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Pour une autre politique de développement!

Beitrag vom 30.12.2015

Finanz und Wirtschaft (Schweiz)

Äthiopien ist hungrig auf weiteren Aufschwung

Wolfgang Drechsler, Kapstadt

Äthiopien ist eine Entwicklungsdiktatur nach chinesischem Vorbild. Dem wirtschaftlichen Fortschritt wird alles untergeordnet. Mit Erfolgen, doch der Weg aus der Armut ist noch weit. Ein Kommentar von Wolfgang Drechsler.

Eine endlose Blechlawine aus Tankzügen, Lastwagen und teuren SUV wälzt sich durch die verstopften Strassen von Addis Abeba. Wie in anderen Orten Afrikas ist der Verkehr auch in der rasant wachsenden Hauptstadt Äthiopiens chaotisch. Allerdings ist dort gerade ein kleines Wunder geschehen: Vor drei Monaten wurde zwischen dem Industriegebiet im Süden und dem Stadtzentrum der erste Streckenabschnitt einer neuen Metro in Betrieb genommen: die Light Rail Line. Es ist das erste städtische Nahverkehrssystem in Afrika südlich der Sahara, mit Ausnahme des Sonderfalls Südafrika. Sobald die zweite geplante Strecke steht, kann der Light Train bis zu 60’000 Menschen pro Stunde befördern. Getachew Betru, Chef der äthiopischen Staatsbahnen, ist überzeugt, dass die Metro auch finanziell ein Erfolg wird: «Statt uns auf die Ticketpreise und die üblichen Subventionen zu verlassen, investieren wir entlang der neuen Strecken vor allem in Immobilien», sagt er. Und deren Wert sei zuletzt kräftig gestiegen.

Nichts symbolisiert den Wirtschaftsaufschwung in dem Land, das im Westen lange Jahre mit Hunger und Not verbunden wurde, besser als die in nur drei Jahren für 475 Mio. $ aus dem Boden gestampfte Metro. Sie ist zu 85% mit chinesischem Geld finanziert und wird für die kommenden fünf Jahre von der Shenzhen Metro Group und der China Railway Engineering Corporation gemanagt. Chinesisches Geld ist auch in die Bahnstrecke geflossen, die von Addis Abeba zum Seehafen Djibouti am Horn von Afrika führt und in wenigen Monaten in Betrieb gehen soll. Sie soll die Transportzeit für Güter halbieren. Äthiopien ist ein Paradebeispiel für die neuen Hoffnungen für Afrika: Gelingt der Schritt zu dauerhaftem Wachstum und einem Anstieg der Lebensverhältnisse in einigen Ländern nach vielen enttäuschten Hoffnungen diesmal?

Mit gewaltigen Infrastrukturprojekten wie Bahnlinien und Strassen, Kraftwerken und Staudämmen ist ausgerechnet Äthiopien fast unbemerkt zum neuen Wachstumsstar des Kontinents avanciert. Die Volkswirtschaft wächst seit 2003 zwischen 8 und 10% pro Jahr. Der mit Macht vorangetriebene Ausbau der Infrastruktur hat inzwischen auch das Interesse ausländischer Unternehmen geweckt: Grosse Marken wie der Konsumgüterkonzern Unilever oder der Getränkehersteller Diageo haben in Äthiopien investiert. «Das Potenzial ist riesengross», schwärmt Mario Delicio, der für den deutschen Hersteller Krones seit Jahren Abfüllanlagen in Afrika baut und auch in Äthiopien aktiv ist.

Ein weiteres Prestigeprojekt ist der umgerechnet fast 4 Mrd. Fr. teure Renaissance-Staudamm, den das Land seit knapp drei Jahren am wasserreichen Blauen Nil nahe der Grenze zum Sudan baut. Er soll nach seiner Fertigstellung 2018 Äthiopien zum grössten Energieerzeuger in Afrika machen. Das Land will das Wasser fast ausschliesslich zur Stromgewinnung nutzen, um die Abhängigkeit von Rohölimporten zu reduzieren und Devisen zu erwirtschaften, mit denen der Umbau vom Agrar- zum Industriestaat finanziert werden soll.

Repressiver Staatskapitalismus

Seit dem Sturz des brutalen kommunistischen Militärregimes 1991 folgt Äthiopien strikt dem chinesischen Entwicklungsweg: so wenig Demokratie wie nötig, so viel Staatskapitalismus wie möglich. Das heisst aber auch, dass sich unter den 547 Parlamentariern inzwischen kein einziger Oppositioneller mehr befindet. Das Bündnis um die äthiopische Regierungspartei Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRFD) gewann bei den Parlamentswahlen vor sechs Monaten glatte 100%. Dabei hatte der äthiopische Premierminister Hailemariam Desalegn, der seit 2012 regiert, zu Beginn seiner Machtübernahme versprochen, das politische System zumindest einen Spalt breit zu öffnen. Das Gegenteil ist der Fall. «Das politische Umfeld ist sehr repressiv, es gibt kaum Pluralismus», resümiert Jason Mosley von der Londoner Denkfabrik Chatham House. Der Fokus der Regierung liege allein auf dem wirtschaftlichen Vorankommen. Äthiopien ist eine Entwicklungsdiktatur.

