Beitrag vom 20.12.2020
NZZ
Afrika jenseits von Banalisierung und Exotisierung –
ein Blick zurück des scheidenden NZZ-Korrespondenten
Die Bedeutung des Sozialen und des Teilens, der verbreitete Glaube an
Geister und Hexerei, eine überraschende Sexualmoral, der
Zusammenhang von Schrift und Armut – unser Afrikakorrespondent
versucht, eine Bilanz seiner jahrzehntelangen Erfahrungen auf
dem Kontinent zu ziehen.
David Signer, Dakar
1985 reiste ich im zarten Alter von 21 Jahren neun Monate durch
Ostafrika. Am besten gefiel mir Dar es Salaam. Die tansanische
Metropole war damals ein verschlafenes Kaff mit viel Grün, die
Bevölkerung wunderbar warmherzig. Ein Kulturschock der angenehmen
Art. Der tansanische Sozialismus allerdings lag gerade in den letzten
Zügen. Die Idee des Gründerpräsidenten Julius Nyerere war zwar
bestechend. Er ging davon aus, dass die traditionelle afrikanische
Gesellschaft eigentlich sozialistisch sei, also auf Gleichheit,
Gemeinschaft und Verteilen beruhe.
Aber vielleicht hatte er den Eigen- und Familiensinn der Bauern
unterschätzt. Sie wollten sich nicht in genossenschaftliche Grossdörfer
zwingen lassen. Das gutgemeinte Experiment endete im
wirtschaftlichen Fiasko. Unter dem Stichwort «self-reliance» strebte
Nyerere wirtschaftliche Autonomie für Tansania an. Allerdings lebte das
Land Mitte der achtziger Jahre vor allem von der Weltbank und
Entwicklungshilfe, war jedoch trotzdem mausarm. Einmal streiften wir
einen Tag lang durch Dar es Salaam auf der Suche nach Schnur. Auch
Brot war Mangelware. Alle paar Wochen leisteten wir uns in einem der
besten Hotels der Stadt einen sündhaft teuren Kaffee mit einer Scheibe
Toastbrot.
Die Welt der Geister, Hexen und Heiler
Am Abend traf ich mich oft mit einem Schweizer Kapuzinerpater. Er
lebte seit Jahren in Tansania und sprach gerne über die beiden Welten, in
denen die Leute lebten. «Wenn wir jemanden beerdigen», sagte er,
«kehren die Leute nach dem christlichen Begräbnis spätnachts auf den
Friedhof zurück; sie graben zusammen mit einem Zauberdoktor den
Toten noch einmal aus, opfern ein Huhn, sprechen magische Formeln
und legen dem Verstorbenen Fetischfiguren und Glücksbringer in den
Sarg, bevor sie ihn abermals begraben.»
Er hatte einen niederländischen Mitbruder, der manchmal in die
heiligen Haine der «witch doctors» eindrang und die Opferaltäre
zerstörte. Er wollte den «Götzendienern» beweisen, dass ihm die Geister
und ihre Priester nichts anhaben konnten, dass ihre Verfluchungen
wirkungslos und alles nur Hokuspokus war. Der Schweizer war anders. Er
nahm die Existenz der Paralleluniversen als Tatsache hin. Auch behagte
ihm die Vorstellung nicht, dass ein Tansanier einen Schweizer
Kirchenaltar zerstören könnte, nur um zu beweisen, dass Gott keinen
tödlichen Blitz schicken würde.
Der Welt der Geister, Hexen und Heiler kam ich 1997 näher, als ich eine
dreijährige ethnologische Feldforschung zu diesen Themen in
verschiedenen Ländern Westafrikas begann. Als überraschend wichtig
erwies sich der ökonomische Aspekt dieser Glaubensvorstellungen. In
wenigen Worten gesagt, geht man davon aus, dass zu kurz gekommene,
neidische Personen einen Bessergestellten verhexen können. Die Angst
vor solcher Rache ist verbreitet. Vor allem, wer rasch zu Erfolg oder
Reichtum kommt, muss die Ressentiments der Verwandten fürchten.
Das führt einerseits zu einem mystisch unterfütterten Druck zur
Solidarität: Man muss verteilen, sonst wird man zu Fall gebracht.
Andererseits werden Ambitionen durch dieses System gebremst: Was
bringt es zu reüssieren, wenn man das Erreichte sowieso wieder
verteilen muss und überall Missgunst und Begehrlichkeiten weckt?
