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Beitrag vom 01.04.2024

NZZ

Vom Kakaoexportland zum Schokoladenland – zwei Unternehmer in Côte d’Ivoire und ihr Traum

Aus Côte d’Ivoire stammt die Hälfte des weltweiten Kakaos, aber Schokolade wird kaum vor Ort produziert. Deshalb haben ein europäischer Händler und ein afrikanischer Diplomat ein lokales Schokolade-Startup gegründet – obwohl vieles dagegen spricht.

Samuel Misteli

Kann aus ihnen noch in Afrika Schokolade werden? Kakaofrüchte in Côte d'Ivoire.
Kann aus ihnen noch in Afrika Schokolade werden? Kakaofrüchte in Côte d'Ivoire.
Knapp vor sieben Uhr morgens rollt ausserhalb der Millionenmetropole Abidjan ein SUV über die Autobahn. Draussen verschwimmt die grüne Tropenlandschaft im Dunst, drinnen bläst die Klimaanlage.

Im Auto sitzt ein ungleiches Duo. Julien Marboeuf und Alain Porquet besuchen zusammen eine Kakaoplantage. Der Franzose Marboeuf ist 43 Jahre alt und war bis vor kurzem Chef von 700 Mitarbeitern bei einer Handelsfirma. Der Ivoirer Porquet, 51, war einst Diplomat im Dienst der Regierung. Weil er das auf Dauer zu dröge fand, ist er mittlerweile vor allem Unternehmer.

Aus den Lautsprechern tönt ein Lied von Fela Kuti, einem verstorbenen nigerianischen Musiker, der gegen die Regierung sang und für die Befreiung Afrikas. Porquet singt mit, er wackelt im Takt. Marboeuf kennt Fela Kuti nicht.

Seit wenigen Wochen sind sie Geschäftspartner. Am Tag zuvor hatten sie ein Treffen mit möglichen Investoren. Marboeuf kam im Anzug. Porquet trug einen pinkfarbenen Hut.

Julien Marboeuf sagt: «Ich bin der, der die Träume umsetzt.»

Der Traum: erstklassige Schokolade herstellen, in einem afrikanischen Land, das zwar der mit Abstand grösste Kakaoproduzent der Welt ist, aber 70 Prozent der Ernte unverarbeitet als Bohnen exportiert.

Daher haben Porquet und Marboeuf das Startup Cocoaïans gegründet. Sie wollen aus dem Kakaoexportland Côte d’Ivoire eine Schokoladennation machen. Sie nennen es eine Revolution. Für Julien Marboeuf geht es dabei um Wertschöpfung und Lieferketten, für Alain Porquet um Nationalstolz.

Afrikas Grundübel

Côte d’Ivoire erntet jährlich mehr als 2 Millionen Tonnen Kakaobohnen. Das sind 45 Prozent der weltweiten Produktion. Fast 6 Millionen Menschen in Côte d’Ivoire sind abhängig von der Kakaoproduktion. Viele von ihnen sind Kleinbauern, die auf winzigen Flächen anbauen.

Weil Côte d’Ivoire den grössten Teil seiner Kakaoproduktion fast unverarbeitet exportiert, findet die Wertschöpfung anderswo statt. Zum Beispiel in europäischen Fabriken, die ivoirische Bohnen zu Kakaomasse, -butter und -pulver verarbeiten, um sie dann an Schokoladehersteller zu verkaufen. In Côte d’Ivoire bleiben nur 7 Prozent der Einnahmen aus dem Kakaogeschäft. Die Hälfte der Kakaobauern im Land lebt laut der Weltbank unter der Armutsgrenze, Kinderarbeit ist noch immer ein Problem. Das alles, obwohl der Kakaopreis gerade rekordhoch ist.

Es ist das wirtschaftliche Grundübel in Afrika. Der Kontinent verfügt über Rohstoffe wie Erdöl, Gas, Kaffee, Baumwolle, Gold, Diamanten und über Mineralien, die für die Energiewende entscheidend sind. Die Primärprodukte werden in Afrika ausgegraben, abgesaugt, gepflückt. Verarbeitet werden sie in anderen Ländern.

Julien Marboeuf und Alain Porquet wollen mithelfen, das zu ändern. Indem sie Schokolade machen.

Der Agronom mit der Methode

Es begann damit, dass Alain Porquet sich ärgerte. Nachdem er als Diplomat in Genf und New York gelebt hatte, kam er 2012 nach Côte d’Ivoire zurück und sah, wie abhängig Millionen seiner Landsleute von den Kakaoexporten sind. Er sagt, er habe es als «demütigend» empfunden, dass Kakaohändler ivoirische Bohnen aus dem Land transportierten, um diesen dann mithilfe chemischer Verfahren die Bitterkeit, aber auch die Eigenaromen zu entziehen.

