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Beitrag vom 21.07.2016

Die Zeit/Christ und Welt 31/2016

Die Kraft der Dämonen

Hexen klingen nach Mittelalter. In Afrika und Asien sind sie Alltag, sagt der Wissenschaftler Henning Wrogemann

Christ&Welt: Herr Wrogemann, gibt es Hexen?

Henning Wrogemann: Unter religionswissenschaftlicher Perspektive ist das keine Frage, die man stellt. Hexerei ist eine soziale Realität, weil Leute daran glauben und sie sich dadurch als realitätsmächtig erweist. Es gibt Menschen, die sich als Hexen bezeichnen, und welche, die in anderen Hexen sehen.

C&W: Ich bin noch keiner Hexe begegnet.

Wrogemann: Wir leben in einer weitgehend säkularen Umwelt und rechnen wenig mit dem Eingreifen übernatürlicher Mächte. In Afrika und Asien, in den Gesellschaften, die ich seit über 20 Jahren bereise, ist Hexerei eine Alltagserfahrung. Ich war bei etlichen Exorzismen dabei. In Krisenregionen ist das Thema sehr bedrohlich, etwa im Ostkongo. Da gibt es viele tausend ehemalige Kindersoldaten, die alle zwangsrekrutiert, massenvergewaltigt und zum Töten gezwungen wurden. Zurückgekehrt, werden sie oft von ihren Familien verstoßen, weil sie sie für Hexen halten.

C&W: Wie kommen Menschen dazu, ihre Kinder als Hexen zu verstoßen?

Wrogemann: Worin der besondere Grund im Einzelnen besteht, muss sozialwissenschaftlich untersucht werden. Es gibt keine Generalschemata. Gewalt, Armut, HIV/Aids – das spielt alles eine Rolle.

C&W: Hexerei ist ein Mangelphänomen?

Wrogemann: Ganz bestimmt. Hexerei-anklagen betreffen meist die nächste Verwandtschaft oder Nachbarschaft. Da treten die meisten Konflikte auf, da greifen diese Vorwürfe. Aber auch in großen Städten gibt es nicht wenige Menschen, die fast schon eine ubiquitäre Angst vor dämonischen Kräften haben, weil sie nicht wissen, mit wem sie es in ihrer Umgebung zu tun haben.

C&W: Welchen Anteil haben die Kirchen an der Problematik?

Wrogemann: Die weltweite Pfingstbewegung mit ihren Vorstellungen von Dämonen verstärkt solche Wahrnehmungsmuster, wobei auch manche lutherische, reformierte, anglikanische oder katholische Gemeinden mittlerweile exorzieren. Das hat einen schlichten Grund: Würden sie keine Exorzismen anbieten, wie es die Pfingstler tun, liefen ihnen die Leute weg.

C&W: Was ist so schlimm am Versuch, Dämonen auf diese Weise loszuwerden?

Wrogemann: Mir wäre es als aufgeklärter Westeuropäer lieber, wenn die Leute ohne diese Deutungsschemata auskämen. Ich sehe, welche Ängste sie durchstehen. Und ich kenne Fälle, da werden Leute eben nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern zum Exorzisten. Manche dieser Menschen sterben, obwohl sie gerettet werden könnten. Das ist doch schlimm!

C&W: Was schlagen Sie vor?

Wrogemann: Das Phänomen lässt sich theologisch dekonstruieren. Die Bibel ist im Blick auf Dämonen ausgesprochen scheu. Wenn etwa versucht wird, durch Schlagen und Anketten zu exorzieren, muss man ganz klar sagen: Das gibt es in der Bibel nicht. Oder wenn lange Dialoge mit vermeintlichen bösen Geistern oder Dämonen geführt werden, um herauszufinden, wie sie heißen et cetera. Auch da würde ich sagen: Im Neuen Testament gibt es nur einen einzigen Dialog mit einem Dämonen, beim Besessenen von Gerasa. Der ist recht kurz und ziemlich sicher eine versteckte politische Anspielung auf die römische Besatzungsmacht. Die realen Konflikte löst die theologische Arbeit allerdings nicht. Deshalb bedarf es vor allem der Seelsorge.

C&W: Wenn Afrikaner Dämonen aus-treiben, nennen wir das irrational. Doch
es gibt ja auch im Westen Phänomene, die der Hexerei sehr ähnlich sind.

Wrogemann: Feng Shui, Homöopathie – der Markt ist weit. Auch der Segen im Gottesdienst geht von einer Macht aus, die nicht in Form von Vitamintabletten verabreicht wird oder durch eine therapeutische Sitzung, sondern durch das gesprochene Wort und den Gestus der ausgebreiteten Arme. Wir leben schwerpunktmäßig in der Logik der Naturwissenschaften, aber auch Europäer haben offene Ränder.