In nur zehn Jahren ist der hinter Nigeria bevölkerungsreichste Staat des Kontinents (mit 96 Mio. Einwohnern) zur fünftgrössten Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufgestiegen. Addis Abeba ist zugleich Sitz der Afrikanischen Union (AU). Obwohl Äthiopien trotz des Aufschwungs des Pro-Kopf-Einkommens weiterhin zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, wird es international heftig umworben: Auch für die USA ist es wegen seiner Nähe zum Nahen Osten ein wichtiger Partner in Sicherheitsfragen. Kein Wunder, dass Präsident Barack Obama bei seiner Afrika-Visite vor sechs Monaten neben der kenianischen Heimat seines Vaters nur noch Äthiopien seine Aufwartung machte.

Symbol für den Höhenflug ist neben der Metro auch die staatliche Fluggesellschaft Ethiopian Airlines, die derzeit alles daransetzt, der grösste Carrier in Afrika zu werden. Mit 77 Flugzeugen hat sie bereits die umfangreichste Flotte des Kontinents. Gemessen an der Zahl der Passagiere (davon viele aus China) schliesst sie mit 6 Mio. (2014) fast auf zu Egypt Air und South African Airways (SAA) mit je rund 7 Mio.

Kaffee und Blumen

Doch bei allen Erfolgen in den vergangenen Jahren hat das Land auch mit Problemen zu kämpfen. Eigentumsrechte sind oft ungeklärt, was Investoren abhält. Und ohne ein schnelleres Wachstum seiner Industrieproduktion wird Äthiopien kaum all die Arbeitskräfte absorbieren können, die im Zuge der mit aller Macht vorangetriebenen Modernisierung der Landwirtschaft aus dem Agrarsektor fallen. Dieser beschäftigt noch rund drei Viertel der Bevölkerung. Derzeit befeuert vor allem der Agrarsektor das Wachstum und bringt rund 80% des Exporterlöses ein. Der einstige Hungerstaat ist zum Selbstversorger geworden, exportiert gar mehr Lebensmittel, als für die Ernährung der Bevölkerung importiert werden müssen – in Afrika eine Sensation.

Neben Kaffee verspricht vor allem der Export von Blumen hohe Zuwachsraten. Allein 2014 exportierte Äthiopien Schnittblumen im Wert von 250 Mio. $, rund 8% seiner Gesamtexporte. Zu diesem Zweck verpachtet die Regierung Flächen an ausländische Unternehmen, vor allem aus den Niederlanden. Inzwischen werden auf den Farmen um Addis Abeba jedes Jahr rund 2,5 Mrd. Rosen geschnitten, die bis zu zwölf Stunden in Kältekammern gelagert und dann per Flugzeug in Europas Supermärkte gebracht werden. In Europa sind solche Dimensionen längst nicht mehr möglich

Allerdings sind einige der Erfolgsgeschichten nur durch die Zwangsumsiedlung von Kleinbauern möglich gewesen. Die Agrarkonzerne aus Indien und China, Südkorea und dem arabischen Raum brauchen Platz. Menschenrechtler prangern die billige Verpachtung als moderne Form der Kolonisierung an. Die Regierung in Addis Abeba verweist im Gegenzug auf die erheblich höhere Produktivität der kommerziellen Farmer. Ohne die Modernisierung der Landwirtschaft könne die Bevölkerung, die 3% im Jahr wächst, nicht ernährt werden, heisst es.

Die Regierung will Äthiopien binnen weniger Jahre vom Agrarstaat in die Moderne katapultieren. Doch kann ein solcher Sprung gelingen? Razia Khan, Leiterin der Afrika-Abteilung der Bank Standard Chartered, beschreibt die Struktur der äthiopischen Wirtschaft als stark «ausgehöhlt». Dem Land fehle die Mittelklasse als Arbeiter wie als Konsumenten für das angestrebte Wachstum. Obwohl sich der Anteil derjenigen Äthiopier, die von mehr als 10 $ am Tag leben, zwischen 2004 und 2014 verzehnfacht hat, fallen noch immer kaum mehr als 2% der Gesamtbevölkerung in diese Gruppe. Schon deshalb bleibt Äthiopien trotz aller Erfolge ein ambivalentes Entwicklungsmodell: Sollte die Regierung in Addis Abeba nicht bald politische Reformen und mehr Pluralismus zulassen, könnte sie am Ende die Chance verspielen, zu einem echten Vorbild für Afrika zu werden.