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Beitrag vom 18.12.2020

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60 Jahre Unabhängigkeit (6): Nigeria

von Volker Seitz

1960 gilt als das „Jahr Afrikas“. Nicht weniger als 17 ehemalige europäische Kolonien erlangten damals ihre Unabhängigkeit. Sie nahmen recht unterschiedliche Entwicklungen, leider nur allzu häufig keine gute. Wie die 17 afrikanischen Staaten heute dastehen, wird in dieser zehnteiligen Reihe erläutert. Heute: Nigeria.

Nigeria

Bevölkerung 201 Millionen; BIP 2222 $; Demographisches Wachstum 2,6 %; Alphabetisierung 51,1 %; UNDP Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, abgekürzt HDI): 157. Rang von 189. Letzter Wechsel des Präsidenten: 2015

1862 erklärte Großbritannien die Stadt Lagos und ihre direkte Umgebung zum Protektorat und 1886 zur Kronkolonie. 1899 kamen Süd-Nigeria und Nord-Nigeria hinzu. 1914 wurden sie zu einer einzigen Kolonie vereint. In der Kolonialzeit war die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche eng verknüpft mit dem Zugang zu moderner Bildung, die einer neuen Elite den sozialen Aufstieg ermöglichte. Der islamisch geprägte Norden weist bis heute ein wesentlich niedrigeres Bildungsniveau auf, auch wenn eine relativ kleine muslimische Elite wichtige Positionen in Staat, Militär und Privatsektor kontrolliert.

Staatspräsident Muhammadu Buhari (77) war 2015 mit zwei Prioritäten angetreten: Kampf gegen die Korruption und Vernichtung der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram. Bei beiden Punkten sind die Ergebnisse dürftig. Bei der Korruption hat er wenig erreicht, auch weil er bei seinen Angehörigen, die der Korruption verdächtig sind, die Augen schloss. Im Kampf gegen Boko Haram gab es Erfolge. Aber der Norden des Landes leidet weiter unter Angriffen und Massakern. Die Terrormiliz ist zwar in den Busch zurückgedrängt worden, aber etliche Male haben Terroristen in den letzten Monaten die Zivilbevölkerung und Militäreinrichtungen angegriffen. Ungeachtet seines angeschlagenen Gesundheitszustandes und der Rücktrittsforderungen ließ sich Buhari am 16. Februar 2019 erneut wählen.

Nigeria ist mit über 923.770 Quadratkilometern 2,6 Mal größer als Deutschland und damit eines der größten Länder in Afrika. „Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 ist die Bevölkerung Nigerias um das Viereinhalbfache gewachsen und die von Lagos gleichzeitig – um das sechzigfache.“ (S. 58) ... „Bereits jetzt gibt ein Land wie Nigeria rund 10 Milliarden US-Dollar im Jahr für Nahrungsimporte aus. Die Summe entsprach 2016 fast 40 Prozent der Öl-Einnahmen, es wären 15 Prozent, wenn der Preis für Rohöl wieder auf die Rekordhöhe vergangener Zeiten stiege“ (S.73), schreibt Stephen Smith in seinem Buch „Nach Europa“ Berlin, 2018.

Jeder zweite der 200 Millionen Nigerianer ist unter 18

Nigeria ist der bevölkerungsreichste afrikanische Staat und verzeichnet weiter ein sehr hohes Bevölkerungswachstum mit einer steigenden Zahl von Arbeitslosen, vor allem auch jugendlichen Arbeitslosen. Nigeria könnte mit seinem Ölreichtum reich sein, die Mehrheit der Bevölkerung ist jedoch bettelarm. Beispielsweise betrugen 2019 Nigerias Öleinnahmen ca. 100 Milliarden Dollar, Migranten überwiesen etwa 20 Milliarden an ihre Familien und Freunde in der Heimat. Dazu kamen 2,5 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe. Die Entwicklung ist dennoch alles andere als positiv verlaufen. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in Nigeria extrem. Die Lebenserwartung der Frauen liegt bei 54, die der Männer bei 52 Jahren. 60 Prozent der Nigerianer arbeiten in der Landwirtschaft. Die Produktivität der Kleinbauern ist allerdings gering. Viele junge Leute drängen in die großen Städte und träumen davon, nach Europa auszuwandern. Migranten aus Nigeria, die nach Deutschland kommen, stehen schon an vierter Stelle aller Asylbewerber-Herkunftsländer. Jedoch sind die Nigerianer, die nach Europa kommen, größtenteils nicht vor Boko Haram geflohen. Von den knapp 1,8 Millionen der von der Islamistengruppe Vertriebenen haben die meisten vielmehr in anderen Teilen des Landes Zuflucht gesucht, manche auch in Nachbarländern. Denn sie hoffen, irgendwann in ihre Heimatdörfer zurückkehren zu können.

