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For a different development policy!

Beitrag vom 01.07.2018

Die Welt

Wie sollen wir das schaffen?

Fluchtursachen bekämpfen – das bleibt ein frommer Wunsch: Hans Christoph Buch erklärt, warum er
vom Afrika-Optimisten zum -Pessimisten wurde

Afrika hat die Form eines Faustkeils, der zusammen mit dem aufrechten Gang in Afrika erfunden wurde. Von
dort aus besiedelten unsere Vorfahren, vom Neandertaler bis zum homo sapiens, Europa, Asien und den
Rest der Welt. Diese Völkerwanderung setzt sich bis in die Gegenwart fort, und dabei sind nicht nur Meere, Wüsten und Gebirge zu überwinden, sondern Hindernisse, die es früher so nicht gab: Schlepperbanden, die Migranten ausplündern bis aufs Hemd, Frauen und Kinder sexuell missbrauchen oder versklaven, um durch ihren Freikauf Lösegeld zu erpressen, demütigende Kontrollen und bürokratische
Schikanen, deren Sinn nicht mal die Polizei versteht, erkennungsdienstliche Behandlung, als sei jeder Migrant ein Sexualstraftäter oder Terrorist, und Abschiebung in das vermutete Herkunftsland, je eher, desto besser.

Damit nicht alles falsch wird, eine Einschränkung. Dies ist kein Plädoyer für Fernstenliebe statt Nächstenliebe, denn auch die Reaktion der Ortsansässigen ist zu berücksichtigen, von Angst und Verunsicherung bis zu aggressivem Fremdenhass. Und es liegt auf der Hand, dass offene Grenzen wie im Herbst 2015 Bevölkerung und Behörden überfordern, geschlossene Grenzen wie einst in der DDR aber weder
wünschenswert noch machbar sind.

Zu Mauer und Stacheldraht führt kein Weg zurück – zusammen mit Stalin- und Leninbüsten wurde auch der Eiserne Vorhang entsorgt. Ein historischer Vergleich zeigt, dass weder Roms Limes noch Chinas große Mauer zur Abwehr der Steppenvölker ihren Zweck erfüllten. Geldzahlungen haben das Vordringen der Nomaden so wenig gestoppt wie Landzuweisungen oder ihre Ernennung zu Grenzschützern, denn bald schon saßen die Barbaren auf dem Kaiserthron. Eine andere Ironie der Geschichte ist, dass die Sklaverei, die in Libyen auf die Agenda zurückkehrt, Afrikaner nach Amerika brachte und dass schon damals Araber als Sklavenjäger fungierten. Alles schon da gewesen!

Welches sind die Gründe der neuen Völkerwanderung? Ich vermeide das Wort Fluchtursachen, so als hätten Menschen, die ihre Heimat überstürzt verlassen, die Wahl, warum sie dies tun. In Syrien ist es der Krieg – Zerstörung, Tod, Vergewaltigung, Verschleppung oder Vertreibung waren Kriegsfolgen wie 1945 beim Vormarsch der Roten Armee. In Afrika herrscht derzeit kein Krieg außer in der Zentralafrikanischen Republik, Darfur und Südsudan, wo Warlords Öl ins Feuer ethnischer Konflikte gießen. Dass es sich um
low intensity wars handelt, Kriege niedriger Intensität, ist für die Betroffenen ein schwacher Trost.

Paradoxerweise sind es nicht die ärmsten, sondern vergleichsweise reiche Länder, deren Ressourcen, Gold, Diamanten, Uran, Erdöl und Tropenholz, statt der Entwicklung zugutezukommen, zur Finanzierung des Krieges dienen – eine Gewaltspirale, aus der es kein Entrinnen gibt. Das Beispiel der Blutdiamanten aus Sierra Leone ist bekannt, weniger bekannt ist, dass auch der angebliche Musterstaat Ruanda das Edelmetall C Coltan, unverzichtbar für Handy-Hersteller, illegal aus Ostkongo exportiert. Ganz zu schweigen von seltenen Erden, für die sich China interessiert. Afrikas natürliche Reichtümer haben den Menschen weder Wohlstand noch Frieden gebracht, im Gegenteil: Das mit Umweltgift verseuchte Nigerdelta wurde zum Hort des Ökoterrorismus, die Ölstaaten Gabun, Äquatorialguinea und Angola versinken im Sumpf der Korruption, von dem nur die herrschende Nomenklatura profitiert, während das Volk in Armut vegetiert.

Im Lauf der Jahre habe ich, von Senegal bis Namibia, von Guinea und Ghana bis Togo und Tschad, fast alle Länder Afrikas bereist, nicht zu vergessen Äthiopien, Burundi, Ruanda, Kenia und Tansania, und bin vom Afrika-Optimisten zum -Pessimisten geworden, weil ich nirgendwo glaubhafte Ansätze zu guter Regierungsführung und, was schwerer wiegt, Rechtssicherheit und Gewaltenteilung gesehen habe, ganz zu
schweigen von Frauenemanzipation und Minderheitenschutz. Zwar gibt es auch Lichtblicke, aber selbst
in Südafrika, dem einzigen Industrieland des Kontinents, ist Mandelas Regenbogendemokratie nur noch
eine nostalgische Erinnerung. Hier wie anderswo auch sind Korruption und Brutalität die Regel und nicht die Ausnahme, obwohl zivilgesellschaftliche Akteure, Künstler und Intellektuelle, Priester und Journalisten, Frauen- und Umweltgruppen Missstände kritisieren.

