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Beitrag vom 04.07.2023

NZZ

Kriegerische Frauen auf dem Thron

Der Sudan galt in der Archäologie lange als Anhängsel Ägyptens. Mehr als 200 Pyramiden und sehr viel Gold zeugen von einer eigenständigen Geschichte. Der Bürgerkrieg bedroht jetzt diese Kulturgüter.

VON ESTHER WIDMANN

«Es war ja zu befürchten», schreibt Angelika Lohwasser in einer Mail Ende Mai. Die Ägyptologin von der Universität Münster kommentiert darin eine Nachricht aus dem Sudan: Das Nationalmuseum in Khartum ist beschädigt worden. Einen Monat zuvor hatte in dem Land der bewaffnete Kampf zwischen zwei Militärführern und ihren Soldaten, den Sudanese Armed Forces (SAF) auf der einen Seite und den Rapid Support Forces (RSF) auf der anderen, begonnen. Jetzt bestätigt sich, was Lohwasser und viele andere Archäologinnen befürchtet haben: Teile des reichen kulturellen Erbes des Landes könnten im Zuge des Konflikts zerstört werden.

In den beschädigten Gebäuden des Nationalmuseums waren zwei ägyptische Tempel ausgestellt. Wenige Tage später eine weitere Hiobsbotschaft: Kämpfer der RSF haben offenbar das Museum besetzt. In einem Video in den sozialen Netzwerken ist zu sehen, wie sie durch ein Labor streifen, vorbei an geöffneten Kisten mit Mumien.

Die ägyptischen Tempel und Mumien in Khartum sind, anders als in vielen Museen auf der Welt, nicht Kulturgüter aus einem anderen Land. Sie stammen aus dem Sudan selbst. Denn Teile des heutigen Staatsgebiets gehörten jahrhundertelang zum ägyptischen Reich. Mehr noch: Etwa hundert Jahre lang sassen auf dem ägyptischen Thron Könige, die aus dem heutigen Sudan stammten. Zur Geschichte des Landes gehören aber auch jahrtausendealte Felsbilder, mehr als 200 Pyramiden, kriegführende Königinnen und Gold, Gold, Gold.

Das antike Nubien
Gold ist jedenfalls das, was die meisten Ägyptologen heute mit dem Sudan verbinden, mit gutem Grund. «Nub» ist das altägyptische Wort für das Edelmetall, und Nubien hiess das Land, aus dem es kam: das Gebiet südlich des 1. Nilkataraktes, einer von insgesamt sechs Stromschnellen zwischen Assuan und Khartum. Phasenweise war Nubien Teil des ägyptischen Reiches, aber auch ausserhalb dieser Phasen war der heutige Sudan wichtig für den Handel mit exotischen Waren aus Afrika. Nubische Söldner dienten in der ägyptischen Armee, ägyptische Könige bauten Tempel in Nubien. Niemand bestreitet, dass es enge Verbindungen zwischen den beiden Regionen gab.

Aber diese Verbindungen versperren der archäologischen Forschung manchmal auch ein bisschen die Sicht. Das nubische Gold mag zum grossen Teil nach Ägypten verschwunden sein. Aber der Sudan ist, archäologisch betrachtet, eben kein blosser Ableger des strahlenden und blendenden nördlichen Nachbarn, sondern eine Region mit eigenständiger Entwicklung, mit Königreichen und Städten, mit Industrie und Kultur und Religion. Das steht fest, auch wenn sonst noch sehr viele Fragen offen sind.

Wenn man Angelika Lohwasser fragt, was sie an der Sudanarchäologie so toll finde, dann antwortet sie, es sei genau das: dass hier wirklich noch fast alles neu und unerforscht sei. «Auch wenn das bedeutet, dass man in einem Jahr formulierte Forschungsergebnisse vielleicht nach der nächsten Ausgrabung schon wieder umschreiben muss», sagt sie.

