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Beitrag vom 25.06.2015

Die Weltwoche, Zürich

Entwarnung aus Eritrea

Ein brisanter dänischer Regierungsbericht zeigt: In Eritrea gibt es kaum politische Verfolgung. Sogar Dienstverweigerer und Deserteure können ins Land zurückkehren, ohne belangt zu werden. Die Ergebnisse sind auch für die Schweiz bedeutsam. Doch Bern ignoriert die neuen Fakten.

Philipp Gut

Die Schweiz verzeichnet eine rasante Zunahme von Asylsuchenden aus Eritrea. Beinahe
die Hälfte aller Asylbewerber stammt aus dem kleinen ostafrikanischen Staat,
der nur vier bis sechs Millionen Einwohner zählt. Und in dem keine akute Krise
herrscht, wie etwa in Syrien.

Das Bundesamt für Statistik (BfS) liefert die genauen Daten: 3531 eritreische
Staatsbürger ersuchten im dritten Quartal 2014 um Asyl in der Schweiz. Gegenüber
der Vorjahresperiode entspricht das einer Zunahme von 110 Prozent. Eine andere
Verhältniszahl ist noch eindrücklicher: 45 Prozent aller in der Schweiz eingereichten
Asylgesuche werden von Eritreern gestellt.

Der Grund für diesen Anstieg liegt gemäss Bundesamt für Migration (BfM)
grösstenteils im «Kontrollverlust der libyschen Regierung über weite Teile des
Landes, der es Schlepperorganisationen erlaubt, praktisch ungestört zu operieren».
Die Schweiz: ein freiwilliger Magnet

Allerdings verschweigt das Bundesamt, dass die herausstechende Eritreer-Quote in
erster Linie hausgemacht ist: Seit die Eidgenossenschaft eritreischen
Dienstverweigerern und Deserteuren Asyl gewährt, sind die Gesuche unter Berufung
auf angebliche oder wirkliche Verweigerung und Desertion in die Höhe geschnellt.
Die Schweizer Spezialregelung wirkt wie ein Magnet.

Allerdings sind die im Westen verbreiteten Informationen über die politische Lage in
Eritrea und insbesondere über den Umgang mit Verweigerern und Deserteuren
lückenhaft und einseitig. Das stellten auch die Dänen fest. Sie wollten es darum
genauer wissen.

Die dänische Einwanderungsbehörde hat eine Fact-Finding-Mission vor Ort
entsandt. Die Teilnehmer sprachen mit Exileritreern, vor allem aber besuchten sie
Eritrea und auch das Nachbarland Äthiopien. Die dänischen Feldrechercheure
interviewten eine Vielzahl von Personen aus unterschiedlichen Organisationen:
westliche Botschaftsvertreter, Mitarbeiter von Uno-Agenturen, von nationalen und
internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), von lokalen Gruppierungen,
aber auch eritreische Intellektuelle und Repräsentanten der Regierung. Die
Interviewten konnten das Protokoll ihrer Aussagen gegenlesen und Korrekturen
anbringen. Alle Aussagen sind im umfangreichen Anhang des Berichts auf 58 Seiten
fein säuberlich dokumentiert.

Die Resultate sind überraschend und brisant, auch für die Schweiz. Was die
Beobachter vor Ort herausfanden, widerspricht in wesentlichen Punkten der im
Westen verbreiteten Ansicht über den ostafrikanischen Staat. Zwar steht ausser
Frage: Eritrea ist keine Demokratie wie die Schweiz, Präsident Isaias Afewerki regiert
einen stark zentralisierten, autoritären Staat. Doch die auch hierzulande ventilierten
Schreckensnachrichten haben mit der tatsächlichen Lage wenig zu tun.
Wirtschaftliche, nicht politische Gründe

Die Gründe für den Exodus vieler Eritreer sind gemäss übereinstimmender Aussage
der Befragten nicht primär politischer Natur. Sie liegen in der Verlängerung des
sogenannten Nationaldiensts (National Service, wir kommen darauf zurück), generell
aber in der «sozialen und wirtschaftlichen Situation einschliesslich der Aussichten
auf ein besseres Leben in Europa», wie es im Bericht heisst. Es gebe kein «generelles
Klima der Furcht», betont der Repräsentant einer westlichen Botschaft. Ein anderer
Diplomat ergänzt: «Die meisten Leute verlassen Eritrea aus wirtschaftlichen
Gründen und aus Mangel an Perspektiven – und nicht aus politischen Gründen.»
Auch ein Mitarbeiter einer Uno-Agentur bestätigt, dass «kaum jemand Eritrea aus
politischen Gründen verlässt».