Afrikas Jugend will nur noch weg, nach Europa, Amerika oder Australien, denn selbst wer das Privileg hat, eine höhere Schule oder Universität zu absolvieren und beste Noten vorweisen kann, muss Professoren oder Beamte bestechen, um ein Zeugnis oder Diplom zu bekommen, und findet nur mit Mühe einen Job, weil es in Afrika keine Mittelklasse gibt, die Arbeitsplätze schafft. Banken und Versicherungen, Hotels und Restaurants, Büros und Geschäfte sind in europäischer, asiatischer oder arabischer Hand, und ein
erfolgreicher Startup-Unternehmer muss jederzeit damit rechnen, dass irgendeine Behörde, Polizei oder
Armee ihn wegen angeblicher Steuerschulden zur Kasse bittet und den Laden schließt. Um unliebsame
Konkurrenz auszuschalten, genügt ein in der Nachbarschaft gestreutes Gerücht oder ein Voodoo-Fluch.
Ein Paradebeispiel ist Äthiopien, wo alle Häuser und Grundstücke dem Staat gehören, der das Land bewirtschaftende Bauern enteignet und vor die Tür setzt, um das Terrain an chinesische Investoren zu
verpachten.

Wem die Bilanz zu negativ scheint, möge bedenken, dass die Mängelliste unvollständig ist: Zu
Rechtsunsicherheit und Korruption bis hin zur Kleptokratie gesellen sich weitere Übel, die aus Gründen
politischer Korrektheit selten beim Namen genannt werden. Erstens der Tribalismus, sprich Stammesdenken,
das, in vorkolonialer Zeit verständlich, heute sozialen Fortschritt verhindert, da jeder, der zu Geld
kommt oder politische Verantwortung übernimmt, den eigenen Familienclan bevorzugen muss – die Identifizierung mit der Nation ist nur schwach. Zweitens die Überbevölkerung, die Menschen vom Land
in die Städte treibt, weil das Leben in Großstadtslums attraktiver ist als das prekäre Überleben auf
dem Dorf, dessen Scholle die Großfamilien nicht mehr ernährt. Seit der Unabhängigkeit hat Afrikas
Bevölkerung sich verdreifacht; Weil Kindersegen als Altersvorsorge gilt, ist Geburtenkontrolle unbeliebt
und wird von Christen wie Muslimen halbherzig oder gar nicht propagiert.

„Die Welt-Dörfer rüsten zum Sturm auf die Welt-Städte.“ Dieser Slogan aus Maos Kulturrevolution ist
bestürzend aktuell, mit dem Unterschied, dass der Exodus von Afrika nach Europa an die Stelle der Landflucht tritt. Den Trend umzukehren oder durch mehr Entwicklungshilfe zu stoppen ist ein frommer
Wunsch, denn die wirtschaftliche Zusammenarbeit – so die neue Zauberformel – hat die Rückständigkeit
zementiert und Afrika zum Almosenempfänger degradiert, statt die Eigeninitiative zu fördern. Dass Hilfsgelder zweckentfremdet werden, ist sattsam bekannt, und die Einrichtung von Transitlagern im Maghreb
oder anderswo wäre eine Einladung an Kriminelle, Polizisten oder Soldaten, sich an Migranten schadlos
zu halten und noch schamloser zu bereichern.

Vor achtzig Jahren, im Juli 1938, fand in Évian eine internationale Flüchtlingskonferenz statt über die
Aufnahme von aus Nazideutschland und Österreich geflohenen Juden. Die Redner verurteilten unisono den Judenhass und vergossen Krokodilstränen über das Schicksal der Vertriebenen, aber kein Staat, weder die USA noch Schweden oder die Schweiz, war bereit, Verfolgten Obdach und Schutz zu gewähren – mit einer Ausnahme: Der dominikanische Diktator Trujillo öffnete die Grenzen für jüdische Immigranten, um seine Bevölkerung „aufzunorden“ und abzulenken von dem Massaker an Saisonarbeitern aus Haiti, das er, inspiriert von Hitler, im Jahr zuvor befohlen hatte. Die Parallele zur Gegenwart liegt auf der Hand. „Niemand will sie haben“, spottete das NS-Blatt „Völkischer Beobachter“, und die als Beobachterin
anwesende Golda Meir schrieb: „Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass es um menschliche Wesen geht, die den Rest ihres Lebens in Lagern oder auf der Flucht
verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“

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Hans Christoph Buch lebt in Berlin. Sein Roman
„Stillleben mit Totenkopf“ erschien im März 2018
in der Frankfurter Verlagsanstalt.