Aus finanziellen Gründen sind es in der Regel ausländische Archäologinnen und Archäologen, die im Sudan dieses Neuland beschreiten, vor allem im Norden des Landes und entlang des Nils. Eine Ausnahme ist Jebel Moya, 250 Kilometer südlich von Khartum. Es ist das grösste bekannte Gräberfeld afrikanischer Hirtengruppen südlich der Sahara. Die ersten Toten wurden hier um 5000 v. Chr. bestattet, insgesamt sind es mehr als 3100 Individuen.

Dann sind da in den Fels geritzte Bilder in der Wüste zu beiden Seiten des Nils. Die ältesten entstanden vor etwa 5500 Jahren, sie zeigen eine Welt voller Giraffen, Löwen, Nashörner, Leoparden und Antilopen und Strausse, Zeugen einer Periode wesentlich feuchteren Klimas in diesem Teil der Welt.

Die grüne Wüste war längst Geschichte, als sich im 17. Jahrhundert v. Chr. ein Staat südlich von Ägypten bildete: das Reich Kusch. Sein Zentrum war die Stadt Kerma, die seit den 1970er Jahren von Archäologen der Universität Genf erforscht und ausgegraben wird. Dadurch wissen wir, dass die Stadt Verteidigungsanlagen hatte, königliche Residenzen und im Zentrum einen riesigen Tempel aus Lehmziegeln, dessen Ruine heute noch 20 Meter hoch aufragt. Die Toten wurden unter Hügeln mit bis zu 30 Meter Durchmesser bestattet; um einen herum sind Hunderte Rinderschädel in einem Halbkreis angeordnet.

Schwarze Pharaonen
Um 1500 v. Chr. wurde das Gebiet bis zum 4. Katarakt dem ägyptischen Territorium einverleibt. An dieser Grenze liegt auch der Jebel Barkal, ein einsamer Sandstein-Zeugenberg, 100 Meter hoch und 250 Meter lang. An einer Ecke hat sich ein separater, etwas niedrigerer Felssporn gebildet. Die ägyptischen Könige bauten am Jebel Barkal einen Tempel für den Gott Amun. Denn einer ihrer Schöpfungsmythen erzählt, wie Amun aus dem Urmeer auf den gerade aus dem Wasser ragenden Urhügel klettert, dort masturbiert und so die anderen Götter erschafft. Und was konnte der einzeln aufragende Jebel Barkal anderes sein als der Urhügel – und der Felssporn an der Seite etwas anderes als der Phallus des Amun?

Als im 8. Jahrhundert v. Chr. die Zentralgewalt in Ägypten wieder einmal zusammengebrochen war, gelang es einem Nubier, das Land zu befrieden. Auf dem ägyptischen Thron in Memphis sass jetzt König Schabaka, ein Mann aus Kusch. Die kuschitische Herrschaft in Ägypten endete, als die Assyrer im Jahr 657 v. Chr. das Land angriffen und der König nach Nubien floh. Das Andenken an die Könige aus Kusch wurde in Ägypten kurz darauf ausgelöscht.

Ihre Hauptstadt verlegten die Kuschiten nach Meroë. Hier führten sie eine Begräbnistradition weiter, die ungefähr mit Schabaka begann: Die Gräber von Königen, Königinnen und Bürgern werden von Pyramiden markiert.

Insgesamt etwa 250 dieser Bauten sind bekannt. Seinen Ursprung hat dieser Brauch nicht in den grossen Pyramiden von Gizeh bei Kairo, die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. erbaut wurden. Vielmehr begannen etwa 800 Jahre später ägyptische Beamte, auch in Nubien stationierte, ihre in den Fels gehauenen Grabkammern mit kleinen, gemauerten Pyramiden zu versehen.

Von den berühmten Vorgängern unterscheiden sich die nubischen in mehrfacher Hinsicht: Sie sind viel kleiner – etwa 50 Meter hoch, während die Cheopspyramide in Gizeh 146 Meter misst. Zudem haben die nubischen Pyramiden einen viel steileren Winkel, typischerweise 70°; bei der Cheopspyramide und ihren Nachbarn sind es 40 bis 50°.