Porquet machte es sich zum Hobby, durchs Land zu fahren, Bauern zu besuchen und ihre Bohnen zu degustieren. Er begann, sich mit Agronomen auszutauschen. 2019 lernte er Albertus Eskes kennen, einen pensionierten Niederländer, der in Brasilien lebt, seit Jahrzehnten mit Kakaobohnen tüftelt und Bücher geschrieben hat mit Titeln wie «Phänomenaler Kakao». Eskes hat eine Fermentationsmethode erfunden, die die natürlichen Aromen des Kakaos bewahrt und gleichzeitig verhindert, dass die Bohnen bitter werden. Eine Methode, die die Prozesse in der Fabrik überflüssig macht. Eskes nennt sie «Anima».

Alain Porquet nennt Eskes seinen Mentor. Er sagt: «Der Typ ist eine Legende.» Porquet war davon überzeugt, dass es mit Eskes’ Methode möglich sein müsste, in Côte d’Ivoire hochwertige Schokolade herzustellen. Mit Julien Marboeuf holte er sich jemanden an die Seite, der sich im Kakaogeschäft auskennt.

«Weicher Geschmack, wie Blütenwasser»

Es ist Mittag, als Porquet und Marboeuf auf der Plantage ankommen, sie liegt in der Nähe der Stadt Gagnoa im Südwesten des Landes. Die Fahrt hat fünf Stunden gedauert, die Sonne knallt durchs Blätterdach der Kakaobäume.

Porquet setzt sich auf einen Holzbalken, neben ihm liegen ein Dutzend gelber Kakaofrüchte. Er greift sich eine der Früchte, bricht sie auf, hält sie sich an die Nase. Er schnüffelt ein paar Sekunden, verschliesst die Frucht wieder. «Weicher Geschmack, wie Blütenwasser», sagt er.

Julien Marboeuf steht daneben, auch er degustiert: «Diese hier riecht nach Zitrus, die andere ist sehr süss. Die dritte säuerlich.»

Porquet und Marboeuf kaufen den Kakao von einer Kooperative. Ein paar Bauern haben sie zu einer Art Sommeliers ausgebildet. Denn die Anima-Methode beruht darauf, die Bohnen während der Fermentierung täglich zu degustieren. Bis der gewünschte Geschmack vorhanden ist, dauert es drei bis fünf Tage. Die Fermentierung findet nicht in einer Fabrik statt, sondern in einem Dutzend Holzboxen in einem Wellblechverschlag. Es ist ein Anfang.

Die Bauern fanden das penible Prozedere anfänglich seltsam. Sie waren es gewohnt, einfach ihre getrockneten Bohnen an die Mittelsmänner der Industrie zu verkaufen. Julien Marboeuf sagt, es helfe beim Überzeugen, dass sie leicht höhere Preise bezahlten als die Industrie.

Es hilft auch, dass Alain Porquet reden kann wie ein Pastor. Nach dem Rundgang über die Plantage versammelt er die Arbeiter um sich. Er erzählt ihnen von Thomas Sankara, einem jungen Präsidenten im Nachbarland Burkina Faso, der in den 1980er Jahren versuchte, einen Wandel herbeizuführen, indem er die lokale Produktion stärkte.

Währenddessen wartet Julien Marboeuf ungeduldig beim Auto. Er muss sich an seine neue Rolle gewöhnen. Denn die Bauern fanden zu Beginn nicht nur die neue Methode seltsam, sondern auch, dass sich hier plötzlich einer blicken liess, der zuoberst in der Industrie gearbeitet hatte. «Als Generaldirektor bist du in Côte d’Ivoire wie ein Gott», sagt Marboeuf.

Der Direktor quittiert den Job

Julien Marboeuf kam vor neun Jahren nach Côte d’Ivoire. In die Kakaobranche kam er zufällig. Ursprünglich war er Ingenieur. Er stieg auf zum Länderchef von Ecom, einer Firma mit Sitz in der Westschweiz, die zu den grössten Kakaohändlern der Welt gehört.

Marboeuf ist keiner, der überstürzt entscheidet. Als er im Herbst 2023 Alain Porquet kennenlernte, dachte er seit längerem darüber nach, etwas Eigenes zu versuchen. Ein Schokoladenprojekt, das die Wertschöpfung vor Ort steigern würde, war genau das Richtige. Dann trafen sie sich, und Porquet erzählte von der Schokolade, die er produzierte. «Alain redete und redete, und ich dachte: jaja», sagt Marboeuf. «Dann probierte ich seine Schokolade.»

Er erwartete, dass sie bitter und mehlig schmecken würde, wie andere Schokoladetafeln, die er in Côte d'Ivoire probiert hatte. «Aber sie war zuerst fruchtig, dann cremig. Sie war, anders als Schokolade mit künstlichen Aromen, auch nicht zu süss.» Einige Wochen später kündigte er seine Stelle in der Industrie.

Um bei Cocoaïans mitzumachen, hat Marboeuf einen Teil seiner Altersrente vorbezogen. Vorerst verdient er keinen Lohn. Er gibt sich ein Jahr, bis dann müssen genug Investoren an Bord sein.