Die materielle Seite der Beziehungen
Später forschte ich zu Aids und Sexualität in Senegal. Auch hier war die
Relevanz des Materiellen und Finanziellen erstaunlich. Bettgeschichten
haben eine wirtschaftliche Seite: Die Frau erwartet vom Mann am
nächsten Morgen eine Gegengabe. Aus westlicher Sicht hat solcher
«transaktioneller Sex» immer den Ruch der Prostitution. Aber in
Senegal und in vielen anderen Regionen Afrikas ist das Gegenteil der
Fall. Zeigt sich der Mann seiner Liebhaberin gegenüber nicht grosszügig,
mangelt es ihm an Respekt; offenbar betrachtet er sie als Nichts. Aus
weiblicher Sicht ist es ähnlich: Geht die Frau lediglich zum Vergnügen
mit jemandem ins Bett, ohne auch an die Unterstützung ihrer Eltern
oder ihrer Kinder zu denken, handelt sie verantwortungslos. Sie ist ein
Flittchen. Unmoralisch ist es in diesem System, als Frau Sex lediglich um
seiner selbst zu geniessen. Es ist geradezu eine moralische Pflicht, ein
«Geschenk» einzufordern. Dass Sex solcherart als Tauschgeschäft
verstanden wird, schliesst erotischen Genuss keinesfalls aus.
Diese Auffassung gilt ebenso für Freundschaften. Der Wert einer
Freundschaft bemisst sich auch am Materiellen; Geld ausleihen ist ein
wichtiges Element. Im Westen neigt man dazu, Liebe und Freundschaft
von Finanziellem zu trennen. Sobald die beiden Sphären vermischt
werden, empfindet man eine Entwertung der Beziehung. In Afrika ist es
umgekehrt: Erst das Materielle gibt einem Verhältnis gewissermassen
eine reale Basis.
Die Ursachen der Armut
Oft wird man als Korrespondent gefragt, warum Afrika eigentlich so arm
sei. Obwohl der Kontinent ja fruchtbar und reich an Bodenschätzen ist
und durchaus nicht alle Afrikaner arm sind, stimmt es, dass sich die
Mehrheit der Bewohner mehr schlecht als recht durchwurstelt, die
wenigsten ein geregeltes Einkommen haben und die Industrialisierung
auf sich warten lässt. Die Ursachen sind historisch bedingt. Es geht um
den Zentralstaat, der vor der Kolonialisierung nur punktuell und
rudimentär vorhanden war. Damit verbunden sind die wenig
ausgeprägte präkoloniale Urbanisierung und schliesslich das Fehlen von
Schriftlichkeit. Traditionellerweise gab es in Afrika lediglich die
amharische Schrift in Abessinien sowie einige in sehr begrenztem
Umfang verwendete Schriften.
Diese drei Faktoren sind miteinander verbunden: Für eine organisierte
Verwaltung braucht es Schriftlichkeit, Staatlichkeit ist auf Städte und
die damit verbundene Infrastruktur angewiesen – und umgekehrt. Bis
heute ist das «nation-building» vielerorts noch in vollem Gang; oft
werden Staat und Regierung von der Bevölkerung als Fremdkörper
gesehen, mit denen man sich – auch in Demokratien – nicht
identifiziert. Dasselbe gilt für die Schrift und die Schriftsprache, bei
denen es sich oft um ein koloniales Erbe handelt. Die Gesellschaften
sind im Alltag immer noch oral geprägt. Zeitungen und Bücher werden
kaum gelesen, E-Mails nicht beantwortet. Besser greift man – selbst im
administrativen und geschäftlichen Verkehr – zum Telefon oder noch
besser: Man geht vorbei und begegnet sich von Angesicht zu Angesicht.
Persönliche Beziehungen sind in allen Lebensbereichen das A und O.
Damit einher gehen Vitamin B, Vetternwirtschaft und Korruption; die
Prozesse sind weniger automatisiert und anonym als in Europa. Letztlich
lässt sich über alles diskutieren.
Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühl
Senegalesen strotzen oft vor Selbstbewusstsein, selbst unter widrigen
Umständen. Manche Psychologen haben die Resilienz und das
Urvertrauen vieler Afrikaner mit dem engen Körperkontakt erklärt, den
die Kleinkinder geniessen, wenn die Mutter sie auf dem Rücken trägt.
Diese Selbstsicherheit geht allerdings oft einher mit einem Mangel an
Selbstzweifeln und der Schwierigkeit, sich Nichtwissen oder Irrtümer
einzugestehen.
Vor allem aber steht das individuelle Selbstbewusstsein im Gegensatz zu
einem kollektiven Minderwertigkeitsgefühl. Egal, ob man den Weissen
idealisiert oder dämonisiert, es wird ihm auf jeden Fall enorme Macht
zugeschrieben. Das Afrikanische hingegen wird bis zur Selbstverachtung
abgewertet. Das ist vermutlich eine Folge von Sklaverei, Kolonialismus
und Rassismus. Aber man hat den Eindruck, dass das koloniale Trauma
in Afrika intensiver fortwirkt als in Asien. Vielleicht hängt auch das mit
der fehlenden Zentralisierung zusammen. Möglicherweise war Asien mit
seinen alten Reichen und Staaten besser gerüstet, die imperiale
Demütigung abzuwehren und zu überwinden, was sich ja auch im
wirtschaftlichen Wiedererstarken zeigte.