Jedes Jahr werden in dem kaum industrialisierten Staat sieben Millionen Kinder geboren – mehr als in ganz Europa. Dabei liegt die Jugendarbeitslosenrate schon jetzt bei 65%. Rund drei Viertel der 195 Millionen Nigerianer sind unter 35, die Hälfte ist unter 18. Mehr als zwei Drittel der Menschen leben in extremer Armut, jedes zwölfte Kind stirbt vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Die Zahl der Nigerianer, die unter der Armutsgrenze leben, ist in der Folge immer weiter gestiegen. Die Armut von zu großen Teilen der Bevölkerung steht im krassen Kontrast zur wirtschaftlichen Entwicklung. 2014 hat das Land Südafrika als größte Volkswirtschaft Afrikas abgelöst.

Die meisten Nigerianer leben ohne Strom und fließendes Wasser

Nigeria gehört wegen seiner Ölvorkommen zu den reichsten Ländern Afrikas, ist der achtgrößte Ölexporteur der Welt. Es sind die Pfründe der Politiker und Militärs, die nicht selten zu Lasten des Wohlergehens des Staates einen geradezu grotesken Reichtum angehäuft haben. Es gibt eine Entwicklung einer Mittelklasse. Davon profitieren die Gesundheits-, Konsumgüter- und Versorgungsbranche. Aber das Land ist von politischen Risiken belastet. Die soziale Ungleichheit vergrößert sich ständig. Die meisten Nigerianer leben ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Die Stromversorgung ist in Nigeria ein Desaster. Das Land produziert lediglich etwa 4 Gigawatt (GW) Strom. Zum Vergleich: in Südafrika stehen für 54,5 Millionen Einwohner 40 GIGA zur Verfügung. Ein weiteres Problem sind die häufigen Anschläge auf Pipelines, die die gasbetriebenen Elektrizitätswerke versorgen, sowie die unzureichende Instandhaltung der Anlagen. Die meisten Unternehmen sind wegen der Unzuverlässigkeit der staatlichen Stromversorgung auf ihre eigenen Benzin- oder Dieselgeneratoren zur Stromerzeugung angewiesen. 30 Millionen Haushalte haben in Nigeria keinen Stromanschluss. Wer es sich leisten kann, wird zum Energieselbstversorger und legt sich einen Generator und ein Wasserbohrloch zu.

Nigeria möchte attraktiver für ausländische Investoren werden. Die Wirtschaft muss deutlich diversifiziert und modernisiert und so die Abhängigkeit von Öl und Gas reduziert werden. Die bislang verfolgten Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um in Nigeria nachhaltig Wachstum zu sichern. Erforderlich sind vor allem Investitionen in das Stromnetz, den Straßenbau, die Wasserversorgung. Zuverlässige Stromversorgung könnte Marktchancen verbessern und dazu beitragen, die Armut zu mindern. Viele Familien – besonders im ländlichen Raum – haben keinen Strom. Das Bildungsniveau ist heute niedriger als in den 1950er-Jahren, als Nigeria britische Kolonie war – vor allem im islamischen Norden des Landes. In Nigeria, das – gemessen an den Rohstoffen – eine der reichsten Nationen der Welt sein könnte, sind fast drei Viertel der jungen Menschen ohne ein festes Einkommen. Die allgegenwärtige Korruption hat jedes Vertrauen der Bürger in die Institutionen zerstört. Diese Kluft birgt das Risiko, Stabilität und damit auch Wachstum zu gefährden. Nigeria verfügt nicht einmal über genügend Raffinerien, um den Rohstoff in Benzin zu verwandeln, und ist daher auf Benzinimporte angewiesen.

Nigeria zählt zu den größten Exporteuren von Holzkohle weltweit. Nach Angaben des UN-Umweltprogramms hat Nigeria in den letzten Jahren 80.000 Tonnen Kohle für rund 25 Millionen Euro exportiert. Einer der Hauptabnehmer ist Deutschland. Aber auch in Afrika wird die Holzkohle gebraucht. 80 Prozent der afrikanischen Haushalte kochen mit Holzkohle. Vorteil: Tausende Nigerianer leben von der Herstellung der Holzkohle. Nachteil: Durch Wüstenbildung und Erosion verliert Nigeria jährlich 350.000 Hektar fruchtbares Land. Nigerias Waldbedeckung liegt nach Angaben der nigerianischen Umweltbehörde bei weniger als vier Prozent.