Stilmix in der Architektur
Pyramiden sind nicht das Einzige, was die Nubier aus Ägypten übernahmen und umformten. Drei steinerne Ruinen 50 Kilometer östlich des Nils haben die gleiche Farbe wie der Sand, aus dem sie aufragen, ein rötliches Hellbraun. Seit 2000 Jahren stehen sie an diesem Ort, der heute Naga heisst: Tempel für ägyptische und nubische Gottheiten, die nebeneinander verehrt wurden.

Auf der Aussenwand links vom Eingang eines der Tempel ist der König dargestellt, wie er die Feinde erschlägt, ein klassisches ägyptisches Motiv. Spiegelbildlich ist auf der anderen Seite der Tür eine weitere Figur mit erhobener Waffe über den Köpfen der Gefangenen zu sehen, doch etwas wie sie gibt es in Ägypten nicht. Die Figur hat rundliche Oberarme, breite Hüften und Brüste. Eine Inschrift nennt den Namen und den Titel dieser Frau: Sie heisst Amanitore, und sie ist die Kandake.

Kandake bedeutet vielleicht «Königsmutter»; aus Schriftquellen ist belegt, dass die Königsmutter eine einflussreiche Person war. Nubische königliche Frauen waren Co-Regentinnen oder sassen allein auf dem Thron. Mit allem, was dazugehört: Eine dieser Königinnen, Amanirenas, rühmt sich in Inschriften, sie habe im Jahr 25 v. Chr. die in ihr Land eindringenden Römer besiegt.

Die mächtigen Frauen in Kusch waren das Thema der Dissertation von Angelika Lohwasser, der Professorin für Ägyptologie an der Universität Münster. Sie unterrichtet auch Erstsemester in der ägyptischen Hieroglyphenschrift. Aber ihr Grabungsprojekt liegt im Sudan, in einem meist trockenen Flusstal nahe dem Jebel Barkal. Im Hinblick auf den gewaltsamen Konflikt, der mit Angriffen der RSF auf kritische Infrastruktur begann, sagt sie: «Der Flughafen und die Kaserne, wo es losging – da sind wir immer in die Wüste abgebogen. Das war unser Arbeitsweg.»

Das war nicht irgendwann, sondern bis unmittelbar vor Beginn der Kämpfe. Die Mitarbeiter der Grabungskampagne kehrten im Frühjahr planmässig, aber im Rückblick gerade noch rechtzeitig nach Deutschland zurück. Wenige Stunden später überspülte die Welle der Gewalt das Land. Und wenige Wochen später erhielt Lohwasser die Nachricht von den Schäden am Museum in Khartum.

Immerhin: Das Museum wird gerade renoviert, deshalb waren offenbar die meisten beweglichen Stücke verpackt oder ausgelagert. Laut Berichten aus dem Sudan sind viele andere Museen jedoch ungeschützt und verlassen. Die Bibliothek für Sudanstudien in der direkt an Khartum anschliessenden Stadt Omdurman ist Mitte Juni in Flammen aufgegangen, die einzigartigen historischen Bücher dort sollen zerstört sein. Archäologische Stätten ausserhalb der Hauptstadt werden laut der Organisation Heritage for Peace nach wie vor bewacht; doch gegen bewaffnete Kämpfer dürfte das kaum helfen.

Seit einigen Jahren existiert in Deutschland eine Organisation namens Kulturgutretter. Ihr Ziel ist es, einen Notfallmechanismus für Krisensituation zu etablieren, zum Beispiel in Form von Material, mit dem archäologische Stätten und Objekte geborgen und in Sicherheit gebracht werden können. 2021 haben die Kulturgutretter in einer Übung den Prototyp ihres Notfallsets erstmals ausprobiert und eine Gruppe von Museumsangestellten im Umgang damit trainiert – im Sudan. Die neuen Kenntnisse benötigen die Übungsteilnehmer nun wohl früher, als ihnen lieb ist.