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Beitrag vom 28.12.2023

Handelsblatt

Was der Fall Nigerias über den Zustand Afrikas verrät

Noch vor zehn Jahren galt Nigeria als ökonomischer Hoffnungsträger. Heute steht die größte Volkswirtschaft Afrikas exemplarisch für die Perspektivlosigkeit eines ganzen Kontinents.

Wolfgang Drechsler

Kapstadt. Es war eine besonders brutale Attacke islamistischer Milizen: Bewaffnete Gruppen attackierten Weihnachten 20 mehrheitlich von Christen bewohnte Dörfer im nigerianischen Bundesstaat Plateau, mindestens 160 Menschen wurden dabei getötet.

Wie bereits zuvor bei ähnlichen Attacken versagte das Militär: Die ersten Soldaten tauchten erst nach zwölf Stunden am Tatort auf, obwohl die Staatsgewalt der Bevölkerung seit Jahren einen gnadenlosen und effizienten Feldzug gegen die Islamisten verspricht.

In den betroffenen Gebieten kam es nach dem Massaker zu spontanen Demonstrationen gegen die Regierung. Gouverneur Caleb Mutfwang versicherte den wütenden Demonstranten zwar, man werde noch in den letzten Tagen des Jahres Maßnahmen zur Eindämmung der Attacken auf unschuldige Zivilisten ergreifen.

Doch die wenigsten dürften ihm Glauben schenken: Ankündigungen zur Beendigung islamistischer Gewalt gab es in den vergangenen Jahren immer wieder, tatsächlich passierte kaum etwas. Islamistische Gruppen töteten in den letzten Jahren Zehntausende Menschen, vertrieben Millionen.

Die zunehmende Gewalt sorgt für Angst und Schrecken, vertreibt Menschen aus ihren Heimatregionen und vertreibt internationale Investoren. Die Folgen sind längst spürbar: Während die Bevölkerung rapide wächst, lahmt die Wirtschaft. Und die Staatsverschuldung erreicht immer neue Höhen.

Es ist der Absturz eines Landes, dem Ökonomen noch kürzlich eine dynamische Entwicklung vorausgesagt hatten. Als Nigeria vor zehn Jahren Südafrika als die bis dahin größte Volkswirtschaft Afrikas überholte, wurde der westafrikanische Ölstaat von vielen Analysten rasch zum neuen Hoffnungsträger des Kontinents erklärt.

Doch nach acht Jahren unter dem im Mai abgetretenen Staatschef Muhammadu Buhari (81) und angesichts der immer stärkeren kriminellen wie religiös motivierten Gewalt wurde ebenso rasch deutlich, dass der Wachstumstraum zerschellt ist. Heute steht der mit 220 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Staat Afrikas am Abgrund.

Das politische System ist von Korruption zerfressen – es ist ein System, in dem einige wenige sehr schnell reich werden, während die allermeisten bitterarm bleiben.

In Nigeria zeigen sich wie unter einem Brennglas die Probleme des Kontinents. Das Vorrücken des Dschihadismus und zunehmende politische Unsicherheit vertreiben Investoren aus immer mehr Staaten. Noch immer entfallen lediglich 3,5 Prozent der globalen ausländischen Direktinvestitionen und weniger als drei Prozent des gesamten Welthandels auf Afrika.

Während allein der kleine asiatische Stadtstaat Singapur im vergangenen Jahr 195 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen verzeichnete, war es in ganz Afrika nicht einmal ein Viertel davon.

„In keiner einzigen afrikanischen Volkswirtschaft ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen seit 2018 gestiegen“, resümiert Ruchir Sharma, Vorsitzender von Rockefeller International, in der „Financial Times“. Noch deprimierender: Die Hälfte der 54 Länder verzeichnete in diesem Zeitraum ein sinkendes Pro-Kopf-Einkommen, darunter auch die beiden größten Volkswirtschaften südlich der Sahara: Nigeria und Südafrika.