Dennoch erhalten in der Schweiz quasi alle eritreischen Bewerber Asyl oder dürfen
als vorläufig Aufgenommene bleiben, was letztlich einer dauerhaften Niederlassung
gleichkommt. Asyl wird aber per definitionem und der ursprünglichen Absicht nach
politisch Verfolgten gewährt. Die Schweizer Praxis, so viel als Zwischenbilanz, stimmt
also kaum mehr mit dem Sinn des Asylgesetzes überein.

Aber wie steht es nun mit Dienstverweigerern und Deserteuren? Droht ihnen – davon
geht auch die Eidgenossenschaft aus – in Eritrea politische Verfolgung, ja gar Folter?
Auch hier liefert die dänische Migrationsbehörde, gestützt auf ihre breite Recherche,
erstaunliche Ergebnisse. Es stimmt: Alle Eritreer müssen den erwähnten National
Service absolvieren, wobei dieser neben militärischer Ausbildung auch zivile Einsätze
umfassen kann: in der Verwaltung, in Hotels, in Spitälern, Schulen, Fabriken. Oder für
öffentliche Infrastrukturprojekte wie die Errichtung von Dämmen, Strassen,
Brücken.

Eingeführt wurde der National Service 1991 nach dem Befreiungskrieg und der
Unabhängigkeit von Äthiopien, um die Bevölkerung für den Prozess des nation
building zu mobilisieren und im Notfall die Unabhängigkeit gegen den grossen
Nachbarn zu verteidigen.

Der Dienst dauert minimal achtzehn Monate, kann aber verlängert werden, wobei die
genaue Länge nicht definiert ist. Viele Eritreer seien «unglücklich» über diese
unbestimmte Dauer und erachteten sie als «Hauptproblem», so ein
Botschaftsvertreter. Allerdings müssen junge Leute, die eine höhere Ausbildung
absolvieren möchten, weniger lang dienen und nur die Grundausbildung
durchlaufen.

Bei ihren Recherchen stellten die Dänen keine unzumutbaren Zustände fest. Ausländische
Menschenrechtsorganisationen übertrieben oft mit ihrer negativen
Berichterstattung, gibt eine lokale NGO zu Protokoll. Wer Dienst leiste, werde nicht
geschunden und arbeite auch «nicht unter sklavenartigen Bedingungen». Man werde
weder geschlagen noch gefoltert und leide auch nicht unter Mangelernährung, so die
NGO.

Vielmehr vermögen eine Uno-Agentur und eine westliche Botschaft in der Hauptstadt -
Asmara dem Nationaldienst Positives abzugewinnen: «Die Alternative wäre für viele
Eritreer Arbeitslosigkeit», lassen sie sich im Bericht zitieren.
Milde Strafen für Deserteure

Besonders aufschlussreich, auch mit Blick auf die Aufnahmepolitik der
Eidgenossenschaft, sind die Erkenntnisse der Dänen über den Umgang mit
Verweigerern und Deserteuren. Diese würden nicht systematisch und einheitlich
bestraft. Möglich sei Haft von einigen Tagen bis zu höchstens sechs Monaten. Eine
Uno-Agentur bezweifelt indes, dass derzeit überhaupt Verweigerer oder Deserteure
inhaftiert sind. Eine westliche Botschaft führt aus, dass normale Leute («ordinary
people»), die den Dienst verweigern oder desertieren, «nicht verfolgt oder inhaftiert
werden» und dass sie nicht befürchten müssten, verschleppt zu werden («they are
not at risk of disappearances»).