Die Bedeutung kolonialer Grenzziehungen
Oft wird behauptet, ein grosser Teil der afrikanischen Probleme rühre
von der kolonialen Grenzziehung her, wo willkürlich Gebiete
durchschnitten und umgekehrt verschiedene Ethnien in einem einzigen
Staat zusammengepfercht wurden. Das Argument ist wacklig. Grenzen
sind immer künstlich und willkürlich. Selbst wenn sie beispielsweise
einem Flusslauf folgen, ist damit noch nichts über kulturelle Einheiten
gesagt.
Was wären denn in Afrika «natürliche» Grenzen? Entlang von Ethnien?
Aber Ethnien sind nicht einfach kongruent mit Territorien. Es gibt
Durchmischung, und manche Angehörige von Ethnien sind weit
verstreut. Auch sind die Grenzen zwischen Ethnien oft fliessend. Es gibt
in Afrika etwa 2000 Ethnien beziehungsweise Sprachgruppen. Es wäre
absurd, für jede von ihnen einen – ethnisch gesäuberten? – Staat zu
fordern. Dann müsste auch die Schweiz viergeteilt werden. Es gibt gute
Gründe, die kolonialen Grenzen nicht anzutasten. Es kam nämlich
bisher kaum zu zwischenstaatlichen Kriegen in Afrika. Und die wenigen
(versuchten) Abspaltungen – Eritrea, der Südsudan, Biafra sowie die
jüngsten Geschehnisse in Äthiopien – waren oder sind keine
Erfolgsgeschichten.
Gibt es «Afrika»?
Eine letzte heikle Frage ist, ob es überhaupt legitim sei, von Afrika oder
Subsahara-Afrika zu sprechen. Deckt sich dieser Begriff mit einer
sinnvollen Einheit, oder ist er lediglich Ausdruck einer simplifizierenden
Verallgemeinerung? Es kommt auf den Fokus an. Man kann die
Unterschiede betonen oder die Gemeinsamkeiten. Aber die jahrelangen
Reportagereisen kreuz und quer durch den Kontinent verstärkten
meinen Eindruck eines gemeinsamen Nenners.
Die obengenannten Phänomene findet man in vielen Regionen südlich
der Sahara: gewalttätige Wirren nach der ersten Euphorie der
Unabhängigkeit; Koexistenz von Christentum bzw. Islam mit
afrikanischen Religionen, von Hightech mit Geister- und
Hexereiglauben; Relevanz von Solidarität, wirtschaftlichem Ausgleich,
Egalität; Kombination von Sexualität mit materiellen Transaktionen
oder, allgemeiner, Nichttrennen von Materiellem und Immateriellem;
Vorrang des Oralen vor der Schrift, mit allen Konsequenzen für das
Sozialleben; Bevorzugung persönlicher Beziehungen gegenüber
automatisierten Abläufen; gruppenorientierte Sozialisation;
Nachwirkungen von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus mitsamt
dem zweischneidigen Einfluss von Islamisierung, Missionierung und
Entwicklungshilfe; Übergewicht der Clans und Ethnien gegenüber dem
Staat.
Die frühen Panafrikanisten gingen selbstverständlich von solchen
Gemeinsamkeiten aus. Heute ist die Situation widersprüchlich:
Schwarze rund um den Globus begrüssen sich als «brother» oder
«soeur», signalisieren damit Verwandtschaft und sprechen ohne Skrupel
von «Europa» oder «dem Westen»; zugleich wird man als Weisser
kritisiert, wenn man das Wort Afrika in den Mund nimmt. Afrika sei
schliesslich kein Land, heisst es. Richtig. Aber denken heisst
verallgemeinern. Wer immer weiter differenziert, hat am Schluss statt
den Wald nur noch vereinzelte, bedeutungslose Bäume vor sich. Letztlich
geht es darum, das Andere zur Kenntnis zu nehmen, ohne es vorschnell
in eigene, vorgefertigte Kategorien zu zwängen und damit zu
neutralisieren, aber auch, ohne es als das «ganz Andere» zu
mystifizieren und zu exotisieren.
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Von Afrika nach Amerika
pra. Mit diesem Artikel nimmt David Signer Abschied von
Afrika, mit dem er sich während seiner ganzen journalistischen
Laufbahn intensiv beschäftigt hat. Zuletzt als Afrika-
Korrespondent der NZZ mit Sitz in Dakar, von wo aus er
während der letzten knapp fünf Jahre den ganzen Kontinent
immer wieder bereist hat. Den Lesern der NZZ vermittelte
Signer mit seinen Reportagen und Analysen nicht nur
Informationen über das politische und wirtschaftliche
Geschehen. Besonders geschätzt wurden auch seine
Reflexionen und tiefen Einblicke in die vielfältigen Facetten
der Kultur, welche die heutige Gesellschaft, Politik und
Wirtschaft Afrikas prägen. Mit dieser Erfahrung und dem
scharfen Blick des promovierten Ethnologen ausgerüstet,
wechselt Signer nun in die USA, wo er als Reporter über Land
und Leute in Nordamerika berichten wird. Ausgangspunkt
seiner Erkundungen wird ein neuer Posten der NZZ in Chicago
sein.