Noch vor zehn Jahren hatte der von China befeuerte Rohstoffboom Wachstumsschübe ausgelöst, doch damit ist es vorbei. Eine Reihe von Militärputschen im Sahel, dem gleich an Nigeria angrenzenden Südsaum der Sahara, hat vielerorts für tiefe Ernüchterung gesorgt.

Politische Beobachter sprechen bereits wieder vom „verlorenen Kontinent“, gefangen in einer politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen allein durch eine kurze Phase des Rohstoffbooms.

Dabei hat sich die Abhängigkeit nahezu aller afrikanischen Staaten von nur einem einzigen Rohstoff als verhängnisvoll erwiesen. In Nigeria und Angola geht es um Öl, im Kongo und in Sambia um Kupfer, in Botswana um Diamanten. Es war diese einseitige Ausrichtung, die den Aufbau einer breiten industriellen Basis verhinderte. Als Folge sind sowohl die chinesischen Auslandsinvestitionen wie auch die privaten Direktinvestitionen inzwischen weitgehend versiegt.

Oft fehlen Projekte, die über den schlichten Abbau von Rohstoffen hinausgehen, klagen interessierte Investoren. Auch erweisen sich die massiven Staatsschulden als immer größere Bürde. Deren Finanzierungskosten werden durch die stark gestiegenen Zinsen weiter in die Höhe getrieben.

Um in diesem Umfeld ein weiteres Anwachsen der Armut zu verhindern, müsste etwa die Wirtschaftsleistung Nigerias ebenso stark wachsen wie seine Bevölkerung, also um 3,2 Prozent pro Jahr. Mit durchschnittlich 5,3 Kindern pro Frau und insgesamt 7,5 Millionen Geburten im Jahr werden inzwischen mehr Babys geboren als in der gesamten Europäischen Union. Laut Greg Mills von der Johannesburger Brenthurst Foundation müsste Nigerias Wirtschaftswachstum, wie einst das von China, mehr als zwei Jahrzehnte Raten von zehn bis 15 Prozent erreichen. Stattdessen herrscht Stagnation.

Vielerorts stehen Regierungen wie jetzt in Kenia vor der schwierigen Wahl, ob sie die Gehälter ihrer Staatsbeamten zahlen oder die Milliardenkredite des Staatshaushalts bedienen. Als Folge der zunehmenden Perspektivlosigkeit wachsen die politischen Unruhen, zuletzt etwa am Sahel.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bietet noch immer den besten Anhaltspunkt, um Wohlstand und Entwicklung zu messen: War das BIP in den 48 Ländern südlich der Sahara noch 2014 auf den im Weltvergleich eher niedrigen Rekordstand von 1950 Dollar pro Kopf gestiegen, ist es seitdem über zehn Prozent auf etwa 1700 Dollar gefallen. Und dies, obwohl es im gleichen Zeitraum weltweit um 15 Prozent gestiegen ist.

Selbst nach Ansicht der sonst in puncto Afrika stets optimistischen Weltbank deutet inzwischen vieles darauf hin, dass der ärmste Kontinent vor einer weiteren verlorenen Dekade steht. Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass einem großen Teil der Afrikaner bereits jetzt weniger als zwei Dollar am Tag (die afrikanische Armutsgrenze) zur Verfügung stehen und Afrikas kleine Mittelklasse als extrem abstiegsgefährdet gilt.

Konsumgüterhersteller wie Nestlé oder Unilever haben längst erkannt, wie schnell diese Gruppe bei wirtschaftlichen Schocks schrumpft – und dass der afrikanische Markt keineswegs viele neue potenzielle Kunden birgt, sondern in erster Linie politischen Zündstoff.

Ein aktueller Bericht der Weltbank geht davon aus, dass Afrikas Wirtschaftswachstum selbst auf lange Sicht „nicht ausreicht, um die extreme Armut zu lindern und den Wohlstand signifikant zu stärken“. Das gilt umso mehr, als Nigeria, die größte Volkswirtschaft des Kontinents, auf lange Sicht als Wachstumstreiber ausfallen wird.