C&W: Jedes Jahr zur Fastnacht ver-kleiden sich viele Deutsche als Hexen.

Wrogemann: In den Sechzigerjahren, so erzählte mir meine Mutter, sind bei einem Bauern in der Nachbarschaft drei Schweine gestorben. Da beschuldigte die Bäuerin eine Frau aus dem Dorf, die Schweine mit ihrem bösen Blick getötet zu haben. Sie sei eine Hexe, hieß es. In den 1960er-Jahren in Niedersachsen! Doch Hexerei spielt hierzulande kaum noch eine Rolle. Darüber kann man nur froh sein. Es ist doch schrecklich, vor Dämonen Angst haben zu müssen. Da bin ich meilenweit entfernt von jeder Form des Romantizismus. Wir müssen die Unterschiede zwischen Europa, Afrika und Asien benennen, dürfen sie aber nicht essenzialisieren.

C&W: Also sind es schlicht verschiedene Erklärungsmuster für dasselbe Phänomen?

Wrogemann: Nein, was mir in Afrika oder Asien begegnet, ist in seiner Massivität nicht vergleichbar mit dem, was wir hier haben. Etwa die Vorstellung, dass Dämonen in meinem Körper sind. Sie sitzen in meiner Leber, in meiner Lunge, sie zerfressen meine Eingeweide. Ich schlafe nachts, aber mein dämonischer Doppelgänger geht in Gestalt eines Tieres aus mir heraus und zerfleischt Menschen. Oder: Ich bekomme etwas geschenkt, nehme es an und träume davon, dass der Schenker mir befiehlt, meine Familie zu töten.

C&W: Dann noch mal: Hexen und
Dämonen gibt es nicht?

Wrogemann: Diese Dinge spielen in meiner Lebenswelt keine Rolle. Es gibt Atmosphären, die lebenszerstörerisch wirken, von denen man gar nicht genau weiß, woher sie kommen, und die sich auch nicht erklären lassen. Wenn etwa Paul Tillich vom Dämonischen als einer transpersonalen Macht der Verführung spricht, die einer nicht einfach aus sich heraus erklärbaren Realität des Bösen Gestalt verleiht, würde ich sagen, ja, da ist eine Menge dran.

C&W: Was ist damit gemeint?

Wrogemann: Man muss sich doch fragen: Wie kann ein ganzes Volk, wie das deutsche Volk im Dritten Reich, zu solchen Grausamkeiten fähig sein? Individualpsychologisch kann ich ja nicht sagen: Jeder der Wachmänner in den Konzentrationslagern wurde von seiner Mama nicht gestillt. Das wäre Quatsch. Das Problem ist aber: Wenn man Dinge dämonologisch deutet, gibt man die Möglichkeit aus der Hand, sie durch eine andere Analyse zu lösen. Kurz: Ich brauche das Dämonologische, um die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu deuten. Gleichzeitig verhilft mir diese Deutung zu keiner praktisch umsetzbaren Alternative – es sei denn, die Bösen bekehren sich und legen ihr böses Tun ab.

C&W: Nehmen Sie solche Stimmungen in Deutschland aktuell wieder wahr?

Wrogemann: In Pegida sehe ich ein solches Phänomen. Da laufen nicht nur Leute mit, die am sozialen Rand leben. Viele sind gut situiert und lassen ihren Animositäten gegenüber Fremden freien Lauf. Hier eine dämonische Macht am Werk zu sehen würde allerdings bedeuten: Das Böse ist transpersonal und verführt Leute, in großem Maße Dinge zu tun, die sie nicht wollen. Da ist mir der christliche Sündenbegriff lieber. Wenn Menschen im nationalen Egoismus nur auf sich fokussiert sind, verweigern sie anderen Hilfe. Sünde ist mehr auf die Zielverfehlung des Einzelnen gerichtet.

C&W: Sollten wir also versuchen, Dresden freizubeten?

Wrogemann: Über eine ganze Stadt möge niemand urteilen. Abgesehen davon: Leute zur Vernunft beten zu wollen, aber ansonsten weiterzumachen wie bisher wird nicht funktionieren, solange nicht auch auf anderen Ebenen das Gespräch gesucht wird und Konflikte gelöst werden.

C&W: Haben Sie eine Lieblingshexe?

Wrogemann: Die kleine Hexe von Otfried Preußler. Weil sie eine Humanistin und Philanthropin ist. Und weil ihr letzter Akt darin besteht, die gesamte Hexerei abzuschaffen.

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Henning Wrogemann ist Professor für Interkulturelle Theologie und Missionswissenschaft in Wuppertal.