Ölreichtum, Korruption und Massenarmut

Wegen der schlechten Rahmenbedingungen (marode Infrastruktur, ständig ausfallende Stromversorgung, Korruption, Terror) gibt es keine größeren deutschen Investitionen in Nigeria. Nur etwa 80 deutsche Unternehmen (Vertriebsniederlassungen und Einzelunternehmer) sind in Nigeria aktiv. Bis vor einigen Jahren war Bilfinger am Baukonzern Julius Berger beteiligt. Größte ausländische Unternehmer sind die Ölkonzerne Shell und Total. Der nigerianische Unternehmer und reichste Mann Afrikas, Aliko Dangote, will vier Milliarden Dollar in den Zuckerrohr-, Reis- und Getreide-Anbau stecken. Der nigerianische Staat hat jahrelang die Landwirtschaft vernachlässigt. Der ehemalige Präsident von Nigeria Olusegun Obasajo: „People talk about poverty in Africa. God did not make Africa poor. The poverty in Africa is not God-created, it is human-made. We made Africa poor with our policies and how we execute them and how we deal with the market, the processing, and the storage of food.” Die Armut ist menschengemacht. (Quelle: New African August/September 2017)

Die Machthaber haben in den letzten vierzig Jahren Öl-Einnahmen von mehr als 400 Milliarden Dollar verschleudert. Das Land ist ein Synonym für Vorteilsnahme, Vetternwirtschaft, Steuerflucht, politischen Niedergang und desolate Staatsverwaltung. Nigeria ist reich an fruchtbaren Böden, trotzdem siecht auch die Landwirtschaft dahin, von der noch immer mehr als die Hälfte der Nigerianer abhängt. Der Staats- und Sicherheitsapparat gilt als korrumpiert. Dass schon jetzt mehr als zwei Drittel aller Nigerianer in bitterster Armut leben und ein enormes Konfliktpotenzial bilden, scheint die vielen westlichen Unternehmensberatungen, die Nigeria noch immer als den großen Hoffnungsträger Afrikas verkaufen, nicht weiter zu stören. Hinzu kommt, dass Nigeria zu den korruptesten Ländern der Welt gehört. Erstmals seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 kam es 2015 zu einem friedlichen Machtwechsel. Frühere Wechsel wurden durch Putsche und Gegenputsche herbeigeführt. Wahlsieger Muhammadu Buhari ist ein ehemaliger Kommandeur der nigerianischen Streitkräfte. Er hatte sich bereits 1983 an die Macht geputscht, war aber schon 18 Monate später wegen wirtschaftlicher Inkompetenz von einem anderen General gestürzt worden. Nigerias Militär wird von den USA, Großbritannien, Frankreich und afrikanischen Nachbarn unterstützt. Ende Dezember 2016 hat die nigerianische Regierung 50.000 „Geisterbeamte“ (Ghost workers) von den Gehaltslisten gestrichen, weil sie nur formell als Staatsbedienstete geführt wurden und nicht gearbeitet haben. Hinweisgeber erhalten bis zu 5 Prozent der dem Staat ersparten Summen.

„In Afrika ist die Lücke zwischen dem Alter der politischen Führer und der jungen Bevölkerung größer als irgendwo sonst“, sagt Zachariah Mampilly, Professor für Afrikastudien am Vasser College, einer Elitehochschule in Poughkeepsie im Bundesstaat New York. „Aber es gibt keine Anzeichen, dass die junge Generation bald übernimmt.“

Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe (1930-2013) gilt als „Vater der modernen afrikanischen Literatur“. Er schrieb 2008 in seinem Essay „Was bedeutet mir Nigeria?“, erschienen in dem Buch „Wie man unsere Namen schreibt“ (Original: „The Education of a British-Protected Child“) Fischer Klassik, 2015: „Nigerianer zu sein ist zutiefst frustrierend und rasend aufregend. Irgendwo habe ich einmal erklärt, in meinem nächsten Leben würde ich gern wieder Nigerianer, andererseits habe ich in einem recht zornigen Buch – The Trouble with Nigeria – Reisereklame für Nigeria verspottet, indem ich befand, nur Touristen mit einer abseitigen Vorliebe für Selbstgeißelung könnten Nigeria als Urlaubsziel wählen. Beides ist mir ernst.“

Im Demokratieindex 2019 von The Economist belegt Nigeria Platz 146 von 167. CPI Platz 80 von 180.