Der Konditor, der auch Fabrikleiter ist

Zwei Tonnen Schokolade hat Cocoaïans im vergangenen Jahr produziert. Sie entsteht im Bushman Café, einem Restaurant und kleinen Hotel in Abidjan, das Porquet gehört. Auf der Dachterrasse spielen DJ und Bands für junge, gutaussehende Menschen. Die Wände und Zimmer in den zwei Etagen darunter sind voll mit westafrikanischem Kunsthandwerk und Botschaften wie: «Unsere Zukunft ist Mutter Afrika.» Dazu überall hingepinselt: Kakaoblüten.

Gleich neben dem Eingang ist ein Pop-up-Café, in dem die Schokolade verkauft wird. Hergestellt wird sie einige Meter weiter in einer kleinen Küche. In einer Ecke rieseln Kakaostücke durch eine Mühle. In einer anderen pflücken zwei Arbeiterinnen in Schürzen und Hauben die Schalen von gerösteten Bohnen. Dazwischen streicht eine andere Arbeiterin flüssiges Caramel in Formen.

Koordiniert wird das alles vom Chocolatier Mustapha Akougbe. Alle paar Minuten stürzt er ins Café, um zu überprüfen, ob die Vitrine mit den Schokoladekreationen noch ausreichend gefüllt ist.

Akougbe ist wegen Cocoaïans nach Abidjan gezogen. Er wuchs in Paris auf, als Sohn einer ivoirischen Mutter. Als Kind stand er gern in der Küche und buk Kuchen. Die Mutter fand das seltsam. In afrikanischen Familien taten das höchstens Mädchen. Als Jugendlicher setzte Akougbe durch, eine Konditorenschule besuchen zu dürfen. Er hatte Talent und fand Arbeit in Pariser Sternerestaurants und im «Ritz» in London. Eine Weile arbeitete er im Buckingham Palace. Seltsam sei das gewesen, sagt er. Er habe sich, ausgerechnet im Palast, eingeengt gefühlt.

Nun steht er in einer kleinen Küche in Abidjan, umgeben von einem halben Dutzend Arbeiterinnen, denen er beibringt, Pralinés zu formen. Manchmal fühlt er sich dabei sehr europäisch. «Die Mentalität ist anders hier», sagt er. «Ich kann nicht einfach sagen: So haben wir das in Europa gemacht, und so machen wir das jetzt auch hier. Es braucht Geduld.» Manchmal verliert er sie. Er geht dann für ein paar Minuten an die frische Luft.

Auch Akougbe ist Teil von Porquets Traum: einer, der zurückkommt, um sein Wissen zu teilen. Denn dass die Kakaoindustrie die Bohnen unverarbeitet exportiert, liegt auch daran, dass es vor Ort zu wenig gut ausgebildete Leute gibt. Leute wie Mustapha Akougbe.

Die Geschichte vom Winzer im Burgund

Bei allem Optimismus – die Hürden für Cocoaïans sind hoch. Das hat mehrere Gründe.

Erstens: Ivoirer essen kaum Schokolade. Laut Schätzungen pro Person und Jahr nur rund fünf Tafeln. Womöglich kommen sie auf den Geschmack. Aber bis jetzt ist der Markt winzig, gerade für Gourmetschokolade mit hohem Kakaoanteil wie die von Cocoaïans.

Zweitens: Porquet und Marboeuf wollen exportieren – vor allem nach Europa, wo die Nachfrage nach hochwertiger, in kleinen Betrieben produzierter Schokolade steigt. Doch Schokolade darf beim Transport nicht zu heiss und feucht werden. Sie aus dem tropischen Klima von Côte d’Ivoire nach Europa zu bringen, ist nicht einfach. Zudem ist die Konkurrenz gross. Allein in der Schweiz gibt es zehn Manufakturen. So stellt zum Beispiel die Zürcher Firma Garçoa ihre Schokolade mit einer ähnlichen Methode wie Cocoaïans her.

Drittens: Der Kakaomarkt ist turbulent. Der Preis hat sich seit Anfang Jahr mehr als verdoppelt. Das liegt daran, dass die Ernte in Côte d’Ivoire und Ghana, den beiden wichtigsten Herkunftsländern, in letzter Zeit wegen starker Regenfälle schlecht war. Für die Industrieriesen wie Mars oder Barry Callebaut ist das Problem zwar grösser als für Cocoaïans. Aber die Ernteausfälle treffen auch das Startup.

Trotz allen Widrigkeiten machen Porquet und Marboeuf weiter. Sie planen bereits eine grössere Produktionsstätte. Sie können auf die Hilfe der ivoirischen Regierung zählen. Diese will 1,6 Milliarden Dollar in die Kakaoindustrie stecken, um die Wertschöpfung vor Ort zu fördern.

Marboeuf hat eine gute Geschichte, die er der Regierung erzählen könnte, um an die Subventionen zu gelangen. Die Geschichte spielt nicht in Afrika, sondern in Europa und handelt von Henri Jayer, einem Winzer im Burgund. Dieser begann Mitte des 20. Jahrhunderts auf einem felsigen Weinberg, der nur eine Hektare gross war, Wein herzustellen. Er wandte eine Methode an, die auf Chemie verzichtete. Viele belächelten ihn. Aber der Wein war ausgezeichnet. Er zählt heute zu den begehrtesten und teuersten der Welt.