüllen, kritisierte Neila Zoghlami, die Vorsitzende des Tunesischen Verbandes Demokratischer Frauen. «Die Freiheiten sind eingeschränkt, der Staat übt Druck aus, die Tunesierinnen und Tunesier sind gespalten.» Ausserdem würden die Justiz und ein umstrittenes Gesetz gegen Internetverbrechen dazu genutzt, Kritiker mundtot zu machen. Das alles führe nicht dazu, «dass Leute überhaupt kandidieren wollen oder Unterschriften sammeln».
Gerupfte Opposition
Neben Amtsinhaber Saied wurden nur zwei Politiker zugelassen: Zouhair Maghzaoui, Vorsitzender der links-nationalistischen, panarabistischen Partei Watad, und der liberale Geschäftsmann Ayachi Zammel. Beide waren Mitglieder des Parlaments, das Saied 2021 bei seiner Machtübernahme kaltgestellt und später aufgelöst hat. Beobachter bezweifeln, dass sie dem Amtsinhaber gefährlich werden können. Magh- zaouis Partei hat Saied lange unterstützt und steht ihm ideologisch nahe. Nach der Kandidatur ihres Vorsitzenden erklärte sie, sie sei weiter für den 2021 eingeschlagenen Weg politischer Reformen in Tunesien.
In einer Videobotschaft äusserte Maghzaoui am Wochenende allerdings deutliche Kritik am Präsidenten. «Tunesien kann es sich nicht leisten, noch mehr Zeit mit dem Kampf gegen Windmühlen zu verlieren. Es ist nicht bereit, fünf weitere Jahre in den Labyrinthen der dunklen Hinterzimmer zu verbringen», sagte er in Anspielung darauf, dass Saied kaum kommuniziert und viele Entscheidungen hinter verschlossenen Türen gefällt werden. So entliess er kürzlich zum wiederholten Mal ohne weitere Erklärung seinen Regierungschef.
Weder Maghzaoui noch Mitbewerber Zammel verfügen über grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Andere Kandidaten, die grössere Chancen gehabt hätten, wurden gar nicht erst zur Wahl zugelassen. Unter ihnen ist der ehemalige Gesundheitsminister Abdellatif El Mekki, der früher Mitglied der konservativ-muslimischen Nahda-Partei war, sowie der Medienunternehmer Nizar Chaari.
Sie wurden im Eilverfahren wegen angeblicher Bestechung von Wahlberechtigten zu je acht Monaten Haft verurteilt. Ausserdem wurde ihnen auf Lebenszeit untersagt, bei Wahlen anzutreten. Sie hätten sich Unterschriften für ihre Kandidatur erschlichen, urteilte das Gericht. Ausserdem wurde Abir Moussi zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Vorsitzende einer Nachfolge-Partei des im Arabischen Frühling 2011 gestürzten Machthabers Zine El Abidine Ben Ali hatte sich in den Medien kritisch über die Wahlbehörde geäussert.
Auch der in Frankreich lebende frühere Minister Mondher Znaidi wurde abgelehnt. Er kündigte an, gegen die Entscheidung der Wahlbehörde in Berufung zu gehen. Obwohl seine Anwälte alle nötigen Unterlagen beigebracht hätten, habe sich das Innenministerium geweigert, ihm ein polizeiliches Führungszeugnis auszustellen, klagte er. Die Wahlbehörde habe die korrekt eingereichten und ausreichenden Unterschriften der Wahlberechtigten nicht akzeptiert.
Die vom Präsidenten kontrollierte Wahlbehörde habe der Bevölkerung die Entscheidung schon vor den Wahlen abgenommen, kritisierte Znaidi. Kais Saied versuche, für «eine neue fünfjährige Periode des Leidens, der Verzweiflung, der Frustration und des umfassenden Zusammenbruchs» gewählt zu werden. Zuvor hatten das Innenministerium und die Wahlbehörde jegliche Vorwürfe von sich gewiesen.
Der Diktator lässt grüssen
Der Professor für Verfassungsrecht Saied war im Herbst 2019 mit grosser Mehrheit gewählt worden. Im Juli 2021 rief er inmitten einer politischen, wirtschaftlichen und sanitären Krise in einer rechtlich umstrittenen Entscheidung den Notstand aus, entliess den Regierungschef und stellte das Parlament kalt. Seitdem hat er zunehmend Macht auf sich vereint. 2022 liess er in einem Referendum über eine neue Verfassung abstimmen. Neben Eingriffen in die Justiz hat er auch die ursprünglich unabhängige Wahlbehörde unter seine Kontrolle gebracht. Alle sieben Mitglieder wurden 2022 von ihm selbst ernannt.
Die Wahlbehörde sei eine Zeitmaschine, kommentierte der tunesische Journalist Sofien Ben Farhat. Sie agiere wie unter Ex-Machthaber Ben Ali. Dieser habe 1999 entschieden, den Wahlen «einen demokratischeren Anstrich zu verleihen, um die Kritiker zum Verstummen zu bringen. Er hat zwei seiner ‹Oppositionellen› überzeugt, die Komparsen zu spielen und zu kandidieren.» Dieses Szenario wiederhole sich jetzt mit Maghzaoui und Zammel, die Amtsinhaber Saied bewusst oder unbewusst ein demokratisches Alibi liefern würden.