Das ist umso bemerkenswerter, als Eritrea mit dem ehemaligen Mutterland
Äthiopien immer noch in einer spannungsreichen Beziehung irgendwo zwischen
Krieg und Frieden lebt. Viele andere Staaten würden in ähnlicher Situation wohl
härter mit Fahnenflüchtigen umspringen.

Die Regierung brauche die Manpower und neige daher dazu, ertappte Deserteure an
die Arbeit zurückzuschicken statt ins Gefängnis, so erklären Diplomaten.
Insgesamt sei das Regime in den letzten Jahren deutlich milder geworden, heisst es
im Bericht weiter. Das betont auch der aus Eritrea stammende und an der London
South Bank University lehrende Professor Gaim Kibreab, ein Spezialist für
Migrations- und Flüchtlingsfragen. In den letzten zwei, drei Jahren sei die Haltung
der Regierung gegenüber dem Nationaldienst «entspannter» geworden, so Kibreab.
Heimkehrer willkommen

Dienstverweigerer und Deserteure, die das Land illegal verlassen haben, können
sogar zurückkehren und ihren Status legalisieren. Das Vorgehen ist einfach: Man
muss auf einer eritreischen Botschaft eine einmalige Einkommenssteuer von zwei
Prozent entrichten und ein Entschuldigungsschreiben («apology letter»)
unterzeichnen. Mehrere Exileritreer hätten von dieser Charmeoffensive der
Regierung Gebrauch gemacht, ohne irgendwelche Komplikationen. Aktenkundig sind
überdies Fälle von Deserteuren, die zu Besuchszwecken nach Eritrea zurückkehrten
und anschliessend unbehelligt wieder ausreisen konnten.

Westliche Gesandte und internationale Organisationen weisen darauf hin, dass eine
beträchtliche Zahl von Eritreern regelmässig ein- und ausreist, um Verwandte zu
besuchen, Geschäfte zu tätigen oder touristische Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.
Eine NGO in Asmara weist zudem Aussagen zurück, laut denen Verwandte von
Deserteuren belangt würden. Das sei definitiv nicht die Politik der Regierung. Damit
widerspricht der Dänenbericht einem Argument, das eritreische Asylbewerber gern
vorbringen und das bei den Schweizer Behörden offensichtlich auf offene Ohren
stösst.

Die jüngsten Entwicklungen seien ermutigend, bilanziert der Report des dänischen
Migrationsamts. Das Regime habe seinen Kurs gegenüber Auswanderern zum
Positiven verändert. Die Regierung habe realisiert, dass der massenhafte Exodus vor
allem junger Frauen und Männer die Entwicklung Eritreas behindere. Heimkehrer
seien deshalb willkommen. Die Regierung habe den ausdrücklichen Wunsch, im
Ausland lebende Landsleute zur Rückkehr zu bewegen, und gehe deshalb human mit
ihnen um.

Mehrere Befragte wundern sich, dass diese positiven Veränderungen in den meisten
Menschenrechtsberichten bislang nicht reflektiert worden sind. Diese Berichte
könnten deshalb nicht mehr länger als zuverlässige Grundlage für die Beurteilung der
Situation gelten.
Auch beim Bundesamt für Migration (BfM) in Bern Wabern sind die neuen Fakten
noch nicht wirklich angekommen. «Das BfM hat Kenntnis vom dänischen Bericht. Er
ist nicht unumstritten. Unsere Länderspezialisten sind dabei, den Bericht
auszuwerten und zu analysieren, inwiefern sich daraus neue Elemente für unsere
Asylpraxis ergeben», heisst es auf Anfrage. Das klingt nicht nach einer baldigen
Abkehr von der aus dem Lot geratenen Aufnahmepolitik.

Damit dient die Schweiz letztlich niemandem. Sagenhafte 90 Prozent der
anerkannten eritreischen Flüchtlinge leben von der S0zialhilfe. Sie sind also kaum
integriert. Zu Hause würden sie derweil dringend gebraucht, um die positive
Entwicklung der letzen Jahre weiter voranzutreiben.